Sabine Bergmann-Pohl zu Merkel: „Ich lasse mir dieses Leben nicht schlechtreden“

Sabine Bergmann-Pohl zu Merkel: „Ich lasse mir dieses Leben nicht schlechtreden“

Die letzte DDR-Volkskammerpräsidentin erzählt, warum sie Angela Merkels Einheitsrede überrascht hat. Und wie sie selbst auf westdeutsche Arroganz reagiert. 

Sabine Bergmann-Pohl, ehemalige Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium<br><br>
Sabine Bergmann-Pohl, ehemalige Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium

Carsten Koall

Berlin-Sabine Bergmann-Pohl war bis 1990 Ost-Berlins oberste Lungenärztin, eine erfolgreiche Frau aus dem Osten, die genau wie Angela Merkel erst durch den Mauerfall in die Politik kam. Die promovierte Medizinerin wurde 1990 Präsidentin der letzten DDR-Volkskammer, später Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium. 2002 schied Bergmann-Pohl aus der Politik aus, hält aber, genau wie Angela Merkel, immer noch Reden zur deutschen Einheit. Wir haben sie in ihrem Haus in Zeuthen angerufen und gefragt, was sie ihren Landsleuten bei diesen Reden sagt, ob es sie überrascht hat, wie persönlich Merkel in ihrer letzten Einheitsrede als Kanzlerin wurde und wie sie selbst auf Kränkungen von Westdeutschen reagiert.

Was haben Sie an diesem 3. Oktober gemacht, Frau Bergmann-Pohl?

Ich habe in Lichtenstein in der Nähe von Zwickau eine Rede zur Deutschen Einheit gehalten.

Und haben Sie dabei auch über kränkende Erfahrungen von Ostdeutschen in den letzten 31 Jahren gesprochen wie Angela Merkel bei ihrer Rede in Halle?

Ich habe viele Reden zu diesem Thema gehalten in Ost und West. Ich habe über die unangenehmen Erfahrungen, das tiefe Tal der Tränen gesprochen, aber auch über die Erfolge der Ostdeutschen. Und das schon seit 30 Jahren.

Gut, dass Merkel so persönlich wurde

Bei Angela Merkel ist das neu. Sie ist in ihren Reden nie so persönlich geworden. Überrascht Sie die plötzliche Offenheit?

Sagen wir es so: Ich finde gut, dass sie so persönlich geworden ist. Sie ist ja sonst eher pragmatisch und wenig emotional in ihren Reden. Und sie hat auch nicht an jedem Tag der Deutschen Einheit eine Rede gehalten. Das war eher selten.

Warum hat sie es erst jetzt gemacht?

Ich finde es nicht gerecht, ihr vorzuwerfen, dass sie ihre ostdeutsche Biografie als Kanzlerin nicht vordergründig in ihre Reden eingebaut hat. Sie war eine Bundeskanzlerin für ganz Deutschland, das hat sie auch immer wieder betont, und ich finde, ihre 16 Jahre Kanzlerschaft sind positiv gewesen für die Entwicklung der neuen Bundesländer, auch wenn das während der Flüchtlingskrise oder auch in der Corona-Zeit nicht überall so gesehen wurde. Dass sie jetzt auf ihre Biografie und die Probleme der Ostdeutschen eingeht, ist wichtig, denn wir waren alle sehr erschrocken über die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen.

Leben in der DDR ist kein Ballast

Merkel sprach in ihrer Rede über Abwertungen ihrer Biografie durch den Westen, sie sagte sinngemäß, das Leben in der DDR sei kein Ballast, den man einfach abwirft. Wie sehen Sie das?

Genau so. Mein Leben in der DDR war kein Ballast. Es war anstrengend, man musste sich äußerlich anpassen. Ich habe eine ähnliche Biografie wie Frau Merkel, auch wenn sie fast zehn Jahre jünger ist, aber wir haben unseren Weg gemacht. Wir haben in diesem Staat gelebt, die politische Repression war groß, wir waren eingemauert. Daran sollte man sich erinnern. Aber wir wollen unsere Lebensleistung nicht im Mülleimer der Geschichte wiederfinden. Meine Kinder sind in der DDR geboren und konfirmiert worden. Ich lasse mir dieses Leben nicht schlechtreden. Wenn ein Staat untergeht, müssen nicht alle Menschen dort negativ bewertet werden, man muss immer die einzelnen Lebenswege betrachten. Eine politische Pauschalisierung des Lebens in Ostdeutschland ist nicht gerechtfertigt.

Sie waren nach der Wiedervereinigung Mitglied des Bundestages und Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Wurden Sie von westdeutschen Politikern jemals nach Ihrer Ostbiografie gefragt?

Einzelne aus meiner Fraktion haben gefragt, aber es war vor allem so, dass ich auf die westdeutschen Kollegen zugegangen bin, sie in meinen Wahlkreis eingeladen habe, damit sie die dramatischen Veränderungen, die  Frauen in Ostdeutschland durchleben mussten, mit eigenen Augen sehen können. Das war für mich wichtiger, als auf Fragen nach meiner Biografie zu warten.

Ignoranz und Arroganz den Ostdeutschen gegenüber

Kann man als Politiker über Kränkungen erst sprechen, wenn man nichts mehr zu verlieren hat?

Ich kann und will nicht bewerten, warum Angela Merkel erst so spät darüber gesprochen hat. Aber ich kann von mir berichten. Ich habe in vielen Reden über meine Biografie im Osten gesprochen und versucht, Verständnis von den Westdeutschen für unser Leben dort zu bekommen. Wie hat es Thomas de Maizière formuliert? Nach 1990 hat sich für die Westdeutschen nur die Postleitzahl geändert. Was das bedeutet hat, habe ich leider oft erlebt, auch unter Politikerkollegen. Da gab es eine gewisse Ignoranz und Arroganz uns gegenüber. Man hat versucht, uns deutlich zu machen, dass wir keine politische Erfahrung haben, dass wir uns erst mal hinten anstellen müssen.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Wenn ich als Staatssekretärin im Gesundheitsausschuss mit Frau Bergmann-Pohl angesprochen wurde, habe ich auf meinen Doktortitel aufmerksam gemacht und gesagt: „Dr. Bergmann-Pohl. So viel Zeit muss sein.“ Damit habe ich deutlich gemacht, dass ich in meinem Leben einiges erreicht habe, auch wenn ich aus dem Osten komme.

Kann Merkels Rede jetzt am Ende der Kanzlerschaft noch etwas bewirken, den Ostdeutschen mehr Selbstbewusstsein geben? Oder ist es zu spät?

Das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen ist leider nicht sehr ausgeprägt, denn in der DDR war maximale Anpassung gewünscht. Deshalb versuche ich, den Menschen bewusst zu machen, dass wir von heute auf morgen einen gesellschaftlichen Wandel gemeistert haben, den Westdeutsche, bei denen die Demokratie nach dem Krieg langsam gewachsen ist, nie erlebt haben. Zu vermitteln, dass wir das so gut gepackt haben, ist wichtiger, als den Westdeutschen ständig zu erklären, dieses Land nicht weiter in Ost und West zu spalten. Es gibt nicht die Ostdeutschen. Es gibt Menschen, die diese Herausforderungen unterschiedlich angenommen und gemeistert haben. Ich bin es auch wirklich leid, immer wieder darüber zu sprechen. Es stimmt einfach nicht, dass Ostdeutsche Bürger zweiter Klasse sind. Es geht ihnen gut. Dieses Jammern haben wir als Ostdeutsche nicht nötig. Wir sollten mit mehr Selbstbewusstsein auf unsere Biografie schauen.


Ich hätte mir gewünscht, dass Angela Merkel das schon früher gesagt hätte.

Sabine Bergmann-Pohl, letzte DDR-Volkskammerpräsidentin

Fehlt dieses Selbstbewusstsein vielleicht auch deswegen, weil in den letzten 31 Jahren zu wenig über die Brüche nach der Wende gesprochen und zu oft betont wurde, dass wir ein Volk sind?

Ich habe es 30 Jahre lang gesagt. Und ich hätte mir gewünscht, dass Angela Merkel es auch schon früher gesagt hätte.

Sie kennen Angela Merkel seit langem. Hat sie vor ihrer Kanzlerschaft offener über sich gesprochen?

Angela hat immer sehr genau gewusst, was sie will, und sie hat mit ihren strategischen Überlegungen immer Erfolg gehabt. Interessanterweise hat sie ihre Ostbiografie in den USA oder anderen Ländern immer mit anklingen lassen. Aber warum hat sie es nicht in Deutschland gemacht?

Mit den ostdeutschen Arbeitslosen mitgelitten

Ja, warum nicht? Hätte sie sich damit verletzlich gemacht?

Es stimmt, man muss in der Politik sehr karriereorientiert sein, man muss sich einen Panzer zulegen, darf Dinge nicht so dicht an sich heranlassen. Als Angela schon Bundeskanzlerin war, habe ich mal in einem Gespräch zu ihr gesagt: Ich weiß gar nicht, wie du das alles aushältst. Sie hat gesagt: Ich kann sehr gut abschalten. Das kann ich nicht. Ich habe viele Anfeindungen sehr persönlich genommen. Wenn ich nach der Wiedervereinigung in den ostdeutschen Bundesländern war und die Arbeitslosigkeit erlebte, habe ich mitgelitten, fühlte mich verantwortlich. Es hat mich sehr belastet. In der Politik ist es schwierig, Gefühle so dicht an sich heranzulassen.

Sind Sie deswegen eher wieder aus der Politik ausgestiegen als Angela Merkel?

Ja, aber ich habe auch einen Beruf gehabt, den ich sehr geliebt habe und war darin erfolgreich. Und nach zwölf Jahren in der Politik hatte ich nicht mehr das Gefühl, sehr viel bewegen zu können. Deshalb habe ich gesagt, jetzt ist Schluss, habe dann das Berliner Rote Kreuz aus der Insolvenz geholt, mache aber immer noch weiter Politik, indem ich versuche, den Leuten Mut zu machen, wie jetzt bei meiner Rede in Zwickau.

Wie hat die AfD in Zwickau abgeschnitten?

Sie hat 25 Prozent bekommen und liegt damit wie auch in Sachsen vor der SPD und der CDU.

Warum ist die AfD dort so stark?

Eigentlich müssen sich die anderen Parteien fragen, warum denen nicht die Stimme gegeben wurde. Die CDU hat einen großen Fehler gemacht: die konservativen Werte vernachlässigt. Politik darf nicht beliebig sein, Politiker dürfen nicht nur den Menschen zum Munde reden. Man muss klare Ziele formulieren und Wähler persönlich ansprechen. Die fehlende Anerkennung für die Ostdeutschen spielt da auch eine Rolle. Was sehe ich im Fernsehen nach den Wahlergebnissen? Einzelne, schreiende Ostbürger, denen man vorwirft, sie seien in der Demokratie nicht angekommen. Leider hat Herr Wanderwitz auch seinen Anteil daran.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der sagt, Ostdeutsche seien diktaturgeschädigt und nicht demokratiefähig.

Den Menschen Demokratiefähigkeit abzusprechen, weil sie ihren Frust deutlich machen, ist grundverkehrt. In einer Demokratie muss ich mich mit den Menschen auseinandersetzen. Das hat Frau Merkel in ihrer Rede deutlich gemacht, und vielleicht hat sie in Zukunft dazu öfter Zeit.

Wird Angela Merkel jetzt zur wahren Ostbeauftragten?

Mit Sicherheit nicht. Sie ist weltweit und in Europa so anerkannt, sie wird ihre neue Rolle finden und Deutschland noch viele gute Dienste leisten. Ich wünsche ihr viel Ruhe und Freizeit und Besinnung, denn 16 Jahre Kanzlerschaft muss man erst mal aushalten.

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Carsten Koall
Biografie
Sabine Bergmann-Pohl wurde 1946 in Eisenach geboren, studierte in Berlin Medizin, promovierte, wurde Leiterin einer Poliklinik und 1985 Direktorin der Ost-Berliner Bezirksstelle für Lungenkrankheiten und Tuberkulose. Aufgrund ihres Aufstieges wurde ihr der SED-Parteieintritt empfohlen – woraufhin sie in die CDU eintrat.
Sie wurde 1990 Präsidentin der letzten DDR-Volkskammer. Unter ihrer Leitung wurde am 23. August 1990 der „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ und damit ihre Auflösung beschlossen. Nach der Wiedervereinigung war Bergmann-Pohl von 1990 bis 1991 Bundesministerin für besondere Aufgaben und bis 1998 Staatssekretärin beim Bundesgesundheitsministerium. 2002 schied sie  aus dem Bundestag aus, engagiert sich aber bis heute in der Gesundheits- und Sozialpolitik. Sie wohnt in Zeuthen bei Berlin, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.