Sabine Bergmann-Pohl über das Ende der DDR: „Wir wollten uns erhobenen Hauptes verabschieden“

Interview

Sabine Bergmann-Pohl über das Ende der DDR: „Wir wollten uns erhobenen Hauptes verabschieden“

Die Medizinerin wurde 1990 von einem Tag auf den anderen Chefin eines untergehenden Staates.

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Das Büro von Sabine Bergmann-Pohl lag anfangs im Palast der Republik, nach ein paar Wochen musste sie allerdings umziehen, weil die Räume asbestverseucht waren.<br>
Das Büro von Sabine Bergmann-Pohl lag anfangs im Palast der Republik, nach ein paar Wochen musste sie allerdings umziehen, weil die Räume asbestverseucht waren.
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Sabine Bergmann-Pohl, 74, hat eine einzigartige Karriere hinter sich: Zeitschriften-Model, Poliklinikchefin, oberste Lungenärztin Ost-Berlins, letzte DDR-Volkskammerpräsidentin – und damit einziges weibliches Staatsoberhaupt in der deutschen Geschichte. Heute ist sie Rentnerin und wohnt mit ihrem Mann in einem Haus am See in Zeuthen. Dort treffen wir sie zum Gespräch.

Wir hatten Sie gebeten, Fotos rauszusuchen von Ihrer Zeit als Model.

Hab’ ich gemacht. Sehen Sie, hier habe ich für eine Zahnpasta-Firma posiert, hier für Pentacon-Fotoapparate, und dieses Foto war für eine Zeitschrift der DDR, die im Ausland vertrieben wurde. Hinterher habe ich ein paar Heiratsanträge bekommen, unter anderem aus Afrika. Das wurde übrigens gut bezahlt, pro Fotosession hab ich 80 bis 100 Ostmark bekommen.

Wie wurden Sie als Model entdeckt?

Ich bin von Klaus Fischer angesprochen worden, einem bekannten Magazin-Fotografen.

Und das sind Ihre Erinnerungen an 1990?

Ja, auf dem Foto sieht man mein Büro in der Volkskammer. Am Anfang hing da oben noch das DDR-Emblem, aber dann hat die Volkskammer spontan beschlossen, dass es überall verschwinden soll. Eigentlich war es ein überflüssiger Beschluss.

Weil die DDR sowieso Geschichte war?

Ja, es war im Mai ’90, glaube ich. Ich bekam plötzlich Anrufe von Botschaftern: Wenn das Emblem ab ist, dann sind wir ja gar nicht mehr als Botschaft erkennbar. Dann lassen Sie es doch dran, habe ich gesagt. Ist doch nur Bürokratie.

Und auf diesem Foto diskutieren Sie mit Abgeordneten?

Ja. Mit Reinhard Höppner, Konrad Weiß, Ulrike Poppe.

Worum ging es?

Um die Namensnennung der Volkskammer-Abgeordneten, die angeblich für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben. Wir hatten in der Nacht vorher bis drei Uhr morgens getagt, ich hatte nur zwei Stunden geschlafen. Wir hatten für diese Untersuchung einen Ausschuss gebildet. Der Ausschussvorsitzende sagte mir: „Frau Präsidentin, ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles stimmt, was wir rausgesucht haben.“ Wir wussten ja damals nicht genau, wie die Akten geführt sind. Trotzdem sollten in der Volkskammer Namen vorgelesen werden. Ich war dagegen und habe gesagt, ich lese die Namen nicht vor. Wolfgang Ullmann (Vizepräsident der DDR-Volkskammer, d. Red.) hat sie vorgelesen, und es gab in der Tat einige Verwechslungen. Ich habe Briefe von Familien erhalten, wo die Kinder in der Schule und die Angehörigen beschimpft wurden, obwohl die gar nicht IMs waren.

Sabine Bergmann-Pohl diskutiert im September 1990 mit Abgeordneten, ob Stasi-Mitarbeiter aus den Reihen der Volkskammer namentlich genannt werden sollen.<br>
Sabine Bergmann-Pohl diskutiert im September 1990 mit Abgeordneten, ob Stasi-Mitarbeiter aus den Reihen der Volkskammer namentlich genannt werden sollen.
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Wir würden gern mit Ihnen über die Einheitsnacht am 3. Oktober sprechen. Was haben Sie in dieser Nacht gemacht?

Die Nacht war voll von Terminen. Frau Süssmuth wollte partout, dass die Feierstunde im Reichstag stattfindet. Da gab es eine Auseinandersetzung, weil wir fanden, das sei unwürdig. Ein Staat ist untergegangen, wir wollten uns erhobenen Hauptes verabschieden, mit einer Veranstaltung im Ost-Berliner Konzerthaus. Lothar de Maizière hat geredet, Kurt Masur hat die Neunte von Beethoven gespielt. Wir waren ziemlich ergriffen. Lothar war physisch und psychisch am Ende. Dem rollten die Tränen. Mir ging es nicht anders. Ich glaube, es war auch ein Stück Erleichterung, dass man diese Zeit einigermaßen überstanden hat. Das Tempo, die Fülle der Aufgaben und der Probleme waren riesig.

Haben Sie sich damals Sorgen um Lothar de Maizières Gesundheit gemacht? Er wog am Ende nur noch 51 Kilo.

Richtig, er wurde furchtbar dünn und hat Kette geraucht. Ich als Lungenfachärztin habe ihn darauf aufmerksam gemacht, wie schädlich das Rauchen ist. Die Anstrengung hat ihren Tribut gefordert.

Wurden Sie regelmäßig medizinisch untersucht?

Nein, so was hat keinen interessiert. Wir mussten zwar aus dem Palast der Republik raus, weil sich angeblich Asbestfasern durch die Klimaanlage gelöst hatten. Mich hat das nicht überzeugt, für die letzten vier Wochen noch umzuziehen, zumal wir in die ehemalige Parteizentrale, das heutige Außenministerium, gezogen sind und niemand wusste, wie asbestverseucht das war.

Auf dem Gruppenfoto vor dem Reichstag vom 3. Oktober sind Sie nicht zu sehen. Wo waren Sie?

Ich bin hinten stehen geblieben, weil ich so am Ende war. Ich wollte diesen Moment für mich erleben. Das war schon sehr beeindruckend, als die Jugendlichen diese überdimensionale deutsche Fahne hereintrugen und die Nationalhymne gespielt wurde. Und dann das Feuerwerk.

War da auch ein bisschen Trauer? Weil es ja keine gleichberechtigte Fusion war und die DDR geschluckt wurde?

Ich bin dagegen zu sagen, die DDR sei geschluckt worden. In welcher Situation waren wir denn? Die Wirtschaft war am Boden, durch die Einführung der D-Mark brachen uns Absatzmärkte weg. 600.000 gut ausgebildete Leute sind zwischen März 1990 und der Wiedervereinigung gen Westen geflohen, weil sie Angst hatten, dass es anders kommt. Wir waren ja auch Getriebene unserer eigenen Bevölkerung, wir brauchten die wirtschaftliche Kraft der Bundesrepublik. Wir waren auch gegen eine eigene DDR-Verfassung, die diskutiert wurde.

Warum waren Sie dagegen?

Eine Verfassungsdiskussion über das ganze Land hinweg – da hätten wir heute noch nicht die Wiedervereinigung. Der Entwurf zur neuen DDR-Verfassung enthielt Grundsätze, die in der bundesdeutschen Realität nicht bestanden hätten.

Zu der Realität gehörte, dass es ein ganz anderes Frauenbild gab. Sie haben zum Beispiel damals mit Rita Süssmuth zusammen den Hausfrauenbund besucht, so was gab es in der DDR nicht. Wie war das für Sie?

In der DDR waren wir emanzipiert. Ich habe studiert, dann promoviert, ich habe mit 34 eine Poliklinik als Chefin übernommen und war fünf Jahre später Bezirkstuberkuloseärztin in Ost-Berlin. Höher hätte ich nicht steigen können. Ich war sehr selbstbewusst. Ich hatte zwei Kinder, mein Mann hat mir zu Hause geholfen. Als ich nach Bonn ging, hatte ich das Gefühl, ich komme in eine andere Welt. Es gab zum Beispiel die Gruppe der Frauen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und mir wurde nahegelegt, da hinzugehen. Ich dachte: Was soll ich da! Bis ich gemerkt habe, dass die Frauen Seilschaften brauchten, um sich in bestimmten Positionen durchzusetzen. Sich als Frau Gehör zu verschaffen war schwierig. Ich hatte studiert und promoviert – das interessierte aber keinen. Auch wenn ich über Erfahrungen aus dem DDR-Gesundheitswesen berichtet habe, wurde ich schief angesehen, so nach dem Motto: Jetzt kommt die Ossi-Tante und erzählt uns, was da drüben gut gelaufen ist.

Der Staat war untergegangen, und das hieß, alles, was aus dem Osten kam, war schlecht?

Die Erfahrungen wurden gar nicht abgefragt. Wir hatten jeden Monat eine Runde im Kanzleramt. Dort sprachen wir Dinge an, die in den neuen Ländern nicht gut liefen. Nach drei Jahren hatten wir es zum Beispiel geschafft, die Polikliniken ins Fünfte Sozialgesetzbuch aufzunehmen. Aber inzwischen gab es kaum noch welche. Als ich einmal Vertretern der kassenärztlichen Bundesvereinigung in Ost-Berlin Polikliniken zeigte, merkte ich sofort den Widerstand, weil sie das nicht kannten und nicht wollten.

Sabine Bergmann-Pohl als Model für Zahnpasta<br>
Sabine Bergmann-Pohl als Model für Zahnpasta
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Und wie waren die Reaktionen auf Ihr Familienleben? Im Westen war das Hausfrauenmodell ja noch weit verbreitet.

Wir sind auf manchen Veranstaltungen  beschimpft worden, dass wir unsere Kinder vernachlässigt hätten, weil wir sie in die Krippe und den Kindergarten gegeben haben.

Was haben Sie dazu gesagt?

Was soll man dazu sagen? Heute ist es selbstverständlich, dass Frauen, die arbeiten gehen wollen, ihre Kinder in den Kindergarten geben. Im Gegenteil, sie kriegen keinen Kita-Platz und müssen darum kämpfen. Da haben wir eine Menge geschafft. Aber es hat 30 Jahre gedauert.

Sehen Sie das auch als Ihr Verdienst an?

Ich glaube, das ist auch das Verdienst der Ost-Frauen, die über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Uns ist es auch nicht leicht gefallen, im Osten den ganzen Tag arbeiten zu gehen und abends einzukaufen. Wir hatten keine Spülmaschine, keine Haushaltshilfen, wir mussten alles selbst machen.

Wie sind Sie eigentlich Volkskammerpräsidentin geworden?

Das ging ganz schnell. Ich hatte bei den Wahlen im März 1990 für die Volkskammer kandidiert, weil mich Leute aus der Schöneberger CDU dazu ermuntert hatten. Auf einer Sitzung hieß es dann, es wäre schön, auch im Osten eine Frau als Parlamentspräsidentin zu haben.

Als Pendant zu Rita Süssmuth sozusagen?

Ja, dann fiel mein Name, ich war gar nicht dabei und musste mich innerhalb von fünf Minuten entscheiden. Ich konnte nicht mal mehr selbst meinen Schreibtisch räumen.

Wie erging es Ihnen dann als einer der wenigen Frauen in der Politik?

Wir waren alle potenzielle Konkurrenten, und Frauen sind der Konkurrenz ebenso ausgesetzt wie Männer. Ich hatte ja gleich 1990 so eine Kleidergeschichte an der Backe.

Diese Kleidergeschichte ging damals durch alle Medien: Die neue DDR-Volkskammerpräsidentin geht einen Tag nach ihrer Wahl mit ihren Bodyguards auf große Shoppingtour am Kudamm. Man spürt, dass Ihnen das heute noch unangenehm ist. Wie war das genau?

Ich hatte nur ein Kostüm im Kleiderschrank, und ich war ja mit einem Schlag nicht nur Parlamentspräsidentin, sondern auch Staatsoberhaupt. Ich musste Diplomaten empfangen, akkreditieren, verabschieden, Staatsbesuche machen. Ein Jugendfreund, der in den Westen geflohen war, und seine Frau hatten mich gefragt: Wollen wir nicht einkaufen gehen? Mir war das recht, denn ich hatte keine Zeit, und die Exquisit-Läden waren ziemlich leergefegt. Die beiden haben mir am Kudamm zwei Kostüme gekauft, vielleicht auch noch zwei Blusen. Und Udo Waltz – den kannte damals noch keiner – hat mir die Haare schön gemacht. Ich hatte mir vor der Volkskammerwahl selbst die Haare gefärbt, ich sah furchtbar aus.

Haben Sie das wenigstens genossen, das Einkaufen und den Friseurbesuch, oder waren Ihnen schon die Reporter auf der Spur?

Nein, das ist ja dann alles erst durch meinen Pressechef rausgekommen, der für die Stasi „Offizier im besonderen Einsatz“ war, wie später herauskam. Der hat das an die Presse weitergegeben.

Warum hat er das gemacht?

Um mir zu schaden, meinem Image. Es gab damals viele Angriffe gegen mich, auch Morddrohungen, die Stasileute waren ja immer noch da.

Hatten Sie den Pressechef selbst eingestellt?

Nein, das hatte mein Berater aus dem Westen gemacht, ein ehemaliger Staatssekretär aus Niedersachsen, den mir Frau Süssmuth empfohlen hatte. Die wussten sicher nicht, wen sie da geholt hatten.

Der vermeintliche Kleiderskandal hat sie lange begleitet, wie schwer war das für Sie?

Das hat seine Spuren hinterlassen, dabei war ja verabredet worden, dass ich mir die Kleider nicht schenken lasse, sondern zurückzahle, wenn wir die D-Mark haben, und das hab’ ich auch gemacht. Später in Bonn bekam ich das Angebot, in einem Golf-Club zu spielen, ein Jahr umsonst. Um Gottes willen!, hab ich gedacht. Wenn die Presse mitkriegt, dass ich Golf spiele, bin ich gleich weg vom Fenster.

Warum sind Sie eigentlich zu DDR-Zeiten in die CDU eingetreten?

Ich war sehr jung, als ich die Poliklinik für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Berlin-Friedrichshain übernommen habe. Ich war in keiner Partei, wollte auch in keine. Aber die SED hatte ein Auge auf mich geworfen, wollte mich anwerben, und jeder wusste, wenn die SED einen erst mal umwirbt, hat man ein Riesenproblem, weil die unheimlichen Druck ausüben. Jemand aus der Bekanntschaft, der in der CDU war, sagte: „Geh doch in die CDU. Dann lassen sie dich sofort in Ruhe.“ Und genau das habe ich gemacht.

Waren Sie denn getauft?

Ich bin getauft, ich bin konfirmiert, ich war in der Jungen Gemeinde. Die CDU lag mir am nächsten. Ich komme aus einem christlichen Elternhaus, auch meine Verwandtschaft ist protestantisch. Ich bin aber nicht der regelmäßige Kirchgänger.

Sie gehen nur Weihnachten und Ostern in die Kirche?

Ja, so ungefähr, aber ich finde, man kann auch an Gott glauben, ohne in die Kirche zu gehen. Ich hatte dann meine Ruhe. Ich habe mir weder in der DDR noch in der BRD die Butter vom Brot nehmen lassen. Ich habe immer versucht, meine Meinung tapfer zu verteidigen.

Was gab es später im Westen für Mittel, um Druck auszuüben? Wie musste man sich als Frau verhalten, um Karriere zu machen?

In Ost-Berlin war ich die Vorgesetzte aller Poliklinik-Chefs für Lungenkrankheiten, das waren überwiegend Männer, viel älter als ich. Trotzdem haben sie mich akzeptiert und fair behandelt. Das habe ich teilweise im Westen anders erlebt. Man merkt, wie schwierig es für eine Frau ist. Auch jetzt, wenn man diese Quoten einführt, wird sich das nicht ändern. Frauen haben ja auch Familien, und die Politik verlangt einfach von ihnen, dass sie zu jedem Verein gehen, abends permanent unterwegs sind zu irgendwelchen Veranstaltungen. Da muss sich etwas verändern. Da muss man den Frauen mehr Freiräume geben und darf nicht verlangen, dass sie ständig präsent sind und danach ihre politische Karriere bemessen wird.

Haben Sie sich in schwachen Momenten manchmal gewünscht, so eine West-Frau zu sein, die zu Hause bei den Kindern bleiben kann?

Nie. Ich habe trotz aller Schwierigkeiten in der DDR ein gutes Leben gehabt, ich habe meinen Beruf gern ausgeübt.

Haben Sie Sexismus in der Politik erlebt?

Es gab Sprüche, aber die habe ich nie ernst genommen. Wenn mir ein Mann zu nahe kam, habe ich gesagt: „Lassen Sie das sein. Lassen Sie mich in Ruhe!“, ich habe mich immer gewehrt.

Wie war es mit Solidarität unter Frauen in der Politik? Sie haben ja sehr eng mit Rita Süssmuth zusammengearbeitet. Hatten Sie ein gutes Verhältnis?

Schwierig, darauf zu antworten. Es sind Dinge geschehen, die mich sehr nachdenklich gemacht haben.

Was denn zum Beispiel?

Meine Israel-Reise wurde über das Büro von Frau Süssmuth organisiert. Wir hatten eine große Veranstaltung beim Präsidenten von Israel, und es hieß vorher, es werden dort keine Reden gehalten. So wurde ich informiert. Mein Mitarbeiter war aber unruhig, und wir haben trotzdem eine Rede vorbereitet. Man muss wissen, für mich war das eine ganz schwierige Reise. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie Israel auf mich reagiert, weil die DDR keine diplomatischen Beziehungen hatte und eher pro-arabisch war. Aber man hat mich dann unheimlich fair und freundlich empfangen.

Und mussten Sie eine Rede halten?

Ja, da stand plötzlich ein Pult, und einer von den Israelis sagte: „Ihre Präsidentin soll hier reden.“ Mein Mitarbeiter ist dann mit dem Taxi zurück ins Hotel gefahren, hat die Rede geholt, und alles war gut. Das war aber nicht das Einzige, was passiert ist: Wir sind mit der Bundeswehrmaschine nach Israel geflogen, es war warm, ich hatte einen luftigen Rock an und eine Bluse mit einem Papageien drauf. In Israel angekommen hieß es: Ganz schnell im Hotel umziehen, in die Knesset und die Parade abschreiten. Ich kam ins Hotel und mein Koffer war nicht da. Ich musste also in dieser Kleidung dorthin, ich bin fast im Boden versunken. Ich hatte keine Chance. Mir konnte auch keiner sagen, warum Frau Süssmuths Koffer da war, aber meiner nicht.

Ihrer war in derselben Maschine wie Frau Süssmuths Koffer?

Ja, natürlich!

Und meinen Sie, das war Absicht?

Mehr will ich nicht erzählen. Es ist lange her.

Haben Sie wenigstens ein Fass aufgemacht und gesagt: Das kann ja wohl nicht wahr sein?

Das nützt Ihnen ja nichts. Sie müssen mit einem gewissen Selbstbewusstsein darüber hinwegsehen.

Sollten Sie nicht auch zum 3. Oktober eine Rede halten?

Hab’ ich doch.

Wo denn? Auch im Konzerthaus?

Nein, am nächsten Morgen um 10 Uhr fand eine Feierstunde in der Philharmonie statt. Da haben Bundespräsident von Weizsäcker gesprochen und ich. Danach war vor dem Palast der Republik ein großes Volksfest. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen und hätte fast das Überreichen der Ministerurkunde im Schloss Bellevue verpasst. Als ich dort ankam, war es genau 17 Uhr. Ich bin nach hinten gerast, da stand der Bundeskanzler und sagte: „Da ist sie ja endlich, dann können wir anfangen.“ Ich wurde dann Ministerin für besondere Aufgaben.

Was waren denn Ihre besonderen Aufgaben?

Das war eigentlich eine Anerkennung, nicht nur für mich, auch für Lothar de Maizière, Günther Krause und Rainer Ortleb. Wir nahmen an den Kabinettssitzungen teil. Und gelegentlich wurden wir auch nach unseren Erfahrungen gefragt.

Aber das war natürlich eine Degradierung – vom Staatsoberhaupt zur Ministerin für besondere Aufgaben?

Ich habe mal in einem Interview gesagt: Mit mir ging es dann bergab. Aber das ist so nicht richtig. Ich war ja dann acht Jahre Staatssekretärin im Gesundheitsministerium und froh, dass ich nicht in vorderster Reihe stand. Ich habe mit Horst Seehofer gut zusammengearbeitet, weil er meine Fachkenntnisse sehr zu würdigen wusste. Frauenministerin wollte ich nicht werden, ich wollte den Bezug zu meinem Beruf behalten.

Wie finden Sie es, dass die meisten Minister heute keine Fachleute sind?

Ein Minister hat viele Fachleute in seinem Ministerium, die ihn beraten. Gerade das Gesundheitsministerium steht ja im Fokus verschiedener Interessen: Krankenkassen, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker. Und jeder hat Begehrlichkeiten, jeder möchte am Kuchen verdienen. Es war für mich am Anfang nicht einfach, Seehofer die Perspektive eines Arztes nahezubringen. Ich war zuständig für das Gesundheitsamt in Berlin, über 2000 Mitarbeiter und fünf Institutionen wie das Robert-Koch-Institut, das Arzneimittelinstitut, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Als es zum HIV-Blutskandal kam, haben wir beschlossen, die Institute zu vereinzeln und zu untersuchen, was verändert werden muss. Am Anfang gab es unglaubliche Widerstände im eigenen Ministerium. Ich habe mich aber durchgesetzt und kann sagen, dass ich mit meinem Sachverstand für den Minister ein großer Rückhalt war. Seehofer hat ja anfangs auch die Brisanz des Rinderwahnsinns nicht erkannt.

Wie Jens Spahn und Angela Merkel auch die Brisanz von Corona nicht ernst genommen haben …

Ja, aber Virusepidemien haben wir jedes Jahr, wir haben vor zwei Jahren eine Grippe gehabt, an der 20.000 Menschen gestorben sind. Da hat kein Mensch drüber geredet. Dass sich das Coronavirus zu einer Pandemie ausweitet, damit hat keiner gerechnet.

Sie also auch nicht?

Dass die Situation derart eskaliert, habe ich nicht gedacht. Für die Bundesregierung ist das ganz schwierig gewesen. Und egal, wie Sie es machen, Sie machen es sowieso verkehrt. Wenn es gut läuft, haben es schon alle immer gesagt. Wenn es schlecht läuft, ist immer die Regierung schuld.

Bei der Hongkong-Grippe Anfang der Siebziger – waren Sie da schon Ärztin?

Ich kann mich an eine Grippe erinnern, das muss so 1978 gewesen sein, da habe ich schwere Fälle ins Krankenhaus bekommen, und obwohl ich die Patienten sofort auf die Intensivstation habe verlegen lassen, sind viele gestorben. Deswegen habe ich großen Respekt vor solchen Virusgrippen. Nur eine Sache konnte ich nicht ganz nachvollziehen: Als sofort die Altersheime geschlossen wurden und die Verwandten nicht mehr zu den Angehörigen konnten. Mancher hätte sich lieber der Gefahr ausgesetzt und seine Lieben um sich gehabt. Auch die Diskussion um die Schulen: Wir leben alle in Gefahr, Krankheiten lauern überall. Ich denke, man hat Corona jetzt so weit im Griff, dass man einigermaßen ins normale Leben übergehen kann. Die Kinder von der Bildung fernzuhalten, halte ich für problematisch.

Sabine Bergmann-Pohl im August 2020 auf dem Bootssteg ihres Grundstückes im brandenburgischen Zeuthen<br>
Sabine Bergmann-Pohl im August 2020 auf dem Bootssteg ihres Grundstückes im brandenburgischen Zeuthen
Berliner Zeitung/Carsten Koall

Was würden Sie jetzt besser machen? Beraten Sie noch jemanden?

Nein, irgendwann ist mal Schluss.

Warum sind Sie eigentlich nie wieder Ärztin geworden?

Die Frage habe ich mir damals tatsächlich gestellt. Aber ich habe nach meiner Erfahrung in der Volkskammer gedacht, ich muss ein Stück DDR-Geschichte in die Bundesrepublik einbringen. Außerdem bin ich von Helmut Kohl ermuntert worden. Ich habe auch damals de Maizière nicht verstanden, warum er nach den Stasi-Vorwürfen gleich alles hingeschmissen hat.

Er ist wieder Anwalt geworden.

Ja. Das hab ich nicht verstanden, weil er ein Kämpfer war. Es sind viele gescheitert. Die Einzige, die nicht gescheitert ist, war Angela Merkel, die einen unglaublichen Willen zur Macht hatte, und das bewundere ich so an ihr.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Angela Merkel?

Freundlich, sachlich. Wir duzen uns.

Und gibt es zwischen Ihnen noch Vertrautheit? Sie kennen sich ja jetzt seit 30 Jahren.

Ja. Aber ich weiß schon um den Stress, den sie hat. Ich habe sie mal gefragt: „Wie hältst du das eigentlich aus?“ Da hat sie gesagt, sie könne gut abschalten. Sie ist wirklich eine großartige Bundeskanzlerin, wir werden uns noch nach ihr zurücksehnen.

Finden Sie, dass sie die ostdeutschen Interessen zu wenig vertritt?

Ich hätte mir manchmal gewünscht, dass sie ihre Herkunft stärker deutlich macht. Aber natürlich ist es für sie schwer, Bundeskanzlerin für alle Deutschen zu sein. Natürlich sind Fehler gemacht worden. Man hat im Westen die Anstrengung unterschätzt, die die Ostdeutschen nach 1990 unternehmen mussten. Hohe Arbeitslosigkeit, keine Rücklagen, die Betriebe brachen weg. Sie sind durch ein tiefes Tal der Tränen gegangen. Man holt Leute immer bei ihrer Lebenswirklichkeit ab und nicht nach dem Motto: Jetzt fügt euch mal hier ein, euer Staat ist schließlich untergegangen!

Was machen Sie dieses Jahr am 3. Oktober?

Ich gehe nur alle fünf Jahre zu den Jubelfeiern. Diesmal ist sie in Potsdam, da gehe ich hin.