Ostdeutsche Identität: Wenn die Medien „tiefe Reizzustände“ auslösen

Ostdeutsche Identität: Wenn die Medien „tiefe Reizzustände“ auslösen

Der Ostbeauftragte sagt kurz vorher ab, eine Professorin aus dem Westen sorgt für Unmut. So verlief eine Debatte zur westdeutschen Dominanz in den Medien in Berlin.

Die Medien sind westdeutsch dominiert und berichten oft pauschalisierend über den Osten.
Die Medien sind westdeutsch dominiert und berichten oft pauschalisierend über den Osten.Sven Hoppe/dpa

Schon das Wort Medien könne den ein oder anderen in „tiefe Reizzustände“ versetzen, sagt Sabine Bergmann-Pohl, als sie den Abend eröffnet. Schlimmer werde es, wenn es dann noch um das Ost-West-Thema gehe. Tiefe Gräben durchziehen Deutschland, auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, sagt Bergmann-Pohl, die letzte Vorsitzende der Volkskammer der DDR war, und jetzt Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft ist, die den demokratischen Diskurs im Land fördern will. Auch Bergmann-Pohl selbst erlebt Reizzustände, beim Zeitungslesen am Morgen, sagt sie.

Die Deutsche Gesellschaft hat am Mittwoch in die Landesvertretung von Sachsen-Anhalt geladen, um diese Reizzustände in einer Podiumsdiskussion auszuleuchten. So konnte man die Einladung verstehen. Unter dem Titel „Meine Medien, meine Stimme?“ soll über die Rolle der Medien in Ostdeutschland debattiert werden. Die Moderatorin fragt, bevor es losgeht, in den voll besetzten Saal, wo die Zuschauer geboren wurden. Etwa drei Viertel der Anwesenden stammen aus dem Osten Deutschlands.

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Bevor diskutiert wird, stellt der Medienwissenschaftler Lutz Mükke seine Erkenntnisse zur deutsch-deutschen Medienrealität vor. Ostdeutsche sind in Führungspositionen in überregionalen Zeitungen und Sendern kaum vertreten, die Regional- und Lokalzeitungen im Osten gehören westdeutschen Verlagen – bis auf eine einzige Ausnahme, die Berliner Zeitung, so Mükke. Die Regionalberichterstattung ist zusätzlich durch schlechte Honorare bedroht, im ländlichen Osten kann man als Journalist kaum überleben, in einigen Regionen werden zudem keine gedruckten Zeitungen mehr zugestellt. In den überregionalen Medien wird über den Osten häufig immer noch „als negative Abweichung von der westdeutschen Normalität“ berichtet.

Podiumsgespräch: Meine Medien, Meine Stimme? in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt
Podiumsgespräch: Meine Medien, Meine Stimme? in der Landesvertretung Sachsen-AnhaltBenjamin Pritzkuleit

„Sie müssen nicht gendern!“, ruft ein Mann

Und schließlich: Die Ostdeutschen haben weniger Vertrauen in Medien und Demokratie. Lutz Mükke sagt, das lasse sich seiner Meinung nach nicht mehr auf Erfahrungen zurückführen, die vor 1990 gemacht wurden. Sondern mit den Erfahrungen der Menschen im Osten seit der Einheit.

Es gäbe also viel zu besprechen. Die Erkenntnisse von Lutz Mükke werden im Buch von Dirk Oschmann zitiert, „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Das Buch hat eine neue Ost-West-Debatte ausgelöst, heißt es oft. Aber spricht nicht vor allem der Osten über Oschmann? Hört eigentlich irgendjemand zu, der Konsequenzen ziehen könnte? Wird nur geredet, sich aufgeregt, oder besteht irgendeine Chance darauf, dass sich etwas ändert? Eigentlich hätte Carsten Schneider, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, am Mittwoch mit auf dem Podium sitzen sollen. Der politisch Zuständige für solche Debatten. Aber Schneider hat kurz vorher abgesagt, er sei ins Kanzleramt gerufen worden, heißt es. Wäre es nicht wichtiger, er würde auf Podien in heikle Debatten eingreifen?

Es debattieren Mükke, die ostdeutsche Medienwissenschaftlerin Mandy Tröger (die auch Kolumnistin der Berliner Zeitung ist), die westdeutsche Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing und Jeanette Gusko, Sprecherin des Netzwerks 3. Generation Ost und Geschäftsführerin des Online-Mediums Correctiv. 

Als es losgeht, wird es gleich laut im Saal. Die Moderatorin stellt eine Frau auf dem Podium als „Gästin“ vor. Das Publikum murrt, ein Mann ruft: „Sie müssen nicht gendern!“ Die Moderatorin Jana Münkel erwidert, das dürfe man schon ihr überlassen. Der erste Reizzustand des Abends – der nicht weiter aufgegriffen wird. Die erste verpasste Chance.

Mandy Tröger berichtet über ihre Forschung zur Privatisierung der ostdeutschen Zeitungen durch die Treuhand. Jahre musste sie auf den Zugang zu Akten warten, durfte dann weder Fotos noch Kopien machen. Inzwischen wisse sie, dass schon Mitte 1990, noch bevor die Treuhand aktiv wurde, ausgemacht gewesen sei, welcher westdeutsche Verlag welche ostdeutschen Zeitungen bekommt. Damals ging es um riesige Auflagen, ein lohnendes Geschäft. In Thüringen gingen drei Zeitungen an die WAZ-Gruppe, ein Monopol entstand, das bis heute nicht aufgelöst ist.

Wird Journalismus mit Aktivismus verwechselt?

„Helmut Kohl hat seine Freunde mit den großen Regionalzeitungen versorgt“, sagt Lutz Mükke. Er erzählt von der Zeit kurz davor, 1989/90, in der im Osten 80 bis 100 neue Zeitungen gegründet worden sein. Die Aufbruchsstimmung hielt nicht an, die unabhängigen Redaktionen gingen wieder ein, der ostdeutsche Medienmarkt ist seitdem fest in westdeutscher Hand. Auch in den Chefredaktionen der Zeitungen im Osten sind bis heute die Westdeutschen in der Überzahl.

Auf dem Podium wird über Diversität in Redaktionen gesprochen, über die „Transformationskompetenz“ der Ostdeutschen. Das Gespräch verläuft die meiste Zeit weit weg von den Reizzuständen, um die es hätte gehen können. Einmal noch regt sich Unmut im Publikum, als Marlis Prinzing erklärt, wie ihre Studenten für die ostdeutsche Perspektiven sensibilisiert würden. Sie sagt, dass sie ebenso lernten, die Perspektive von „Menschen mit Beeinträchtigungen“ zu verstehen. „Toller Vergleich!“, ruft eine Frau aus der zweiten Reihe.

Am Ende darf das Publikum sich offiziell zu Wort melden. Eine Frau, die aus Polen stammt, fragt, ob nicht zunehmend Journalismus mit Aktivismus verwechselt werde. Sie sei erwachsen und wolle von Medien nicht erzogen werden. Eine andere Zuhörerin sagt, sie habe kein Problem mit Witzen über den Osten. „Aber ich habe ein Problem, wenn mir mein Leben erklärt wird, von der anderen Seite.“ Jetzt könnte die Diskussion richtig beginnen. Aber der Abend ist zu Ende.