Rudolf Scharping: „Was in Afghanistan und Kabul geschieht, ist ein Weckruf“ - FOCUS online
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Gastbeitrag des Ex-Verteidigungsministers: Rudolf Scharping: „Was heute in Afghanistan und Kabul geschieht, ist ein Weckruf“
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Politprofi und BDR-Präsident Scharping wird 70
PIXATHLON/PIXATHLON/SID/ Der SPD-Politiker Rudolf Scharping war von 1998 bis 2002 Bundesminister der Verteidigung.

Als ehemaliger Verteidigungsminister kennt Rudolf Scharping die militärische Lage in Afghanistan – und was hinter den Kulissen geschah. Er ist sicher: Noch hat Afghanistan eine Chance. Mit einem Blick auf den Balkan und von allen Nationen gemeinsam, sollte sie genutzt werden.

Man kann hoffen, dass möglichst viele der bedrohten Menschen aus Afghanistan gerettet werden. Danach muss vieles aufgearbeitet werden.

Die aktuelle Tragödie begann am 29. Februar 2020. US-Präsident Trump ließ in Doha das Land Afghanistan den Taliban überreichen. Der vierseitige Text beschreibt präzise, was die USA tun werden zum vollständigen Abzug ihrer Truppen (und aller anderen, die seit 2001 in Afghanistan engagiert waren), zur möglichen Aufhebung von Sanktionen gegen die Taliban und dergleichen.

Die Taliban sagen zu, nichts zu unterstützen, was die Sicherheit der USA und ihrer Alliierten gefährdet und in einen inner-afghanischen Friedensprozess einzutreten. Zu letzterem kam es nicht; die Zahl der Angriffe auf Afghaninnen und Afghanen (engagiert für Zivilgesellschaft und menschliche Rechte oder für die Sicherheit im Lande) stieg. Irgendeinen wirkungsvollen Mechanismus des „Gebens und Nehmens“ enthielt das Doha-Abkommen nicht.

Lesen Sie hier mehr zur aktuellen Lage in Afghanistan.

Wie das Debakel seinen Lauf nahm

Menschenrechte, Schutz von Frauen, andere rechtliche oder politische Festlegungen zur Zukunft Afghanistans wurden ignoriert, obwohl sie – unter entscheidender Mitwirkung der USA – Bestandteil zahlloser internationaler Dokumente geworden waren (etwa in Beschlüssen der Vereinten Nationen und ihres Sicherheitsrates, in den Dokumenten praktisch aller internationalen Konferenzen zu Afghanistan).

„Resolute Support“ durch die Nato war eingestellt. Von enger Konsultation war nichts zu hören. Das Debakel nahm seinen Lauf. Es war absehbar.

Eine Chance wurde vertan

Die erste Konferenz zu Afghanistan fand statt zwischen dem 27. November und dem 5. Dezember 2001. Zuvor hatte es zum ersten Mal in der Geschichte der Nato die Feststellung des Bündnisfalles nach Artikel 5 des Vertrages gegeben sowie eine Entscheidung des Weltsicherheitsrates der Vereinten Nationen, also mit der Zustimmung Russlands und Chinas.

Die Chance, dauerhaft ein überragendes Interesse (Bekämpfung des Terrorismus und friedliche Entwicklung) gemeinsam zu verfolgen und eine regionale Sicherheitskooperation in und für Zentralasien aufzubauen, wurde nicht genutzt.

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Doch die Chance besteht noch

Damit ist diese Chance jedoch nicht verschwunden; ihre Verwirklichung ist dringlicher geworden, aber auch herausfordernder. Aus meiner Sicht führt daran kein Weg vorbei. Anders wird womöglich eine Regel-basierte internationale Ordnung auf dem ideengeschichtlichen Müllhaufen landen – nackte (und nicht etwa Werte-basierte) Interessenpolitik wäre die Folge.

Zur Aufarbeitung gehört: Die Nato, Europa und mit ihm Deutschland machen ja nicht nur die Erfahrung eines politischen und menschlichen Debakels in Afghanistan. Und ja, dessen Folgen werden auch andere Missionen im Ausland beeinflussen. Aber ebenso richtig ist, dass es erfolgreiche Engagements der Nato, Europas und Deutschlands gibt, zum Beispiel auf dem Balkan.

Was wir vom Balkan lernen können

So fragil das dort ist, so wenig vergleichbar angesichts Kultur, Religion, Zustand der Gesellschaften, Größe des Territoriums und in mancher anderen Hinsicht, verglichen mit Afghanistan – eine Grundlage hat sich auf dem Balkan als tragfähig herausgestellt: langfristige, umfassende und verlässliche Präsenz; militärische Absicherung friedlicher und zivilgesellschaftlicher Entwicklungen, eine wirtschaftliche Perspektive, Aufbau von verlässlichen Strukturen (staatlichen und jenen der Selbstverwaltung). An Anstrengungen und gutem Willen dazu hat es auch in Afghanistan nicht gefehlt, betrachtet man die Konferenzen in Bonn, London, Berlin, Rom, Paris, Den Haag, Kabul, Tokio, Moskau oder andernorts.

Europa kann dadurch nur stärker werden

Man kann nur raten, dass die notwendige Aufarbeitung nicht allein auf nationale Parlamente beschränkt bleibt. Der Deutsche Bundestag sollte auch Sachverständige, Wissenschaftler, Politiker oder Militärs anderer Länder beteiligen. Alle europäischen Länder, die in irgendeiner Weise an den Einsätzen in Afghanistan beteiligt waren, sollten einbezogen werden – übrigens auch die Türkei.

Dann könnte die gesamte Bandbreite der Erfahrungen erschlossen werden – und daraus erwächst vielleicht die Chance, gemeinsame Erkenntnisse zu erarbeiten und in europäische Politik einzubringen. Europa kann dadurch nur stärker werden. Was heute in Afghanistan und Kabul geschieht, ist ein Weckruf, ja ein Knall, der Europa hoffentlich endlich aufweckt. Europa muss umfassend und gemeinsam als Akteur der Weltpolitik fähig werden.

Rumsfeld wollte harte Militär-Aktion

2011, bei der damals elften Konferenz zu Afghanistan, sagte Kanzlerin Merkel, dass Sicherheit ohne zivilen Aufbau eine „Fassade“ sei. Freilich: ziviler Aufbau in von Gewalt und Krieg geprägten Gebieten ohne zunächst militärische, dann hoffentlich polizeiliche und rechtsstaatliche Absicherung ist eine Illusion. Beides greift ineinander.

Wer diesen Zusammenhang unkonditioniert aufgibt, sollte ein Engagement dieser Art nicht beginnen. Genau das war die Diskussion von Beginn an. Ich erinnere nicht nur Telefonate am 9. September selbst, sondern auch Diskussionen innerhalb der Nato und noch mehr am Rande, lebhaft und streitig. Mein US-Kollege Rumsfeld war im Kern der Meinung, eine kurze und sehr harte, durchschlagende militärische Aktion sei das entscheidende – der Rest zweitrangig. Meine (und andere) Hinweise auf erfolgreiches, weil umfassendes und langjähriges Engagement der USA in Europa und Asien (Japan, Südkorea) und das gemeinsame Handeln auf den Balkan machten auf Rumsfeld keinen besonderen Eindruck. Man wird aber der Frage nachgehen müssen, wie sich solche unterschiedlichen Einschätzungen ausgewirkt haben könnten auf die Praxis von Enduring Freedom, ISAF und die zivil-militärische Zusammenarbeit in Afghanistan. Man wird vergleichen müssen mit dem Balkan, mindestens für die Zeit seit dem Abkommen von Dayton 1994.

Man zog ihnen den Boden unter den Füßen weg

Diese Überlegung gründet auch auf dem 2014 für Afghanistan beschlossenen Abzug der Kampfeinheiten (ohne Luftwaffe) bei weiterer Unterstützung der afghanischen Sicherheitsorgane. In deren Ausrüstung ist viel Geld, in deren Ausbildung viel Erfahrung und Engagement geflossen. In einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft, mit den Clans und Warlords alter Zeiten, starken tribalen Loyalitäten, gemartert durch jährlich tausende Tote (Zivilisten und mehr noch Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei) – in einer solchen Gesellschaft mit dieser Geschichte sind 14 Jahre eine verdammt kurze Zeit.

Ab 2015 sollten die afghanischen Sicherheitskräfte mehr und mehr auf eigenen Füßen stehen. Als man ihnen aber – beginnend in Doha 2020, fortgesetzt mit dem beschleunigten Abzug bei schlecht organisierter Übergabe, wenn ich an den riesigen Stützpunkt Bagram denke – den Boden unter den Füßen wegzieht, für wen oder was sollten diese Menschen kämpfen: für eine schwache und korrupte Regierung? Oder für das eigene Leben?

Was von den 20 Jahren Einsatz bleibt, hängt von allen gemeinsam ab

War alles vergeblich: nein! In den vergangenen zwanzig Jahren ist vieles erreicht worden. Ob davon etwas bleibt, wird sehr von einer gemeinsamen Reaktion all der Länder abhängen, die nicht nur in Amerika oder Europa an einer friedlichen Entwicklung auf der Basis internationaler Normen und Regeln interessiert sind.

Ohne die Mächte in Zentralasien wird das nicht gelingen. Andere gehören ebenfalls dazu, wenn Europa und in ihm Deutschland nicht Gegenstand von Erpressung werden wollen, dieses Mal mit Flüchtlingen. Was die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die Polizistinnen und Polizisten, die zahllosen Menschen in zivilen Projekten und Organisationen geleistet haben (und wofür manche starben und viel andere Wunden und Belastungen für ihr Leben zu tragen haben), das alles hat sich auch in Erfahrungen und Vorstellungen vieler Menschen in Afghanistan eingegraben.

Was davon wirksam bleibt oder wieder einmal werden kann, hängt auch ab von der internationalen Politik, namentlich der USA und Europas. Wichtiger als das gegenwärtige Getöse wegen eines Wahlkampfes ist jetzt eine kluge und verantwortliche Vorbereitung dieser internationalen Verpflichtung.

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