Stuttgart 21 und ETCS-Einführung: "Wir hätten das stoppen können" - Ausgabe 624
KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Stuttgart 21 und ETCS-Einführung

"Wir hätten das stoppen können"

Stuttgart 21 und ETCS-Einführung: "Wir hätten das stoppen können"
|

Datum:

Weil die Deutsche Bahn den Stuttgarter Tiefbahnhof Ende 2025 auf Biegen und Brechen volldigitalisiert ans Netz bringen will, stehen der Region harte Monate bevor. Zentrale S-Bahn-Strecken werden für Wochen gesperrt. S-21-Fans weinen Krokodilstränen, und die Grünen in der Landesregierung müssen sich unangenehme Fragen gefallen lassen.

Freudige Gesichter an diesem 5. November 2018, es ist ein bisschen, als hätten ein paar Jungs den Stein der Weisen gefunden. Nach der Sitzung des Stuttgart-21-Lenkungskreises verkündet Bahn-Vorstand Ronald Pofalla beinahe euphorisch die Schaffung des "Digitalen Bahnknotens Stuttgart". Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) wirkt zwar nüchtern, aber doch zuversichtlich, und Regionalpräsident Thomas Bopp (CDU) scheint sich fast am meisten zu freuen. Er erklärt, dass erst der verspätete S-21-Eröffnungstermin (offiziell geplant damals wie heute: Ende 2025) die Chance gebracht habe, den gesamte Bahnknoten zu einem "Leuchtturmprojekt" zu machen, und nun müsse man "die Chance nutzen, die wir ohne die Verzögerung nicht gehabt hätten".

Worum es bei der bemühten Digitalisierung geht: die Ausstattung mit ETCS, was "European Train Control System" bedeutet. Ein digitales Zugbeeinflussungssystem, das bisherige Signal- und Zugleitsysteme überflüssig und den Verkehr sicherer und effizienter machen soll. Dieses System war schon lange für die neu zu bauenden Stuttgart-21-Streckenabschnitte geplant gewesen und sollte ursprünglich dem Fernverkehr vorbehalten bleiben. Nun aber soll sich das ändern und auch der komplette Nahverkehr im Großraum Stuttgart mit ETCS ausgestattet werden, inklusive des gesamten Stuttgarter S-Bahn-Netzes – das erst einmal nichts mit Stuttgart 21 zu tun hat, aber nun kurzerhand dem "Digitalen Knoten Stuttgart" einverleibt wird.

Anfang 2020 werden die Pläne dann endgültig eingetütet, der Bund verspricht eine Finanzierung von zunächst 570 Millionen Euro bis 2023. Und hier liegt wohl auch ein Gutteil von Pofallas Freude begründet: Weil "der Finanzierungsvertrag für Stuttgart 21 von 2009 diesen Teil der Digitalisierung nicht umfasst", wie der Bahn-Vorstand 2018 in Stuttgart betont, freut man sich über den finanziellen Segen aus einer neuen Quelle, dem Programm "Digitale Schiene Deutschland". Denn das Projekt wird ständig teurer, und die Finanzierungsanteile der Projektpartner Land und Stadt sind gedeckelt, also muss die Bahn die Mehrkosten alleine tragen – es sei denn, bestimmte Posten lassen sich in Extratöpfe auslagern, wovon es neben der Digitalisierung noch einige andere gibt (Kontext berichtete).

Böses Erwachen, "völlig überraschend"

Dass die Umsetzung des "innovativen Schaufensters der Republik" (Thomas Bopp) doch nicht so leicht ist, räumt die Bahn am 10. März 2023 ein: Um die Ausstattung mit ETCS vorzunehmen, müssten zentrale Strecken im Großraum Stuttgart reihum für Wochen gesperrt werden, und zwar schon ab kommenden April. Und es werde auch nicht alles gleich digital. Auf Bestandsstrecken und Teilen des S-Bahn-Netzes, wird ein Bahnsprecher in der FAZ zitiert, sei eine Ausstattung sowohl mit analoger als auch mit digitaler Technik erforderlich, weil der Güterzugverkehr noch nicht hinreichend mit digitaler Technik ausgestattet sei. Minister Hermann reagiert noch am gleichen Tag mit einer wütenden Pressemitteilung. "Völlig überrascht" sei man von der Ankündigung der Bahn, dies sei ein "herber Schlag" für die Fahrgäste.

Entsprechend ernste Gesichter am 14. März bei der Pressekonferenz nach der Sitzung der Landesregierung. Ganz ohne Scheu gibt Verkehrsminister Hermann bekannt, dass er die Streckenstilllegungen hätte stoppen können. Der Preis allerdings war ihm zu hoch, denn wäre er zur Bundesnetzagentur gegangen, um die Kurzfristigkeit der Ankündigungen anzuzeigen, "hätten die Arbeiten verschoben werden müssen". Und damit auch der vorerst letzte ins Auge gefasste Eröffnungstermin für den Tiefbahnhof im Dezember 2025. Aber "die Verantwortung wollten wir nicht übernehmen". Also trägt die Landesregierung das Chaos mit, dessen Auswirkungen als so gravierend eingeschätzt werden, dass Hermann die Straßenbauverwaltung angewiesen hat, alle Baustellen offenzulegen, die Ersatzverkehre behindern könnten. "Wir sind nicht bockig, sondern wir helfen", sagt Hermann. Die Verantwortung, vor allem die finanzielle, liege aber allein bei der Bahn.

Nun ist ein Jour Fixe eingerichtet, bei dem die Bahn regelmäßig informieren muss. Warum dies nicht bereits in all den Lenkungskreissitzungen seit November 2018 geschehen ist, bleibt die Frage. Ein Dutzend Mal haben sich die Projektträger:innen seither mit dem Gang der Dinge befasst. Doch ETCS war in den obligatorischen Hochglanz-Präsentationen zum Projektstand entweder nur eine Randnotiz gewidmet, oder die DB hat faktenarme Versprechen abgegeben. Dabei ist die Problematik alles andere als neu und das System noch viel älter. Schon vor einem Vierteljahrhundert starteten in der Schweiz erste Tests mit ETCS. Man habe Pionierarbeit für Europa geleistet, heißt es in einer schweizer Analyse des Ist-Zustands aus dem Vorjahr. Seit 2018 sei das Normalspurnetz größtenteils mit ETCS ausgerüstet.

Die Schweiz brauchte 20 Jahre zum Umrüsten

"In mehr als 20 Jahren und ohne beeinträchtigende Streckensperrungen wurde umgerüstet", weiß Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Hierzulande werde dagegen versucht, das hochkomplexe und in der Fachwelt umstrittene elektronische Zugsteuerungssystem ETCS überhastet zu implementieren. Tatsächlich haben die Nachbarn viele negative Erfahrungen gemacht, vor allem rund um die erhofften Kapazitätssteigerungen. Auch in der Österreichischen Bundesbahn, die einen Ausbauplan bis 2038 vorgelegt hat, wird unter Verantwortlichen über Konsequenzen diskutiert. Das Mehr an Sicherheit ist anerkannt, die Kapazitätssteigerungen sind es nicht, jedenfalls nicht im erhofften Ausmaß von zehn oder 15 Prozent. Sogar von Kapazitätsverlusten von bis zu 14 Prozent, teils noch mehr, sprechen schweizer Lokführer (Kontext berichtete).

Das nährt gewisse Zweifel an den 20 Prozent Zuwachs, die der damalige Bahnvorstand Ronald Pofalla im Sommer 2020 vollmundig "allein für die S-Bahn-Stammstrecke" versprochen hat. Ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2025, hieß es damals, sollten die Züge des Fern-, Regional- und S-Bahn-Verkehrs rund um den Knoten Stuttgart im mit digitaler Technik ausgerüsteten Netz unterwegs sein.

André Reichel, Grünen-Fraktionschef im Regionalparlament des Verbands Region Stuttgart, glaubte solchen Verheißungen noch nie und jetzt erst recht nicht. Allerdings vermisst er wirksame Hebel, die Verantwortlichen zu mehr Transparenz und Offenheit zu zwingen. Denn die S-21-Fans, allen voran jene in der CDU, wollen auch heute noch die trübe Realität nicht wahrhaben. Stuttgart 21 werde immerzu schöngeredet, klagt der Sozialwissenschaftler Reichel. Es fehle an der Bereitschaft, Schwierigkeiten überhaupt wahrzunehmen und zu deren Lösung beizutragen.

Nopper freut sich, Kretschmann gibt den Stoiker

Einer der Verweigerer, der sich bisher ersparte, das Milliardenprojekt in seiner Komplexität und vor allem mit Blick auf die Gefahren für die Stadt zu durchdringen, sitzt im Stuttgarter Rathaus: Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) bezeichnet sich noch immer und trotz allem als "fasziniert" von der "Jahrhundertchance auf 150 Fußballfeldern", von den enormen Verbesserungen im Schienenverkehr und den verkürzten Fahrzeiten.

Ergänzungsstation auf Eis

Seit Jahren fordert Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) einen zusätzlichen Bahnhof in Stuttgart, da der S-21-Tiefbahnhof alleine kaum halten wird, was sich seine Befürworter:innen allen Fakten zum Trotz immer noch versprechen – nämlich mehr Kapazität. Vorerst sieht der Grüne allerdings keine Chance auf politische Mehrheiten für jene Ergänzungsstation, deren Konzept er 2019 mit Rücksicht auf oberirdische Bebauungswünsche als unterirdischen Kopfbahnhof vorgestellt hatte. Es half nichts: Sogar seine Parteifreund:innen im Stuttgarter Gemeinderat hängen am Abbau aller Gleise ab 2026, in der Hoffnung auf große und umgehende Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt. Also wird der Hermann-Plan vorerst auf Eis gelegt. "Das Verkehrsministerium hat umfassende Untersuchungen gemacht", sagt sein Sprecher Edgar Neumann auf Kontext-Anfrage zum neuesten Stand, "und wir haben gemäß dem Koalitionsvertrag eine Planung für die Weiterentwicklung des Knotens Stuttgart über eine Verdopplung hinaus ausgearbeitet." Die Ergänzungsstation sei eine mögliche Ergänzungsmaßnahme. Die S-21-Projektpartner Stadt, Regionalverband und Bahn halten den unterirdischen Durchgangsbahnhofs ohnehin für ausreichend. Und S-21-Fans jubilieren: FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke freut sich über das "Aus für die Hermann-Fantastereien" und Hans-Peter Storz, Verkehrsexperte der SPD-Landtagsfraktion, spricht vollmundig vom "Offenbarungseid". Dabei ist so unsicher wie schon lange nicht mehr, wer den im Dezember 2025 wirklich leisten muss, wenn dann tatsächlich die ersten Züge im Tiefbahnhof den Praxistest durchfahren. (jhw)

Ein anderer Verweigerer sitzt in der Villa Reitzenstein. Gerade mal die Anmerkung "Das hätte die Bahn besser machen können" lässt sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf der Regierungspressekonferenz entlocken und gibt darüber hinaus den Stoiker.

Hunderttausende Bahnkund:innen werden dagegen erst einmal Tag für Tag und auf etliche Wochen hinaus schäumen. Wie lange genau, darauf will sich niemand festlegen. OB Nopper hat unerfüllbare Wünsche, wenn er einen "gut funktionierenden Ersatzverkehr" verlangt. Einfach deshalb, weil Busse und Fahrer:innen fehlen, deutschlandweit in sechsstelliger Höhe, wie eine Anhörung im Bundestag kürzlich ergab. Zudem hält der Grüne Reichel es für möglich, dass 2024 erneut wichtige Strecken gesperrt werden müssen, da noch nicht alle notwendigen Arbeiten wie Kabelverlegungen erledigt seien. Seine Regionalfraktion ist inhaltlich in Vorleistung getreten und hat einen 14-Punkte-Plan zur Prüfung ausgebrütet, mit Taktverkürzungen, einer Express-Stadtbahn zwischen Stuttgart-Vaihingen bis zum Cannstatter Wasen oder doppelstöckigen Regionalzügen.

Aktionsbündnis kritisiert auch Hermann

Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 spricht derweil von einem "Desaster mit Ansage" und diagnostiziert nicht nur bei der DB "ein neues Maß an Unverfrorenheit". Unter den Augen von Politiker:innen, die in Sonntagsreden und Programmen die Mobilitätswende Richtung Schiene forderten – "allen voran die grüne Landesregierung" –, finde die Verkehrswende rückwärts statt, klagt Sprecher Dieter Reicherter, weil immer mehr Menschen gezwungen würden, wieder aufs Auto umzusteigen, um ihren Alltag zu bewältigen. Dass Hermann erst einmal die Kommunikation der DB und ihre kurzfristigen Ankündigungen ins Zentrum seiner Kritik gestellt hat, bringt das Aktionsbündnis zusätzlich gegen ihn auf: Er stelle sich dar als "unbeteiligtes Opfer". Dabei gehöre er zu jenen Politikern, die seit Jahren Stuttgart 21 verteidigen und als Projektförderer im S-21-Lenkungskreis beteiligt sind.

Ebenfalls in dieser Reihe steht – neben den üblichen, aktuell ausgesprochen schweigsamen Verdächtigen bei CDU, SPD und FDP – Ministerpräsident Kretschmann selber. Seit seinem Regierungsantritt im Mai 2011 und erst recht seit dem landesweiten Referendum ein halbes Jahr später will der große Grüne nichts mehr wissen von all seinen kritischen Detailkenntnissen zum ehedem vehement bekämpften Milliardenprojekt. Immer nach seinem Motto, dass es bei Abstimmungen um Mehrheiten gehe und nicht um die Wahrheit. Und ihm selber um den immerwährenden Koalitionsfrieden, zuerst mit der SPD und seit 2016 mit der CDU. Sogar die seltenen Wutausbrüche, etwa als er Ende 2018 sagte, dass die S-21-Gegner mit allem Recht behalten hätten, sind Geschichte.

Ganz sicher hätte Kretschmann seinen Verkehrsminister Hermann ohnehin am Gang zur Bundesnetzagentur gehindert. In der gemeinsamen Pressekonferenz lässt er CDU-Innenminister Thomas Strobl wild vor sich hin fabulieren über den "technologisch großen Wurf", auf den ganz Europa schauen werde, "weil wir eine wirklich exzellente Signal- und Weichentechnik bekommen". Realitätsverweigerung kennt viele Spielarten, da kommt es auf eine mehr oder weniger kaum noch an.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


12 Kommentare verfügbar

  • Andreas Grätz
    am 30.03.2023
    Antworten
    ETCS ist auf jeden Fall notwendig, um überhaupt das zu liefern, was einst zur Schlichtung schon versprochen wurde. Grund: die langen Durchrutschwege bedingt durch die starke Neigung. Dadurch werden ausfahrende Züge behindert, wenn ein Zug mit den beworbenen 100 km/h in den Trog einfährt. Schon zur…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!