Nachruf auf Phil Spector: Der Psychopath vom Pyrenäenschloss - WELT
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Kultur Phil Spector †

Der Psychopath

Redakteur Feuilleton
04.02.03 PIC SHOWS: RECORD PRODUCER, PHIL SPECTOR (DURING HIS LIBEL TRIAL AT THE HIGH COURT 1997) HE HAS BEEN CHARGED WITH FIRST DEGREE MURDER AFTER A WOMAN WAS FOUND SHOT DEAD INSIDE HIS MANSION IN LOS ANGELES. HE HAS BEEN BAILED FOR $1 MILLION-SEE STORY 04.02.03 PIC SHOWS: RECORD PRODUCER, PHIL SPECTOR (DURING HIS LIBEL TRIAL AT THE HIGH COURT 1997) HE HAS BEEN CHARGED WITH FIRST DEGREE MURDER AFTER A WOMAN WAS FOUND SHOT DEAD INSIDE HIS MANSION IN LOS ANGELES. HE HAS BEEN BAILED FOR $1 MILLION-SEE STORY
Tycoon der Teens: Phil Spector in seinen besseren Jahren
Quelle: picture alliance / Photoshot
Er hat die Popmusik in ihrer kurzen, kleinen, komprimierten Form erfunden. Dann wurde Phil Spector wahnsinnig und brachte eine Frau um. Im Gefängnis ist er nun gestorben. Versuch des Nachrufs auf ein musikalisches Genie.

Vor fünfzig Jahren schrieb der Popmusikhistoriker Nik Cohn: „Wenn man seine Millionen gemacht und seine Monsterhits gelandet hat, was kommt dann noch? Was macht man mit den fünfzig Jahren, bis man stirbt?“ Die Musiker und Komponisten, Textdichter und Produzenten, die Cohn meinte, waren damals um die dreißig. Männer wie Phil Spector, die mit Liebesliedern reich geworden waren.

„But only now my love has grown/ And it gets stronger in every way/ And it gets deeper, let me say/ And it gets higher day by day/ And do I love you, my oh my/ Yeah, river deep, mountain high – yeah, yeah, yeah/ If I lost you would I cry/ Oh how I love you baby/ Baby, baby, baby.“

Tiefer als der Fluss und größer als die Berge war die Liebe in den Liedern von Phil Spector von „To Know Him Is to Love Him“ über „Be My Baby“ bis zu „River Deep – Mountain High“, zwischen den Fünfzigern und Sechzigern. Was kam dann noch? Er wurde wahnsinnig. Er wurde zur Legende. Er lebte allein in einem Schloss in Kalifornien. Fünf Jahrzehnte später ist Phil Spector nun gestorben, im Gefängnis, wo er seit elf Jahren wegen Totschlags saß, möglicherweise an Corona.

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„AWopBopaLooBop ALopBamBoom“, Nik Cohns Geschichtsbuch, war ein Nachruf auf die Nachkriegsjahre und die Unschuld. Die Geschichte von Phil Spector liest sich wie eine der längeren Fußnoten dazu: Geboren 1939 in der Bronx am zweiten Weihnachtsfeiertag als Sohn eines jüdischen Stahlarbeiters, der sich neun Jahre nach Phils Geburt das Leben nimmt. Phil wird ein schwieriges Kind. Die Mutter macht ihn für den Tod des Vaters und Ernährers der Familie verantwortlich. Mit 17 gründet Phil die Band The Teddy Bears, er singt im Hintergrund und spielt Gitarre. Auf dem Grabstein seines Vater steht: „To Know Him Is to Love Him“. Aus der Zeile macht Phil Spector 1958 seinen ersten Hit.

Reich wird er nicht. Das Geld verschwindet beim Musikverlag und in der Plattenfirma. Phil lässt sich als Assistent der Songautoren Jerry Leiber und Mike Stoller anstellen, wird Mitautor von Ben E. Kings Hit „Spanish Harlem“, Studiogitarrist der Drifters und der Topnotes, und er wird mit einem eigenen Tonstudio belohnt, den Gold Star Studios in Los Angeles, und einer eigenen Plattenfirma namens Philles Records. Phil wird Plattenproduzent und weltberühmt für seine vielspurigen, mehrschichtigen Aufnahmen, die „Wall of Sound“. Durch seine Klangwände wirken die Songs nicht mehr wie Schlager, sondern, so sagt er es selbst, wie „Sinfonien für Kinder“.

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Bob B. Soxx & The Blue Jeans lässt er „Zip-a-dee-doo-dah, zipa-dee-aay/ My, my, my, my, my, my what a wonderful day“ singen, aber auch einen Song für seinen Psychotherapeuten. The Crystals singen „Da Doo Ron Ron“, aber auch Zeilen wie „He Hit Me (And it Felt Like a Kiss)“. Und das ist nicht nur so dahingesungen von den Schlägen und den Küssen. Tina Turner muss mit „River Deep – Mountain High“ gegen ein tosendes Orchester und zwei tobende Männer ansingen, gegen Ike Turner und Phil Spector – den „Tycoon der Teens“, so würdigt ihn Tom Wolfe.

Phil Spector produziert die Righteous Brothers und noch lieber Mädchenbands wie The Ronettes, für die er „Be My Baby“ schreibt. Er löst das Trio auf und heiratet die Sängerin Veronica Ronnie Bennett, lässt Haus, Hof und Studio mit Stacheldraht umzäunen und mit Überwachungskameras ausstatten. Ronnie Spector, seiner Frau, bestellt er einen gläsernen Schneewittchensarg. Als sie die sechsjährige Ehe überstanden hat, sagt sie: „Ich glaube, Phil war zu Beginn seiner Karriere ein ziemlich normaler Mensch. Aber dann fingen sie an zu schreiben, er sei ein Genie, und er sagte: ‚Yeah! Ich bin ein Genie!‘ Dann hieß es, er sei ein verrücktes Genie. Also wurde er ein verrücktes Genie.“

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Damit war die Geschichte schon zwischen den Sechziger- und Siebzigerjahren auserzählt, nach den Millionen und den Monsterhits. Dann kam der letzte Manager der Beatles, Allen Klein, und buchte das Genie, um „Let It Be“, den Abgesang der größten Band der Welt, zu retten und sie in ihrem Vermächtnis musikalisch einzumauern. Streicher, Bläser, Chöre. Es gibt Filmaufnahmen mit John Lennon und George Harrison, die ihn mit „Beatle Phil“ anreden, aber bereits ohne Paul McCartney.

Spector produzierte Platten für George Harrison, „All Things Must Pass“ und das Konzert für Bangladesch sowie „Imagine“ für John Lennon und das Retroalbum „Rock ‘n‘ Roll“, das Lennon ohne ihn ein zweites Mal aufnehmen musste, nachdem Spector erst auf ihn geschossen hatte und dann mit den Tonbändern getürmt war. Als John Lennon und George Harrison nicht mehr am Leben waren, produzierte Paul McCartney „Let It Be“ noch einmal als „Let it Be … Naked“, ohne Soundwälle.

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Phil Spector geisterte als Gnom mit Sonnenbrille, Plüschperücke und geladener Pistole durch das Popgeschäft der Siebzigerjahre. Sogar Leonard Cohen fuhr der Schrecken in Stimme, als er mit der Waffe an der Schläfe seine finsteren Stücke singen sollte für „Death of a Ladies‘ Man“. Cohen erklärte später: „Fremde Schatten in der eigenen Dunkelheit ertrug er nie.“

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Die Popmusik kam in die Jahre, und wenn jemand im Besitz des Jugendelixiers zu sein schien, dann der irre Alchemist und Magier in seinem Studio, seiner Folterkammer, wie die Musiker es nannten. Die Ramones mochten Phil Spectors Songs von früher, Spector mochte die Ramones, weil sie ihn mochten. Nach vier Punkplatten versprachen sich Dee Dee, Johnny, Joey und Marky eine Platte voller schöner, schmutziger Popsongs für die anbrechenden Achtziger. „End of the Century“ entstand wie alle Alben von Phil Spector damals. Mit entsicherten Pistolen überwachte er, wie die Ramones acht Stunden lang einen Akkord anschlugen, bis er saß.

„Ein Zwerg auf meterhohen Absätzen, unter einer Perücke wie ein Monchhichi und mit vier Knarren in den winzigen Fäusten“, schrieb Johnny Ramone in seinen Memoiren. „Aber der Akkord klang auf dem Album wirklich gut.“ Wie Yoko Ono 1981 mit Phil Spector noch „Season of Glass“, ihr Requiem für John Lennon, fertigstellen konnte, gehört zu den unergründlichen Geheimnissen der Popgeschichte. Danach zog der Produzent sich auf sein Schloss zurück und hörte über eine eigene Satellitenanlage ausschließlich klassische Musik.

Das „Castle Pyrenees“ in Alhambra, einem Vorort von Los Angeles, wurde zu einem Ort wie Elvis‘ Graceland, Michael Jacksons Neverland, die Ranch von Howard Hughes und das Dakota Building in New York für Yoko Ono und John Lennon. Eine Trutzburg gegen alle Geister, die man selbst gerufen hatte oder die von aller Welt herbeigerufen worden waren. Wer das Pyrenäenschloss betreten durfte, wie Tom Cruise, der einen Film über Phil Spector drehen und den einflussreichsten Plattenproduzenten aller Zeiten spielen wollte, konnte immerhin berichten, dass der Hausherr auch gern alte Filme sah, am liebsten „Citizen Kane“.

Im Februar 2003 verließ Phil Spector seine Festung, ließ sich durch die Bars von Hollywood chauffieren und kehrte mit einer VIP-Hostess und Schauspielerin in seine Einsiedelei zurück. Am Morgen war sie tot, erschossen mit einer Pistole aus Phil Spectors Sammlung. Vor Gericht erklärte er, als habe er gerade einen Song verfasst: „Sie küsste meine Waffe.“ Die Geschworenen verurteilten ihn wegen Totschlags zu einer Gefängnisstrafe bis zum Jahr 2028.

Verdient einer wie Phil Spector einen Nachruf als Meister des Liebeslieds? Als Produzent war er der Übervater aller Produzenten. Manche, wie Rick Rubin oder Dr. Dre, sorgen dafür, dass die Musik zum Musiker passt wie ein Maßanzug. Manche, wie Pharell Williams oder Brian Eno, liefern Konfektionsmusik. Und manche, wie Butch Vig und Qunicy Jones, sind stolz darauf, dass die Musik, dass jede Platte und jedes Produkt, nach ihnen klingt. Phil Spector hat alle drei Schulen begründet und in sich vereint.

Sein Wall of Sound mag für ihn selbst ein „wagnerianischer Ansatz für den Rock ‘n‘ Roll“ gewesen sein mit seinen Schichten, seinen Schalleffekten, seinem Schlagwerk. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren war es die perfekte Popmusik für die Transistorradios, Musikboxen, mobilen Monoplattenspieler und die Hörer dazu. Als die Lieder länger und die Räume tiefer wurden, zog er sich zurück. Heute werden die Stücke wieder kürzer und die Klänge wieder komprimierter in den neuen Walls of Sound der digitalen Welt. Musik ist alles andere als tot.

Phil Spector hat dazu, zum Tod der Popmusik, einmal gesagt: „Es ist, als wenn jemand gestorben wäre, und den Menschen fällt nichts Besseres ein, als ‚Er ist gestorben! Er ist gestorben!‘ zu schreien.“ Er wurde 81 Jahre alt.

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