Ukraine-Krieg: Wir brauchen jetzt eine klare Strategie, liebe Bundesregierung - FOCUS online
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Aufruf von Osteuropa-Experten: Liebe Bundesregierung, wir brauchen jetzt eine klare Strategie für den Ukraine-Krieg
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Freiwillige Soldaten bereiten sich nahe Bachmut auf das Feuer auf russische Stellungen vor.
-/Libkos/AP/dpa Freiwillige Soldaten bereiten sich nahe Bachmut auf das Feuer auf russische Stellungen vor.

Welches Ziel verfolgt Deutschland mit seiner Ukraine-Politik? Unklar! Vier Osteuropa-Experten haben deshalb einen Aufruf an die Bundesregierung gestartet: „Für eine Klärung der Ziele, die Deutschland mit seiner Unterstützung der Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen Russlands Vernichtungskrieg verfolgt.“ Lesen Sie den Aufruf hier im Wortlaut.

Am 24. Februar 2022 setzte Russland seinen bis dahin fast acht Jahre andauernden Krieg gegen die Ukraine mit einem Großangriff zur Unterwerfung des Nachbarlandes fort. Drei Tage später hat Bundeskanzler Olaf Scholz diesen schwereren Bruch des Völkerrechts vor dem deutschen Bundestag als „Zeitenwende“ in Europa qualifiziert und ein milliardenschweres Sondervermögen zur dringend erforderlichen Modernisierung der Bundeswehr angekündigt.

Die Entscheidung der Bundesregierung, die Ukraine nun auch mit Waffenlieferungen in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, bedeutet die Abkehr von einem parteiübergreifenden Konsens, keine Waffen zu liefern, die in einem Krieg gegen Russland eingesetzt werden könnten.

Die Verfasser

Dr. Franziska Davies, Historisches Seminar / Geschichte Ost- und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. em. Dr. Otto Luchterhandt, Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg

Prof. i. R. Dr. Stefan Troebst, Global and European Studies Institute der Universität Leipzig

Dr. Andreas Umland, Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen

Die Bundesrepublik Deutschland hat seither Beachtliches an Hilfe für die Ukraine geleistet: Bund, Länder und Kommunen sowie die Zivilgesellschaft haben politischökonomisch, finanziell, technisch und ganz praktisch zur Minderung der verheerenden Kriegsfolgen beigetragen, dies nicht zuletzt durch die unbürokratische Aufnahme und Unterbringung einer gewaltigen Zahl von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, mehrheitlich Frauen, Kinder und ältere Menschen in kürzester Zeit.

Dabei hat Deutschland gleich Polen, der Republik Moldau, der Slowakei, Rumänien, den baltischen Staaten und anderen Vorbildfunktion übernommen. Überdies hat sich Berlin massiv in Sachen zeitnaher Hilfe zur Wiederingangsetzung von durch russländische Raketen, Drohnen, Artillerie u. a. zerstörter lebensnotwendiger ukrainische Infrastruktur für Energie, Trinkwasser, Fernheizung und Bahnanlagen engagiert.

Noch immer ist unklar, welches Ziel die Ukraine-Politik Deutschlands verfolgt

Der Hilfe zur Reparatur der von den russischen Streitkräften zerstörten zivilen Einrichtungen, namentlich Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Wohnblocks, steht die Monate hindurch nur in Trippelschritten erfolgte militärische Unterstützung der Ukraine von Seiten Deutschlands gegenüber. Beginnend mit der Zusage für eine überschaubare Zahl von Gefechtshelmen, der dann zögerlich erfolgten Lieferung von Berge- und Brückenlegepanzern, schließlich von Panzerhaubitzen und Flugwehrabwehrkanonenpanzern bis hin zur unlängst erfolgten Ankündigung einer – noch in Vorbereitung befindlichen – Lieferung von Schützen- sowie Kampfpanzern ist fast ein gesamtes Jahr vergangen.

Ein Jahr intensiver Kampfhandlungen im Norden, Osten und Süden der Ukraine samt hohen soldatischen Todesraten auf beiden Seiten. Dazu kommen in sämtlichen Regionen der Ukraine zahlreiche zivile Opfer an Toten und Verletzten jeglichen Alters sowie verheerende Zerstörungen lebensnotwendiger ziviler Einrichtungen.

So sinnvoll die nichtmilitärische wie militärische Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die Aggression der Russländischen Föderation auch ist, so unklar ist, welches strategische Ziel die regierende Koalition in Berlin damit letztlich verfolgt. Die Kommunikation der Bundesregierung sorgt insofern nicht nur innerhalb Deutschlands für Irritationen. Formulierungen wie „Die Ukraine darf nicht verlieren“ oder „Die Russländische Föderation darf nicht siegen“ schaffen keine Klarheit, sondern sorgen für politische Verunsicherung und schaden unserem Land.

Die Bewahrung der Souveränität der Ukraine hat oberste Priorität

Dieser „blinde Fleck“ der deutschen Ukrainepolitik muss dringend politischer Klarheit weichen! Das heißt: Die Bundesregierung muss – endlich – eine klare Aussage dazu machen, welches Ziel sie letztlich mit der Lieferung von militärischem Gerät, humanitärer Hilfe sowie technischer, nachrichtendienstlicher und Anti-Cyber-Unterstützung für die Ukraine anstrebt.

Dabei müssen die Bewahrung der staatlichen Souveränität der Ukraine, die Integrität ihres Staatsgebietes und der Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg die wesentlichen Eckpunkte sein. Das schließt ein, dass die Befreiung der von Russland bereits 2014 und ebenso auch 2022 völkerrechtswidrig okkupierten und annektierten Gebiete der Ukraine eine zentrale Rolle spielen muss. Die Formulierung einer solchen strategischen Zielsetzung sollte mit den NATO- und EU-Partnern abgestimmt sein.

Darüber hinaus ist zu fordern, die für die Entfesselung des Angriffskrieges gegen die Ukraine verantwortlichen Führer Russlands wegen des „Verbrechens der Aggression“ im Sinne von Art. 8bis des Rom-Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass es der sowjetische Völkerrechtler Aron Naumovič Trajnin war, der als Rechtsberater der sowjetischen Anklagevertretung bei den Nürnberger Prozessen gegen die Elite des „Dritten Reiches“ 1945/46 einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass dieser Straftatbestand als das schwerste Verbrechen des heutigen Völkerstrafrechts weltweit anerkannt ist.

Russia's Large-Scale Assault On Ukraine Enters Second Year
Getty Images Eine Frau legt Blumen auf ein Grab eines ukrainischen Soldaten.

Deutschland hat eine moralische Verantwortung

Unabhängig von möglichen Zwischenschritten wie einer temporären Waffenruhe an Teilabschnitten der derzeitigen Frontlinie, einem generellen Waffenstillstand und von Verhandlungen über einen künftigen Friedensschluss muss das Ziel die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität über ihr gesamtes Staatsgebiet in den Grenzen von 1991 sein. Dessen territoriale Integrität muss mittels militärischen sanktionsbewehrten internationalen Garantien geschützt werden – anders als im Budapester „Memorandum“ von 1994, das seitens der Russländischen Föderation gebrochen wurde.

Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber der Ukraine aus mehreren Gründen eine ganz besondere politische und moralische Verantwortung: Zum einen steht sie in der Kontinuität des Deutschen Reiches, welches im Ersten Weltkrieg die gesamte Ukraine okkupiert hat – nicht zuletzt um die bereits damals kriegsbedingt wichtige ostukrainische Kohle- und Eisenerzregion Donbass um Donezk und Luhansk wirtschaftlich auszubeuten.

Dieses Vorhaben wurde dann im Zweiten Weltkrieg vom nationalsozialistischen Deutschland in seinem Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion fortgesetzt. Die Hauptschauplätze der deutschen Aggression samt brutalem Okkupationsregime und Holocaust waren die Sowjetrepubliken Ukraine und Belarus‘ sowie der Westteil der damaligen Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Hier klafft im Geschichtsbild des wiedervereinigten Deutschlands zulasten der Ukraine eine große Lücke, die dringend zu schließen ist.

Auch heute muss es um die Befreiung der Ukraine gehen

Daraus folgt: Deutschland hat gegenüber der in ihrer Existenz akut bedrohten Ukraine eine historisch bedingte Bringschuld: Wehrmacht, Einsatzgruppen und SS haben die Sowjetukraine vom 22. Juni 1941 an jahrelang verheert, fast alle ukrainischen Juden und „Zigeuner“ ermordet, als „Banditen“ bezeichnete Widerstandskämpfer zu tausenden erschossen.

Über sechshundert der so genannten „Feuerdörfer“, die von SS, Wehrmacht und deren Helfern dem Erdboden gleichgemacht wurden, nachdem sie die Dorfbevölkerung vollständig ermordet hatten, lagen in der Ukraine. Zugleich wurden Ukrainerinnen und Ukrainer millionenfach zur Zwangsarbeit „ins Reich“ verschleppt, in gleicher Zahl sowjetukrainische Rotarmisten in Kriegsgefangenenlagern dem Hungertod preisgegeben – und zwar hier bei uns, in Stukenbrock, Sachsenhausen und Bergen-Belsen, nicht im fernen „Reichskommissariat Ukraine“. Wie viele Ukrainer im Frühjahr 1945 in der Schlacht um Berlin auf sowjetischer Seite gekämpft und wie viele dabei auf den Seelower Höhen und in brandenburgischen Wäldern den Tod gefunden haben, ist bis heute unbekannt – es waren jedenfalls zehntausende.

„Der 8. Mai [1945] war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985. Heute geht es um die Befreiung von Teilen der Ukraine von einer grausamen Besatzung durch ein anderes, aber ebenfalls menschenverachtendes System von Gewaltherrschaft.

Es braucht jetzt eine deutsche und internationale Strategie

Vieles spricht dafür, dass die Führung Russlands auf Zeit spielt – in der Hoffnung, dass die deutsche Unterstützung der Ukraine schon bald nachlässt. Es ist die Verantwortung der Bundesregierung sich dafür zu engagieren, die Öffentlichkeit immer wieder an den Sinn besonders der militärischen Unterstützung zu erinnern. Im Angesicht der deutschen Debatte, die von Beginn an von Appellen an die angegriffene Ukraine geprägt, war doch zu „verhandeln“ statt Widerstand zu leisten, sollte die Bundesregierung offensiv deutlich machen, dass Waffenlieferungen und Verhandlungen sich mitnichten ausschließen.

Es ist aber das militärische Kräfteverhältnis, das über das Ergebnis etwaiger Verhandlungen, und zwar auf Augenhöhe, entscheiden wird. Das Kriegsziel des Aggressors hat sich seit Februar 2022 nicht geändert, denn nach wie vor geht es Präsident Putin um die Zerstörung der Ukraine als Staat und Nation. Solange die Ukraine nur die Wahl zwischen Vernichtung und Widerstand hat, sind Verhandlungsappelle gerade aus Deutschland zynisch.

Die umfangreichen Dokumentationen der Kriegsverbrechen, welche die Streitkräfte und andere bewaffnete Formationen der Russländischen Föderation in den okkupierten Gebieten begangen haben und weiterhin begehen, machen außerdem deutlich, dass ein Ende der Kampfhandlungen für die Menschen in diesen Regionen kein Ende von Terrors und Tod bedeuten würde.

Die Bundesregierung ist jetzt gefordert, der deutschen und internationalen Öffentlichkeit eine strategische Konzeption zur Beendigung des Angriffskriegs der Russländischen Föderation gegen die Ukraine und zur Überwindung seiner Folgen vorzulegen und zur Diskussion zu stellen. Der Deutsche Bundestag ist dafür das zuständige und politisch berufene Forum.

Franziska Davies, Otto Luchterhandt, Stefan Troebst, Andreas Umland

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