Richard von Weizsäcker: Der Streit über seine Rede zum Kriegsende - WELT
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Geschichte Richard von Weizsäcker

Nach seinem letzten Wort witterten die eigenen Leute Verrat

1985 nannte Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ – Konservative wie Franz Josef Strauß griffen ihn dafür scharf an. Doch den Kritikern waren die Widersprüche der Rede entgangen.
Textchef ICON / Welt am Sonntag
Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält seine vielbeachtete Rede im Bonner Bundestag am 8.5.1985 während der Feierstunde zum Ende des 2. Weltkrieges vor 40 Jahren. «Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung», sagte Weizsäcker 1985 in seiner viel beachteten Gedenkrede. Diese These wurde nach der Vereinigung Deutschland immer wieder in Frage gestellt - Ostdeutsche wollten das Leben im DDR-Unrechtsregime partout nicht als Befreiung dargestellt sehen. Foto: Egon Steiner dpa (zu dpa Themenpakt Kriegsende vom 27.04.2005) +++ dpa-Bildfunk +++ Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält seine vielbeachtete Rede im Bonner Bundestag am 8.5.1985 während der Feierstunde zum Ende des 2. Weltkrieges vor 40 Jahren. «Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung», sagte Weizsäcker 1985 in seiner viel beachteten Gedenkrede. Diese These wurde nach der Vereinigung Deutschland immer wieder in Frage gestellt - Ostdeutsche wollten das Leben im DDR-Unrechtsregime partout nicht als Befreiung dargestellt sehen. Foto: Egon Steiner dpa (zu dpa Themenpakt Kriegsende vom 27.04.2005) +++ dpa-Bildfunk +++
8. Mai 1985: Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920-2015) hält in Bonn seine Rede zu 40 Jahren Kriegsende
Quelle: picture-alliance/ dpa

Lange Texte haben es an sich, dass sich durch sie nur schlecht Empörung entfachen lässt. Während der Zuhörer oder Leser komplexere Zusammenhänge durchdringt, ist noch jeder cholerische Impuls verraucht, sodass für einen ordentlichen rhetorischen Krawall besser eine prägnante Formulierung hermuss. Was im Zeitalter der Dauerhysterie in sozialen Medien seine ultimative Bestätigung findet, galt bereits, als der Menschheit für eine geharnischte öffentliche Debatte nur Zeitungen, Radio und das Fernsehen zur Verfügung standen.

Deshalb war auch nach dem 8. Mai 1985 nicht etwa die vollständige Rede, die Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs hielt, Anlass für einen Streit, sondern nur ein einziger Satz: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Diese Worte lösten ein Beben aus, wie es kein Bundespräsident zuvor ausgelöst hatte.

Berlin, Mai 1945. 2. Weltkrieg / Kriegsende: – Ehemalige Offiziere der Deutschen Wehrmacht werden, vor ihrem Transport in die Gefangenschaft, von Angehörigen des Roten Kreuzes versorgt. (Im Hintergrund das Brandenburger Tor.) – Foto (Iwan Schagin), 2. Mai 1945.
Berlin, im Mai 1945: Die deutschen Soldaten auf dem Pariser Platz erlebten eine sehr schwierige Zeit
Quelle: picture alliance/ akg-images

Vor allem rechtskonservative Kreise wollten nicht mit dieser Aussage leben – und das nicht etwa, weil sie sich naturgemäß keinesfalls auf die 15 Millionen Brüder und Schwestern beziehen konnten, die hinter dem Eisernen Vorhang ihr Dasein fristeten. Nein, die Entrüstung wurzelte darin, dass da jemand die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches rhetorisch auf eine Weise wendete, die suggerierte, die Deutschen hätten den Besatzern womöglich dankbar zu sein; nicht nur, wer zu NS-Zeiten im Krieg gekämpft hatte, empfand das als oft genug als Verrat.

Umso mehr waren die rechten Kritiker vom Bundespräsidenten enttäuscht, als sie ihn als langjähriges CDU-Mitglied für unverdächtig hielten, eine Interpretation in diese Richtung überhaupt anzubringen. Noch dazu hatte Weizsäcker seinen Vater Ernst bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erfolgreich verteidigt – und der hatte immerhin zu NS-Zeiten als Topdiplomat im Außenministerium gearbeitet.

Ganz explizit beispielsweise nannte der hessische CDU-Mann Alfred Dregger die Deutung „einseitig“ – dies allerdings wohl auch als ehemaliges NSDAP-Mitglied und Bataillonskommandeur der Wehrmacht. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß wiederum, seinerseits nie um einen griffigen Spruch verlegen, richtete dem Bundespräsidenten aus, es sei geboten, die Vergangenheit, „in der Versenkung oder Versunkenheit“ verschwinden zu lassen: „Die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk!“

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So blieb es weitestgehend den Sozialdemokraten und den Grünen überlassen, den protokollarisch ersten Mann im Staat zu loben. Die Pointe bei all dem lag darin, dass weder die Rechten ihr Geheul hätten anstimmen müssen, noch die Linken einen realistischen Grund zu der Annahme hatten, Weizsäcker sei doch irgendwie einer von ihnen. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich bei der Rede um ein Stück Rhetorik, bei dem sich an zentralen Punkten einander widersprechende Passagen fanden.

Um seine Ausgangslage war der Bundespräsident nicht zu beneiden. 40 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes lebten in der Bundesrepublik einerseits noch viele Deutsche, die das nationalsozialistische Regime wie er aus eigener Anschauung kannten. Über sein persönliches Wirken in den Jahren der braunen Herrschaft klärte Weizsäcker seine Landsleute nie vollständig auf. Allgemein hatten die wenigsten Deutschen vor 1945 Distanz gehalten, was naturgemäß ein Gebäude aus Lügen und Euphemismen nach sich zog: Niemand konnte vor sich selbst und anderen als Weltverbrecher durchs Leben gehen.

Nicht besser machte die Angelegenheit, dass sich Mitte der 1980er-Jahre im rechten Spektrum generell Franz Josef Strauß’ Gedanke mehr Raum verschaffte, vier Jahrzehnte nach Kriegsende sei genug über deutsche Untaten gesprochen worden – der jüdische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki beispielsweise erlebte diese Jahre zumindest teilweise als „Ende der Schonzeit“. Auf der anderen Seite waren inzwischen diejenigen in Ämtern und Würden, die 1968 radikal gegen die Generation ihrer Väter zu Felde gezogen waren.

*25.05.1882-04.08.1951+ Diplomat, D. - als Angeklagter im sogenannten Wilhelmstrassen-Prozess mit seinem Sohn und Mitverteidiger, Richard von Weizsäcker - 1948
Der Sohn als Verteidiger: Richard von Weizsäcker mit seinem Vater Ernst (1885-1951) während der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse
Quelle: ullstein bild/ Poly-Press

Hier als Staatsoberhaupt überparteilich zu bleiben war weder möglich noch wünschenswert. Doch wie das Problem angehen? „Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“, stellte Weizsäcker gleich am Anfang klar; ein Beginn, der von Selbstvertrauen zeugte. Doch schon die rasch folgende Formulierung mit der „Befreiung“ versprach Aufschluss über die Schwierigkeiten, die der Bundespräsident zu bewältigen hatte.

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Liest man den Satz heute im Kontext, zeigt er den entscheidenden Zwiespalt, den Weizsäcker vorfand: Fest stand in der Bundesrepublik des Jahres 1985, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen war – wie sonst wäre eine Demokratie möglich geworden? Gleichzeitig bestand aber kein Zweifel, dass die allermeisten Zeitzeugen den Tag nicht als einen erlebt hatten, an dem ihnen die Besatzer ein Joch abgenommen hatten.

Ein großes Zugeständnis

Doch Weizsäcker beließ es nicht dabei, dies zu benennen. Vielmehr machte er seinen Landsleuten, die das Kriegsende erlebt hatten, ein großes Zugeständnis, wenn er ausführte: „Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“

Damit bediente der Bundespräsident nichts weniger als die beliebte Nachkriegserzählung, man habe von nichts gewusst und sei selbst Opfer von Hitler und seiner Verbrechertruppe geworden. Als passend erwies sich auch Weizsäckers Wortwahl, Deutschlands „Feinde“ hätten am 8. Mai gesiegt.

Lob der Frauen

Dies allerdings stand in einem deutlichen Widerspruch zu den Ausführungen, die das Staatsoberhaupt zum Holocaust folgen ließ. Hier benannte Weizsäcker sehr wohl, dass sich den Zeitgenossen vielleicht nicht das Ausmaß der Vernichtungspolitik habe erschließen können, die allein sechs Millionen Juden das Leben gekostet hatte. Doch habe jeder zu wissen vermocht, dass vor allem Juden schlimme Dinge angetan wurden, da dies im Alltag erlebbar gewesen sei. Wie angesichts dieser Tatsache „die meisten Deutschen“ hatten glauben können, „für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden“, erläuterte der Bundespräsident nicht.

Derselbe Punkt ließe sich auch in den Passagen zum Überfall auf die Sowjetunion anbringen. Weizsäcker schonte die Angehörigen der Wehrmacht keineswegs, sondern wies deutlich auf das Leid und die „Unzahl von Toten“ hin, die deutsche Soldaten zu verantworten hatten. Erneut lautet die Frage: Inmitten eines menschenverachtenden Angriffskriegs zu glauben, man kämpfe für die „gute Sache des eigenen Landes“ – wie soll das möglich sein?

Zur Rolle der Frauen in den Jahren des NS-Regimes stellte Weizsäcker fest, diese hätten die Hauptlast des Krieges und der Jahre nach dem Zusammenbruch auf ihren Schultern getragen. Richtig ist, dass viele Frauen ihre Männer im Krieg verloren hatten und der Wiederaufbau in der Figur der „Trümmerfrau“ ein Symbol erhielt. Doch das Staatsoberhaupt verschwieg, dass viele dieser Frauen ihrem Führer so euphorisch zugejubelt hatten wie die Männer. So blieben die Aufrufe zur Versöhnung und Eingeständnisse deutscher Schuld mit einigen Relativierungen behaftet.

Unbestreitbare Courage

Darüber hinaus sparte Weizsäcker eine zentrale Frage aus: Sie lautet, warum die Deutschen einer Verbrecherclique selbst dann noch gefolgt waren, als ihr Führer beschlossen hatte, dass dieses Volk seiner nicht würdig sei und sich deshalb selbst vernichten müsse. Denkbar wäre, dass die skizzierte Ausgangslage es 1985 einfach nicht zuließ, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Als Mann aus dem konservativen Spektrum hätte Weizsäcker damit wohl endgültig zu viele Leute aus dem eigenen politischen Lager zu sehr gegen sich aufgebracht.

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Die Beurteilung der Rede hängt somit davon ab, welche Aspekte man in den Vordergrund rückt; kohärent war das Deutungsangebot Weizsäckers nicht. Unbestreitbar aber bleibt seine Courage, sich als Staatsoberhaupt in einer so problematischen Situation überhaupt auf eine Interpretation einzulassen, die weit über Floskeln hinausging – und sei es um den Preis, einflussreiche Gruppen aus dem eigenen politischen Spektrum zu verstimmen.

Wie groß das Wagnis war, belegt der Artikel, den der Berliner Historiker Ernst Nolte gut ein Jahr später in der „Frankfurter Allgemeinen“ veröffentlichte: Unter dem Applaus rechter Kreise entwickelte er dort unter dem Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ jenen Relativismus, der nahelegte, beim Holocaust habe es sich lediglich um eine Reaktion auf die russische Revolution von 1917 gehandelt.

In den anschließenden Historikerstreit griff Richard von Weizsäcker nicht ein. Das tat auch nicht not: Am 8. Mai 1985 hatte er allen Bundesbürgern eine Möglichkeit eröffnet, sich gerade über die Widersprüche ins Benehmen zu setzen, die er aufgemacht hatte. Vorausgesetzt natürlich, dass sie sich auf die ganze Rede einließen – und sie nicht nur auf einen Satz reduzierten. Deshalb ist der 8. Mai 1985 in der Rückschau leider auch der Tag einer verpassten Chance.

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