Richard von Weizsäcker (†94) und die NS-Vergangenheit - WELT
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Weizsäckers Brüche stärkten seine Autorität

Richard von Weizsäcker im Januar 2013. Der Altbundespräsident wollte nie den „guten Deutschen“ spielen – seine moralische und intellektuelle Autorität gewann er auch dadurch, dass in seiner Person die Brüche der Geschichte sichtbar blieben Richard von Weizsäcker im Januar 2013. Der Altbundespräsident wollte nie den „guten Deutschen“ spielen – seine moralische und intellektuelle Autorität gewann er auch dadurch, dass in seiner Person die Brüche der Geschichte sichtbar blieben
Richard von Weizsäcker im Januar 2013. Der Altbundespräsident wollte nie den „guten Deutschen“ spielen – seine moralische und intellektuelle Autorität gewann er auch dadurch, dass ...in seiner Person die Brüche der Geschichte sichtbar blieben
Quelle: picture alliance / dpa
Richard von Weizsäcker spielte für das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik eine Schlüsselrolle. Gerade weil er nie frei von Widersprüchen war – was seine Rede zur NS-Vergangenheit zeigte.

Wie wohl kein anderer deutscher Politiker in höchsten Staatsämtern außer Willy Brandt verkörperte Richard von Weizsäcker in den Augen der Welt, und insbesondere der europäischen Nachbarvölker, die demokratische Wandlung und Läuterung Deutschlands nach dem Absturz in die nationalsozialistische Barbarei. Es war einer jener sprichwörtlichen deutschen Glücksfälle, dass er just in der Periode von Mauerfall und Wiedervereinigung als Bundespräsident die westdeutsche Demokratie repräsentierte.

Viel mehr noch als Kanzler Helmut Kohl (CDU) vermittelten seine Aura und sein integeres, feinfühliges Auftreten namentlich den osteuropäischen Nationen das Vertrauen darauf, dass von einem vereinigten Deutschland nicht nur keine Gefahr mehr ausgehe, sondern die deutsche Demokratie mittlerweile sogar an führender Stelle für die freiheitlichen Werte Europas einstehe.

Dieses Vertrauen basierte auch auf seinem Ruf, ein unabhängiger, undogmatischer Geist zu sein. Ihn hatte sich Weizsäcker nicht zuletzt durch seine – von der Mehrheitslinie seiner Partei, der CDU, abweichende – Haltung zu den sozialliberalen Ostverträgen erworben. Sein Eintreten für die Vertragswerke mit der Sowjetunion und vor allem mit Polen trug 1972 wesentlich dazu bei, dass sich die Unionsfraktion in Bundestag und Bundesrat nach langem, heftigem Widerstand bei der Abstimmung über deren Ratifizierung schließlich enthielt, sodass sie am Ende problemlos passieren konnten.

Der Präsident besiegelte den Paradigmenwechsel

Dem Nimbus des 1920 als Richard Freiherr von Weizsäcker geborenen promovierten Juristen als einer moralischen Instanz kam zugute, dass ihn die Öffentlichkeit nicht als „gewöhnlichen“ Politiker ansah. Mit seinem bildungsbürgerlich-feinsinnigen, von einem Anflug aristokratischen Gebarens imprägnierten Habitus – in dem freilich nicht wenige Züge des Hochmuts erkannten –, vermittelte er vielmehr den Eindruck, sich der Politik aus Pflichtgefühl für die Res publica zugewandt zu haben, sie aber als Brotberuf und Medium der Selbstbestätigung nicht zu benötigen.

Tatsächlich musste er von seiner Partei 1969 zur Kandidatur für den Bundestag regelrecht gedrängt werden. Zuvor hatte er bereits als Manager in der Industrie und als Präsident des Evangelischen Kirchentags bewiesen, dass er auch jenseits der Politik zu einer außerordentlichen Karriere fähig war.

Aristokrat und „Präsident aller Bürger“

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist tot. Er starb am Samstag im Alter von 94 Jahren in Berlin. Er war einer der prägenden Politiker der deutschen Nachkriegszeit.

Quelle: N24

Den Höhepunkt seines Ansehens erreichte Weizsäcker aber mit seiner Rede am 8. Mai 1985, in der er den Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches 40 Jahre zuvor einen „Tag der Befreiung“ nannte. So offensichtlich diese Wahrheit angesichts der Vernichtungs- und Versklavungspolitik des Nationalsozialismus auch scheinen mag, so wenig selbstverständlich war es bis dahin für einen deutschen Politiker gewesen, sie unverblümt auszusprechen.

Indem er dies in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag tat, besiegelte Weizsäcker einen Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Aufarbeitungsgeschichte des Dritten Reichs. Er erteilte damit gleichsam offiziell allen Versuchen eine endgültige Absage, die NS-Vergangenheit durch Verdrängen, Verleugnen oder ausweichendes Relativieren in den Griff zu bekommen. „Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“, sagte er.

Kohls Satz zur „Befreiung“ wurde kaum beachtet

Dass man sich der Verantwortung für die Hitler-Jahre durch intensives Erinnern zu stellen habe, wurde mit diesem Diktum gewissermaßen zur Staatsräson der deutschen Demokratie. Weizsäcker beglaubigte damit, dass inzwischen auch der Mainstream des demokratischen Konservatismus zu dem Schluss gekommen war, das Bekenntnis zur Aufarbeitung der Vergangenheit diene der Stärkung der deutschen Interessen und des wiedergewonnenen Selbstbewusstseins der Deutschen mehr als der vergebliche Versuch, sich distanzierend aus ihr herauszureden.

Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung
Helmut Kohl (CDU), Bundeskanzler, am 21. April 1985

Es ist freilich bezeichnend, dass die Öffentlichkeit allein Weizsäcker das Verdienst zusprach – und bis heute zuspricht –, dieser Haltung zum Durchbruch verholfen zu haben. Gut zwei Wochen vor dessen Rede zum 8. Mai hatte sie nämlich bereits Bundeskanzler Kohl in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen mit nahezu identischen Worten zum Ausdruck gebracht: „Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945“, erklärte Kohl in seiner Rede am 21. April 1985, „wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung.“

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Diese eindeutige Aussage wurde medial jedoch kaum zur Kenntnis genommen. So bildete sich die Legende heraus, Weizsäcker komme das Erstlingsrecht auf das Wort von der Befreiung zu. In dieser erstaunlichen Tatsache spiegelt sich eine strukturelle Voreingenommenheit: Weizsäcker galt im linken und linksliberalen Milieu gleichsam als der „gute“, geschichtlich gebildete und verantwortungsvolle Konservative, während Kohl als einfältiger Machtmensch ohne Sensibilität für die heiklen Fragen der Vergangenheit abgestempelt war.

Hatte Willy Brandt (SPD) den seltenen Typus des untadeligen deutschen Antifaschisten verkörpert, so bezog Weizsäcker seine Glaubwürdigkeit in Sachen Vergangenheitspolitik gerade daraus, dass er als junger Offizier Kriegsteilnehmer – in den Feldzügen gegen Polen und die Sowjetunion – gewesen und somit biografisch in das Geschehen unter der NS-Herrschaft verstrickt war. Umso höher wurde ihm die intellektuelle Anstrengung und moralische Gewissenhaftigkeit angerechnet, mit der er sich zu der Einsicht durchrang, dass nur die vollständige Kriegsniederlage den Deutschen eine neue Zukunft eröffnen konnte. Dabei traf er einen Tonfall, der auch jene ansprach und „mitnahm“, die im deutschen Untergang noch immer vor allem eine nationale Tragödie sahen.

Ein bisschen klang die entlastende Nachkriegslegende nach

Aus dieser Perspektive heraus vollzog Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai einen virtuosen Balanceakt zwischen der schonungslosen Benennung der NS-Verbrechen in ihren historisch einzigartigen Ausmaßen und der Würdigung des Leidens der Deutschen an der totalen Niederlage von 1945. Er löste dieses Spannungsverhältnis auf, indem er das deutsche Volk in die Reihe derer einschloss, die vom NS-Regime unterjocht worden waren: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Bonner Bundestag am 8. Mai 1985: Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner berühmtesten Rede
Bonner Bundestag am 8. Mai 1985: Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner berühmtesten Rede
Quelle: dpa

Gleichwohl vermied es Weizsäcker – der einigen Beteiligten am Attentat des 20. Juli nahe gestanden hatte, ohne sich selbst aktiv am Widerstand zu beteiligen –, die Deutschen etwa im Nachhinein auf die Seite der alliierten Sieger zu expedieren. Er verwies auf die zwiespältigen Gefühle, die der Zusammenbruch von 1945 bei ihnen ausgelöst hatte. „Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen“, erklärte er, „dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang.“ Wir hätten daher „wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen“, schränkte er ein. „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

Bei strenger Betrachtungsweise lassen sich in den fein geschliffenen Formulierungen Weizsäckers freilich Hintertüren erkennen, durch die man heiklen Fragen entkommen kann. So etwa der, ob es sich bei dem Nationalsozialismus tatsächlich nur um ein der deutschen Gesellschaft aufgepfropftes System gehandelt hatte oder ob Letzteres nicht zumindest zeitweise mit Ersterer eins geworden war.

Implizierte die Feststellung, das Kriegsende sei auch für die Deutschen eine Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewesen, nicht eine Beschönigung des Ausmaßes der Verankerung des NS-Regimes und seiner Ideologie im Wollen und Fühlen einer großen Mehrheit der Deutschen? Und wenn Weizsäcker feststellt, Hitler habe „das ganze Volk zum Werkzeug“ seines Judenhasses gemacht, klingt darin die von Schuld entlastende Nachkriegslegende nach, das deutsche Volk sei von dem Dämon Hitler zum Bösen verführt und missbraucht worden. Ausdrücklich stellte Weizsäcker allerdings klar, dass das Unglück, das viele Deutsche nach der Niederlage erfahren mussten, nicht von seiner eigentlichen Ursache abgelöst werden könne: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk
Richard von Weizsäcker, Bundespräsident, am 8. Mai 1985

In manchen Passagen jedoch klangen seine Ausführungen so, als ob das deutsche Volk zumindest ähnlich stark unter dem NS-System gelitten hätte wie jene, die Opfer seiner systematischen Ausrottungs- und Unterjochungspolitik geworden waren. So, als er ausführte: „Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk.“ Er stützte diese Feststellung auf Hitlers berüchtigte Aussage, das deutsche Volk habe, wenn es nicht siege, den Untergang verdient – woraus folgte, dass der „Führer“ die Politik der verbrannten Erde am Ende auch auf Deutschland selbst anwandte.

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Der enorme Eindruck, den die Rede zum 8. Mai im In- wie im Ausland machte, ließ in den Hintergrund geraten, dass Weizsäckers Umgang mit der deutschen Vergangenheit durchaus nicht immer und in allen Aspekten konsequent war. So blieb er gegenüber einer Problematisierung der Rolle seines Vaters Ernst von Weizsäcker als Staatssekretär im Auswärtigen Amt und damit als NS-Spitzendiplomat harthörig. Er wirkte damit der in den deutschen Nachkriegsjahren weitverbreiteten Legende zumindest nicht entgegen, man habe im Apparat der NS-Diktatur hohe Posten bekleiden und dabei doch „anständig bleiben“ können.

Richard von Weizsäcker hatte bei der Verteidigung seines Vaters assistiert, als dieser in Nürnberg als Kriegsverbrecher angeklagt und wegen seiner Mitwirkung bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. An seiner Ansicht, dieses Urteil sei „historisch und moralisch ungerecht“ gewesen, hielt Richard von Weizsäcker trotz neuer belastender Dokumente bis an sein Lebensende fest.

Solche Ambivalenzen konnten den überragenden Effekt der Botschaft, die seine Rede von 1985 nachhaltig aussandte, freilich nicht schmälern. Dass in der Person Weizsäckers auch unüberwindliche Aporien und Brüche der jüngeren deutschen Geschichte sichtbar blieben, stärkte sogar seine moralische und intellektuelle Autorität. Einen von allen Spuren der Vergangenheit gereinigten „guten Deutschen“ wollte er niemandem vorspielen. Und den hätte ihm auch keiner in der Welt abgenommen.

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