Sexuelle Belästigung: Roth und Schwarzer begrüßen Brüderle-Debatte - WELT
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Roth und Schwarzer begrüßen Brüderle-Debatte

Soll vor einem Jahr eine „Stern“-Reporterin bedrängt haben: FDP-Mann Rainer Brüderle Soll vor einem Jahr eine „Stern“-Reporterin bedrängt haben: FDP-Mann Rainer Brüderle
Soll vor einem Jahr eine „Stern“-Reporterin bedrängt haben: FDP-Mann Rainer Brüderle
Quelle: REUTERS/ROR/LIM/CVI
Ein Artikel über Zudringlichkeiten Rainer Brüderles hat eine Debatte über Sexismus ausgelöst. Besonders entschieden urteilen Alice Schwarzer und Claudia Roth. Die Bundesregierung hält sich bedeckt.

Der Artikel einer Journalistin über die Zudringlichkeit des den FDP-Politiker Rainer Brüderle entfesselt eine wilde Debatte über Sexismus: Längst geht es nicht mehr nur um den Spitzenpolitiker, der sich einer „Stern“-Redakteurin zufolge an sie rangemacht haben soll.

Immer mehr Journalistinnen meldeten sich einen Tag nach Erscheinen des Artikels zu Wort – Deutschlands bekannteste Feministin Alice Schwarzer und Tausende Twitter-Nutzer folgten. Es geht um Sexismus im Alltag.

Schwarzer bloggte: „Genug runtergeschluckt. Genug gelächelt. Jetzt wird es wieder ernst.“ Die Debatte um alltäglichen Sexismus sei in den 1990er Jahren verstummt, aber jetzt scheine die Schmerzgrenze überschritten. Mit dem „Stern“-Artikel sei zudem eine neue Qualität in der Diskussion um Sexismus entstanden: „Es ist neu, dass diese Art von sexistischem Verhalten nicht im besten Fall als peinlich abgetan, sondern als politisch gewertet wird. Dass es also einer der Faktoren ist, an denen wir messen müssen, ob dieser Mann geeignet ist für eine politische Spitzenposition.“

Porträt über Brüderle

Was war passiert? Am Donnerstag veröffentlichte der „Stern“ ein Porträt von Laura Himmelreich über den FDP-Fraktionschef Brüderle. Darin schildert sie eine Situation vor gut einem Jahr, in der der 67-Jährige auf ihre Brüste geschaut und gesagt haben soll: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“

Zudem soll er ihre Hand genommen, diese geküsst und im Verlauf des Gesprächs gesagt haben: „Politiker verfallen doch alle Journalistinnen.“ Mitte des Monats hatte bereits eine Autorin von „Spiegel Online“ über Diskriminierung im politischen Alltag der Piratenpartei berichtet.

Brüderle schwieg auch am Freitag zu den Vorwürfen. Dafür meldeten sich mehrere Politiker zu Wort, vor allem in der FDP wurde der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts kritisiert. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) griff das Magazin scharf an. „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung lässt nur einen Schluss zu: Dem 'Stern' geht es nur um seine Auflage“, sagte die FDP-Vizevorsitzende „Spiegel Online“.

Ähnlich äußerte sich die frühere Nachrichtensprecherin Wibke Bruhns. Sie unterstellte dem Magazin, „aus Kalkül“ gehandelt zu haben, „um Schlagzeilen zu machen“, wie sie im Interview des „Tagesspiegels“ sagte.

Viel Lob für Himmelreich

Himmelreich erntete zugleich von vielen Seiten Lob. Die Vorsitzende des Journalistinnenbunds, Andrea Ernst, sagte der Nachrichtenagentur dapd, dass der Artikel dazu beitrage, dass sich das Verhältnis zwischen traditionsreichen Parteien und Presse verändern werde.

„Denn allzu große Nähe, Anzüglichkeiten und Übergriffe werden öffentlich. Für die Altherrenrunden der politischen Macht ist das besonders schmerzlich. Sie müssen ab nun professionelle Distanz lernen“, betonte Ernst.

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Die Vorsitzende von ProQuote, Annette Bruhns, sagte dapd: „Viele Kolleginnen haben nur noch nicht über ihre eigenen Erfahrungen berichtet, weil sie nicht als weinerlich dastehen wollten.“

Weil hochrangige Politikerpositionen genau wie hochrangige Redaktionsposten überwiegend von Männern bekleidet seien, fühlten sich gerade junge Journalistinnen in solchen Situationen allein gelassen. „Sie reden über unangenehme Annäherungsversuche oftmals gar nicht, weil sie Angst um ihre Karriere haben“, ergänzte Bruhns.

„Unglaublich mutig“

Auch die Autorin Ursula Kosser sprang Himmelreich bei. „Es ist schlichtweg unfair, ihr vorzuwerfen, sie hätte das doch direkt vor einem Jahr machen können“, sagte sie im Deutschlandfunk. Dass sie sich entschlossen habe, die Geschichte jetzt zu schreiben, halte sie für „unglaublich mutig“, sagte Kosser. Die ehemalige Spiegel-Journalistin hatte im Jahr 2012 das Buch „Hammelsprünge“ veröffentlicht, in dem sie die Beziehung von Sex und Macht in der Bonner Republik schildert.

Grünen-Chefin Claudia Roth warnte vor einer Verharmlosung sexistischen Verhaltens. „Sexismus ist herabwürdigend, verletzend, diskriminierend und in keiner Form oder Ausprägung in Ordnung“, betonte sie. Die Debatte, die die beiden Magazine angestoßen hätten, sei „wichtig und längst überfällig“.

Sie zeige immer noch existierende Strukturen der täglichen Diskriminierung und dass viele Männer meinten, Sexismus sei eine Lappalie oder sogar ihr gutes Recht. Zugleich forderte sie die Einführung einer Frauenquote in Unternehmen, Medien und Parteien. Dies sei das beste Mittel, um verbohrten Machos Benehmen beizubringen.

Viele Frauen schon einmal sexuell belästigt

Eine Sprecherin des Familienministeriums nannte auf Nachfrage Zahlen aus einer Studie von 2004, wonach 58 Prozent der Frauen schon mindestens einmal sexuell belästigt wurden, 42 Prozent davon am Arbeitsplatz. Das Thema sei wichtig und dürfe nicht als Spartenproblem abgetan werden. Zum konkreten Vorwurf gegen Brüderle verfüge das Ministerium aber über zu wenige Informationen, um diesen beurteilen zu können.

Die Bundesregierung hält sich in der Debatte über Sexismus-Vorwürfe gegen Brüderle bedeckt. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Freitag, die Debatte um den Artikel betreffe „in keiner Weise die Arbeit der Bundesregierung“.

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Die Regierung arbeite mit dem FDP-Fraktionsvorsitzenden „gut zusammen“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ ihren Sprecher allerdings ausrichten, sie plädiere stets für einen professionellen und respektvollen Umgang miteinander, auch zwischen Politik und Medienvertretern. Dies halte sie auch selbst so.

Twittern über Belästigung

Der Artikel hat am Freitag gleichfalls eine enorme Bewegung im Online-Kurznachrichtendienst Twitter ausgelöst. In der Nacht zu Freitag wurde der Hashtag #aufschrei eingerichtet, seitdem tauschten mehr als 10.000 Twitter-Nutzer ihre Erfahrungen mit alltäglichem Sexismus aus.

Der Hashtag verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Eine der Initiatoren sagte dapd, sie sei „überwältigt von der Menge“ sei. Die 25 Jahre alte Studentin ergänzte: Ich hoffe, das Projekt entwickelt sich auf eine Weise, in der Interventionsmöglichkeiten sichtbar werden und nicht nur Übergriffe geteilt werden, sondern auch gelungene Reaktionen auf Übergriffe.

dapd/pku

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