Rainer Barzel: Der ehemalige CDU-Chef und Bundestagspräsident ist tot. Seine Tochter ging in den Freitod, er verlor zwei Ehefrauen. Doch sein Glaube blieb ungebrochen.

Hamburg. Vom "aufrechten Demokraten" ist nun die Rede, vom "Urgestein der bundesdeutschen Demokratie". Wie Rosen regnen Lobpreisungen auf den am Wochenende verstorbenen CDU-Politiker Rainer Barzel nieder.

Gewiss - der promovierte Jurist war 30 Jahre lang Mitglied des Bundestags gewesen, er war zweimal Minister, CDU-Vorsitzender, Unions-Fraktionschef, Bundestagspräsident, wurde beinahe gar Kanzler; sein scharfes Urteil war noch zuletzt mit 82 Jahren gefragt, er warnte vor Staatsverdrossenheit und mangelnder Glaubwürdigkeit seines Berufsstandes. Ein reiches, ausgefülltes Politikerleben also.

Und doch sollte man sich vielleicht in erster Linie an den Menschen Rainer Barzel erinnern. Daran, wie dieser Mann mit bewundernswerter Haltung sein Schicksal annahm, wie er an Verlusten, Niederlagen und am Leid wuchs, anstatt zu zerbrechen.

Es sei ein großer Gedanke, durch Leiden sich zu veredeln, aber ein ebenso trauriger, durch Leiden zu verwildern, hat der große Erzieher Pestalozzi gesagt. Barzel, der ehemalige Jesuitenschüler und gläubige Christ, fand auch Halt im Glauben, als sich 1977 seine einzige Tochter Claudia das Leben nahm. Als drei Jahre später seine Frau Kriemhild einem Krebsleiden erlag und als 1995 seine zweite Frau Helga Henselder aus der Familie des legendären Autofabrikanten Horch bei einem Autounfall starb. Erst im Winter seines Lebens sollte Barzel an der Seite der 23 Jahre jüngeren Regisseurin und Schauspielerin Ute Cremer ein spätes Glück finden.

Und im pestalozzischen Sinne verwilderte Barzel auch nicht, als er seine großen politischen Niederlagen erlitt. Unvergessen der Moment, als er am 27. April 1972 seinem politischen Gegner, Bundeskanzler Willy Brandt, die Hand reichte. Das Misstrauensvotum, das Barzel als Fraktionschef der Union gerade gegen Brandt organisiert hatte, war völlig überraschend gescheitert. Schnöde Bestechung hatte verhindert, dass der Christdemokrat sein Lebensziel erreichen konnte.

Dabei wäre Barzel, wie sein sozialdemokratischer Weggefährte und Freund Helmut Schmidt einmal sagte - mit dem er ab 1966 in der Großen Koalition eng kooperierte -, "eine ehrenhafte Alternative gewesen". Und wie Schmidt lag ihm Europa enorm am Herzen; noch an seinem 75. Geburtstag beteuerte der gebürtige Ostpreuße: "Mit mir wäre es in Europa besser gegangen."

Als Bundestagspräsident musste Barzel 1984 im Zuge der Flick-Affäre zurücktreten. Der Industrielle Flick hatte der Anwaltskanzlei, in der auch Barzel tätig war, 1,7 Millionen Mark überwiesen. Später, zu spät für seine Karriere, vermochte Barzel seine Unschuld zu beweisen.

Mit schneidender Kritik - auch an Partei-"Freunden" wie Helmut Kohl, dem er mangelnde geistige Führung vorwarf -, brillanter Rhetorik und salbungsvoll-öligem Tonfall hatte Rainer Candidus Barzel seine Karriere einst voller Kampfgeist begonnen. Am Ende, in bitterer Erfahrung gereift zum weisen Elder Statesman, dem auch der Krebs nicht die Würde nehmen konnte, hatte er keine Gegner mehr.