Schlüsselwörter

1 Einführung

Rücktritte können sehr viele unterschiedliche Gründe haben. Im politischen Alltagsverständnis wird gerne unterstellt, dass die Gründe für den Rücktritt eines Politikers oder einer Politikerin in der Regel nicht honorig sind. Dies mag in vielen Fällen auch zutreffen. Politikwissenschaftlich in besonderer Weise interessant sind daher gegenteilige Fälle, in denen die Gründe für den Rücktritt gerade umgekehrt ehrwürdig und statthaft sind. Dass es dafür empirisch betrachtet nur sehr wenige Einzelfälle gibt, macht es umso spannender, sich einem solchen Fall zuzuwenden. Der Rücktritt von Bundesinnenminister Rudolf Seiters am 4. Juli 1993 wird in der rückschauenden Betrachtung vielfach als eine solche Demission bewertet, die aus politischer Verantwortung für das bekleidete Amt resultierte (vgl. Kronenberg 2017, S. 37–51, S. 45). Grund genug, diesen Rücktritt zum Gegenstand einer umfassenden Einzelfallbetrachtung zu machen.

Die folgenden Ausführungen beginnen zunächst mit einigen grundsätzlichen Reflexionen zu den Kategorien Amtsethos und Amtswürde, wobei u. a. an die theoretischen Überlegungen von Max Weber, Wilhelm Hennis und Peter Graf Kielmansegg angeknüpft wird (Abschn. 2). Im Anschluss daran wird der Fall Rudolf Seiters genauer unter die Lupe genommen: Die Analyse beginnt mit einem kompakten Überblick über die politische Vita Seiters’ (Abschn. 3.1), fährt mit einer Schilderung der Umstände fort, die zum Rücktritt führten (Abschn. 3.2) und setzt sich mit der Rücktrittsbegründung und den auf diese folgenden Reaktionen auseinander (Abschn. 3.3). Danach sollen einige Aspekte des Rücktritts entlang folgender Leitfragen beleuchtet werden: Was waren Umstände, Ursache und Anlass des Rücktritts? Gibt es mehrere Rücktrittgründe und wenn ja, lässt sich ein primärer Rücktrittsgrund angeben? Lässt sich der Rücktritt mit den Kategorien erfolgreich/nicht erfolgreich bzw. gelungen/nicht gelungen erfassen? Hätte der Rücktritt in irgendeiner Form vermieden werden können? Wie hat der Rücktritt die nachfolgende Laufbahn des/der Zurückgetretenen beeinflusst? (Abschn. 4). Der Beitrag schließt mit einigen konkludierenden Bemerkungen (Abschn. 5).

2 Amtsethos und Amtswürde

Max Weber hat in seiner berühmten Schrift „Politik als Beruf“, die aus guten Gründen als „Evergreen“ (Patzelt und Edinger 2011, S. 9) der politischen Soziologie gelten darf, neben vielen weiteren einflussreichen Aspekten auch die Frage aufgeworfen, welche charakterlichen Dispositionen ein Politiker haben sollte, um in einer modernen Massendemokratie eine echte Führungspersönlichkeit sein zu können. Seine viel zitierte Antwort auf diese Frage lautet: „Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ (Weber 1968, S. 51) Neben dem unabdingbaren Machtinstinkt, ohne den kein Politiker reüssieren kann, soll sich der Politiker Webers Auffassung zufolge leidenschaftlich im Dienst am Gemeinwohl engagieren, zugleich diese emotionale Hingabe aber durch das notwendige Augenmaß, d. h. mit innerer Sammlung und Ruhe einhegen, da nur so politisch verantwortliches Handeln möglich ist. Gleichzeitig ist aber die Verantwortlichkeit des gewählten Politikers eine andere als diejenige des Beamten, wie Weber an anderer Stelle im gleichen Text ausführt: „Der echte Beamte […] soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben, sondern: ‚verwalten‘, unparteiisch vor allem […]. Sine ira et studio, ‚ohne Zorn und Eingenommenheit‘ soll er seines Amtes walten. Er hat also gerade das nicht zu tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie die Gefolgschaft, immer und notwendig tun muß: kämpfen. Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers.“ (Weber 1968, S. 27–28) In einer parlamentarischen Demokratie ist es demnach auch und gerade Aufgabe von (Berufs-)Politikern, die Kontroverse zu suchen und den Streit in die politische Auseinandersetzung hineinzutragen, sich gegen die politische Konkurrenz zu profilieren und für die eigene Sache und den eigenen Machterhalt zu kämpfen.

Aus diesen und anderen Überlegungen aus Webers für das Staats- und Demokratiedenken in Deutschland sowohl in der Politikwissenschaft wie auch in der Jurisprudenz und Philosophie ungemein einflussreicher Herrschaftssoziologie folgt für den Berufspolitiker im Ministerrang eine durchaus widersprüchliche Amtsverantwortung: Einerseits ist er dem allen partikularen Interessen übergeordneten Gemeinwohl verpflichtet, andererseits muss er für die von ihm als richtig erkannten politischen Ziele aktiv gegen Widerstände kämpfen. Eben aus dieser Dichotomie erwächst das spezifische Amtscharisma des Berufspolitikers.

Dieses Amtscharisma wird eingehegt durch die Bindung von Amtsträgern an ein institutionelles Ethos (vgl. von Blumenthal 2001, S. 22–25). Das Amtsprinzip selbst ist wesentlich älter als die moderne Demokratie: Seine Wurzeln liegen in der altrömischen Republik. Es materialisierte sich dort beispielsweise in den beiden Prinzipien der Annuität und der Kollegialität, nach denen die Vergabepraxis der römischen Spitzenämter organisiert war. Darüber hinaus existiert es auch außerhalb der modernen Demokratie, beispielsweise in der katholischen Kirche. Das Amtsprinzip ist insbesondere für die repräsentativ verfasste liberale Demokratie ein wesentliches Bindeglied, da ohne dieses weder Rechtsstaatlichkeit noch Gewaltenteilung geschweige denn eine effektive Grundrechtsgeltung durchgesetzt werden können (vgl. Isensee 2009, S. 311). Insbesondere Wilhelm Hennis hat die grundlegende Bedeutung des Amts als conditio sine qua non der Repräsentativdemokratie betont. In seinen Augen liegt die zentrale Begründung dafür, dass die Demokratie zum Kanon der guten Staatsformen zu zählen ist, darin, dass Herrschaftsgewalt als Amtsgewalt institutionalisiert wird: „Alle herrschaftliche politische Gewalt [ist] Amtsgewalt.“ (Hennis 2000, S. 128)

Neben Hennis‘ Postulat des Zusammengehens von Demokratie und Amtsprinzip hat Peter Graf Kielmansegg die Bedeutung des Berufspolitikers als an Verantwortung gebundener Amtsträger in seiner Habilitationsschrift von 1977 und in seinem späteren, daran anknüpfenden Aufsatz „Die Quadratur des Zirkels“ (1985, S. 9–42) für die Politikwissenschaft einschlägig herausgearbeitet. Ausgehend von der Überlegung, wie Herrschaft von Menschen über Menschen in einem Zeitalter nach religiösen und metaphysischen Begründungen gerechtfertigt werden kann, kommt der Instanz des Amtsträgers als demokratisch gewählter und unter dem Diktat periodischer Abberufbarkeit stehender Person die entscheidende Funktion zu, da sich nur in dieser Amtsperson politische Verantwortlichkeit materialisieren kann. Die Ausübung von Macht wird nur zeitlich begrenzt übertragen, sie ist durch einen Zweck legitimiert und ihre Ausübung unterliegt der Rechenschaftspflicht gegenüber denjenigen, die die Macht übertragen haben. Für Kielmansegg ist es weder das Prinzip der Volkssouveränität noch der Souverän selbst, aus dem sich normativ fundierte demokratische Herrschaft legitimiert, sondern allein die über das Amtsprinzip und das Amtsethos vermittelte institutionelle Ordnung. In Anlehnung an Immanuel Kants berühmte Zweck-Mittel-Formulierung als eine von fünf Varianten des kategorischen Imperativs verdichtet Kielmansegg die Quintessenz dieses Gedankens: „Legitim ist der Staat, […] der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt.“ (1977, S. 258) Im Lichte dieser ideentheoretischen Überlegungen gilt es im Folgenden, den Rücktritt von Rudolf Seiters zu beleuchten.

3 Der Fall Seiters

3.1 Die politische Vita von Rudolf Seiters vor seinem Rücktritt

Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) zählte zum Zeitpunkt seines Rücktritts am 4. Juli 1993 bereits „zu den politischen Urgesteinen des Bundestages.“ (Beucker und Überall 2011, S. 81) Seine Biografin, die Journalistin Ulrike Berg, zeichnet das Bild vom „stillen Macher“ und schließt damit an viele journalistische Urteile über Seiters an, die ihn schon zeitgenössisch als fleißigen und kompetenten Politiker beschrieben, der unauffällig und pragmatisch agierte, dabei ebenso integrativ wie gelegentlich profillos wirkte und die Strippen der Macht am liebsten im Hintergrund zog (vgl. Berg 2002). Der 1937 in Osnabrück geborene katholische Niedersachse war bereits 1958 noch vor dem Abitur in die CDU eingetreten und gleich nach seinem zweiten juristischen Staatsexamen und einer kurzen Zeit als Regierungsassessor beim Regierungspräsidenten von Osnabrück im Alter von 31 Jahren 1969 in den Deutschen Bundestag gewählt worden (vgl. Kabel 2001, S. 662–666). Der ehrgeizige und fleißige junge Jurist machte in der Fraktion schnell Karriere. Bereits nach zwei Jahren wurde der Parlamentsneuling Parlamentarischer Geschäftsführer beim damaligen Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU). Nachdem er im Zuge des Wechsels von Barzel zu Helmut Kohl (CDU) diesen Posten 1976 wieder räumen musste, übernahm er ihn nach dem Bonner Machtwechsel von 1982 erneut.

Diese langjährigen parlamentarischen Erfahrungen kamen ihm zu Gute, als er am 21. April 1989 – also ein halbes Jahr vor dem damals noch nicht absehbaren Mauerfall – von Helmut Kohl im Zuge einer Kabinettsumbildung als Nachfolger von Wolfgang Schäuble zum Bundesminister für besondere Aufgaben und zum Chef des Bundeskanzleramts ernannt wurde. In dieser Funktion kam ihm nicht nur eine zentrale Rolle bei der Koordination von Kohls Regierungspolitik zu. Da zum Jobprofil jener Tage auch die Pflege der Kontakte zur DDR gehörte, wurde Rudolf Seiters im Zuge der sich überstürzenden Ereignisse in der untergehenden DDR zu einer Schlüsselfigur im Einheitsprozess. Seiters stand mit auf dem Balkon der Prager Botschaft, als Hans-Dietrich Genscher (FDP) den dort kampierenden Ausreisewilligen die erlösende Nachricht aus Bonn verkündete und er war es auch, der im Deutschen Bundestag die Nachricht von Schabowskis Pressekonferenz und den Ereignissen in Berlin am 9. November 1989 bekanntgab. Seiters war an der Entstehung des 10-Punkte-Plans ebenso beteiligt wie an den Verhandlungen zum Einheitsvertrag. Der Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ tagte unter seinem Vorsitz. Auch nach Abschluss der Verhandlungen fiel die Vollendung der Deutschen Einheit in seinen Zuständigkeitsbereich als Kanzleramtsminister und er blieb mit dieser Aufgabe bis zum November 1991 betraut, als Kohl ihn zum Bundesminister des Inneren ernannte. Ein weiteres Mal folgte er damit auf Wolfgang Schäuble, der aus dem Kabinett in das Amt des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag wechselte.

3.2 Der Rücktritt

Wesentliche Schwerpunkte von Seiters’ Amtszeit als Innenminister waren die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst, die Organisation des Umzugs wesentlicher Teile der Bundesregierung von Bonn nach Berlin, der Kampf gegen den wiedererstarkten Rechtsextremismus und die Neuregelung des Asylrechts. Die von ihm vorgeschlagene Drittstaatenlösung, die eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich machte, wurde nach zähen Verhandlungen Anfang 1993 vom Bundestag verabschiedet. Pascal Beucker und Frank Überall (vgl. 2011, S. 81) berichten, dass Seiters’ politische Gegner seine Amtsführung generell als „zu weich“ kritisierten und dass er das politische Handeln in zu vielen Bereichen anderen überlasse. Als Beispiel nennen sie die Verhandlungen zum Asylkompromiss, in die sich Wolfgang Schäuble wohl viel intensiver einbrachte als sein Amtsnachfolger Seiters.

Ungeachtet dessen saß Rudolf Seiters mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung in leitenden Legislativ- und Exekutivfunktionen der Bonner Republik als bundesdeutscher Innenminister Ende Juni 1993 fest im Sattel. Michael Philipps Einschätzung zufolge war Seiters zum Zeitpunkt unmittelbar vor den Ereignissen, die zu seinem Rücktritt führten, in einer unumstrittenen Stellung und genoss das Vertrauen seiner Fraktion ebenso wie die Unterstützung von Bundeskanzler Helmut Kohl (Vgl. Philipp 2007, S. 129). Wohl niemand hätte mit einem baldigen Rücktritt gerechnet, wenn nicht ein unvorhergesehenes Ereignis die Dinge ins Rollen gebracht hätte:

Im Landkreis Nordwestmecklenburg direkt am Schweriner See liegt das kleine Dorf Bad Kleinen. Dort kam es am Sonntag, dem 27. Juni 1993 zu einem polizeilichen und geheimdienstlichen Anti-Terror-Einsatz gegen Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF). Bei der Festnahme der mutmaßlichen Terroristen starben zwei Menschen: der Michael Newrzella, Beamter bei der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9), und das RAF-Mitglied Wolfgang Grams. Der Grenzschützer wurde durch Grams erschossen. Grams selbst wurde wiederum im Bahnhofstunnel gestellt und wenig später auf den Bahngleisen mit vier Kugeln getötet, wovon eine oberhalb seiner rechten Schläfe einschlug (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 82). Was als einer der schwärzesten Tage in die Vita von Rudolf Seiters eingehen sollte, sah zunächst nach einem großen Erfolg aus, wie es Ulrike Berg (2002, S. 178) beschreibt: „Es ist der letzte große Schlag gegen die RAF. Zwei langgesuchte Terroristen können endlich dingfest gemacht werden. Doch es wird zu einem Schlag ins Wasser.“

Die Vorgänge besaßen aus sich heraus betrachtet schon eine enorme politische Sprengkraft, bedenkt man das grundsätzliche Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, Terrorismus und Gefahrenabwehr in einer liberalen Demokratie sowie die besondere Rolle, die gerade die RAF für die politische Kultur und in den politisch-gesellschaftlichen Debatten der Bonner Republik spielte. Es kam noch hinzu, dass bereits sehr schnell Zweifel an der Planung und Durchführung dieser Aktion aufkamen, die durch eine mangelhafte Aufklärung noch zusätzlich befeuert wurden. Die Medienberichterstattung der folgenden Tage war für die verantwortlichen Behörden und vor allem für Seiters als letztverantwortlichem Bundesinnenminister desaströs. Die Nachfragen begannen schon beim Kräfteverhältnis der beteiligten Akteure: 54 Grenzschutz- und Polizeibeamten standen zwei Terroristen gegenüber. Untersuchungen wurden bereits am Freitag nach der Tat eingeleitet (vgl. o. V. 1993a). Sehr früh wurde bekannt, dass sich die Angaben zum konkreten Tatverlauf unter den Beteiligten widersprachen und mehrfach kurzfristig verändert wurden. Die Pistolen wurden entgegen dienstlicher Vorschriften nicht überprüft und zu schnell geputzt, sodass keine Beweise mehr sichergestellt werden konnten. Bei der Spurensicherung vor Ort wurde ebenfalls nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen, da man noch einige Tage später diverse Patronenhülsen am Tatort finden konnte (vgl. Berg 2002, S. 178–179). Alle diese Aspekte wurden vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages thematisiert. Rudolf Seiters und Generalbundesanwalt Alexander von Stahl konnten keine zufriedenstellenden Antworten liefern. Der offiziell dem Justizministerium unterstehende von Stahl sah die Hauptschuld in erster Linie bei der GSG 9 und beim Bundeskriminalamt, die beide dem Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums und damit letzten Endes Seiters oblagen (Philipp 2007, S. 127).

Eine besondere Rolle in der medialen Berichterstattung spielte eine Titelgeschichte des Spiegel. Das Cover der am 5. Juli 1993 erschienenen Ausgabe zeigte Wolfgang Grams‘ Gesicht mit einem großen Fadenkreuz darüber und der Schlagzeile „Der Todesschuß. Versagen der Terrorfahnder“. Der zugehörige Artikel war überschrieben mit den Worten „Tötung wie eine Exekution“ (o. V. 1993b). In dem Artikel wurde ein anonymer Augenzeuge zitiert, der als Antiterrorspezialist bezeichnet wurde, und der sich nach Darstellung des Artikels wegen eigener Gewissensbisse dem Spiegel offenbart habe. Er wurde mit den Worten zitiert: „Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution.“ Zudem wurde in dem Artikel insinuiert, Seiters habe sich unpassender Weise über die Aktion gefreut: „Der blutige Shoot-out auf dem Bahnhof ist dramatischer Höhepunkt einer Fahndungsaktion, die Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) wenig später als ‚wichtigen Erfolg‘ feiert.“ (o. V. 1993b) Mittlerweile wurde in der juristischen Aufarbeitung der Vorgänge von mehreren Gerichten bestätigt, dass sich Wolfgang Grams, bereits schwer verletzt auf den Gleisen liegend, mit dem letzten Schuss selbst getötet habe und nicht von der GSG 9 exekutiert wurde. Die Schweriner Staatsanwaltschaft hat inzwischen alle Verfahren gegen die am Einsatz beteiligten Kräfte eingestellt, ohne dass es zu einer Verurteilung gekommen wäre. Damit gilt die Hinrichtungs-These heute als widerlegt (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 83). Auf Initiative Alexander von Stahls Ende 2018 hat der Spiegel viele Jahre später eine Untersuchungskommission eingesetzt, die die Entstehungsgeschichte des damaligen Textes umfassend untersucht hat. Diese kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass „der SPIEGEL mit der Berichterstattung über die Abläufe in Bad Kleinen auf Basis einer mangelhaft geprüften und falschen Aussage einen journalistischen Fehler begangen hat.“ (Fehrle et al. 2020)

Diese Zusammenhänge böten Stoff für eine eigene mediengeschichtliche Untersuchung. Für den hier zu analysierenden Rücktritt Seiters’ hingegen ist vor allem die öffentliche Wirkung dieser Berichterstattung von Bedeutung, die einen enormen Druck erzeugte. Der Vorwurf der Lynchjustiz stand im Raum. Michael Philipps (vgl. 2007, S. 129) Recherchen zufolge erfuhr Seiters bereits am Samstagabend von der geplanten Titelstory des Spiegel, die erst am darauffolgenden Montag erscheinen sollte. Dass es letzten Endes die Berichterstattung des Spiegel und des ARD-Magazins Monitor waren, die Seiters zu seinem Entschluss bewegten, hat er Jahre später dem Journalisten Moritz Küpper gegenüber bestätigt. Noch im Anschluss an die freitägliche Ausschusssitzung sei er „nach Hause gefahren, ohne an Rücktritt zu denken.“ Auch wenn er an die Vorwürfe einer im Raum stehende staatlichen Exekution nicht habe glauben können, wollte er in dieser „aufgeheizten Situation […] das Signal aussenden, dass unabhängig von Amt und Person aufgeklärt wird.“ Zudem sei ihm klar gewesen, dass das FDP-geführte Justizministerium dem ihm unterstehenden Alexander von Stahl den Rücken stärken und die Verantwortung Seiters als Innenminister zuweisen würde: „Das hätte zu einem Hin- und Herschieben von Verantwortung geführt. Ich wäre sicher im Amt geblieben, wenn ich die Chance gesehen hätte, innerhalb von zwei Wochen alle Umstände aufzuklären. Aber in der Abwägung war das andere wichtiger und richtiger.“ (Küpper 2017, S. 68–69) So setzte er bereits am frühen Sonntag Bundeskanzler Helmut Kohl von seinem Entschluss, zurückzutreten, in Kenntnis. Helmut Kohl lehnte den Rücktritt zunächst ab und versuchte, Seiters davon zu überzeugen, im Amt zu bleiben. Doch Seiters blieb hart und Kohl musste den Entschluss schließlich widerwillig akzeptieren (vgl. Philipp 2007, S. 129; Berg 2002, S. 183). Noch am gleichen Tag schuf Seiters Fakten, trat in Bonn vor die Presse und verkündete seinen Rücktritt als Bundesinnenminister, noch bevor der Spiegel an die Kioske ausgeliefert wurde.

3.3 Die Rücktrittsbegründung und die Reaktionen

Seiters wies gleich zu Beginn seiner Rücktrittserklärung auf den Zusammenhang mit den offensichtlichen „Fehler[n], Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel[n]“ sowohl in der Durchführung als auch in der Aufarbeitung des Polizeieinsatzes hin. Daraufhin stellte er einen Bezug zur ministeriellen Verantwortung her: „Es gibt in Deutschland zu Recht den Begriff der politischen Verantwortung. Wer soll diese politische Verantwortung übernehmen, wenn nicht ein Minister?“ Unmittelbar auf diesen Hinweis zur Amtsverantwortung stellte er für sich selbst jedoch klar: „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Ich hatte weder falsche Entscheidungen getroffen noch der Öffentlichkeit oder dem Parlament Informationen vorenthalten, sondern im Gegenteil Anordnungen getroffen, die alle das Ziel hatten, eine lückenlose Aufklärung ohne Ansehen von Amt und Personen herbeizuführen.“ Er wolle aber sich und seiner Familie unwürdige Verantwortungsdiskussionen, vor allem um die Frage, wer an seinem Amt klebe, ersparen: „Deswegen trete ich zurück – ohne Bitterkeit, zumal ich mit gutem Gewissen auf meine Arbeit als Bundesinnenminister zurückblicken kann.“ Seine Erklärung schloss mit dem Dank an den Bundeskanzler für das in ihn gesetzte Vertrauen. Dieser sei über den Entschluss informiert und habe diesen nach anfänglicher Ablehnung letzten Endes akzeptiert (vgl. o. V. 1993).

In dieser Rücktrittserklärung finden sich gängige Elemente, die auch für andere Rücktrittsreden charakteristisch sind, so etwa der Verweis auf die Amtsverantwortung, die wichtiger sei als die Person und der Schutz der Familie. Bemerkenswert ist die Trennung zwischen persönlicher Verantwortung und Amtsverantwortung. Nicht von ungefähr hat Michael Philipp die zentrale Wendung „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen…“ als Überschrift für seine Monografie über Rücktritte gewählt. Weder die Opposition noch die kritischen Medien hatten mit diesem Schritt gerechnet, weshalb die Überraschung und die Anerkennung umso größer ausfiel (vgl. Kronenberg 2017, S. 45). Ulrike Berg zitiert einige der auf den Rücktritt folgenden Schlagzeilen: Die Bild titelte „Rücktritt! Respekt, Minister Seiters“, der Bonner General-Anzeiger schrieb vom „Rücktritt eines Unschuldigen“ und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung schrieb in großen Lettern über Seiters: „Ein Ehrenmann“ (zit. nach: Berg 2002, S. 184). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte, die Form des Rücktritts habe den „politischen Stil und [das] Amtsverständnis“ von Seiters gekennzeichnet. Ohne allzu großen publizistischen Aufwand und ohne Vorwürfe gegen Dritte habe er für sich persönlich Konsequenzen gezogen: „Seiters blieb mehr er selbst als andere Politiker in Bonn.“ (Bannas 1993) Auch die Süddeutsche Zeitung schrieb von einem „ehrenwerte[n] Rücktritt“. Seiters wurde hier als „Opfer von Pannen, Fehlern und Vertuschungen“ portraitiert: „Es kann nicht ausreichen, daß der politisch verantwortliche Minister geht, die wahrhaft Schuldigen aber im Amt bleiben.“ (Schröter 1993) Selbst aus der Bonner Opposition waren allenthalben Respektsbekundungen zu hören: Der Vorsitzende des Innenausschusses, Hans-Gottfried Benrath (SPD), attestierte Seiters einen ehrenvollen Rücktritt (vgl. Berg 2002, S. 185), die Grüne Antje Vollmer bekundete „großen Respekt“ (zit. nach: ebd.).

4 Analyse

Unterzieht man diesen Rücktritt einer grundsätzlichen Analyse, so ist stets die für die Interpretation historischer Ereignisse wichtige Unterscheidung zwischen Ursache und Anlass hilfreich. Mit dem Anlass wird in der Regel ein singuläres, klar zu identifizierendes Geschehnis bezeichnet, das zu einer spezifischen Konsequenz führt. Mit Ursache wird demgegenüber auf zumeist vielschichtige, heterogene und zeitlich weiter zurückreichende Umstände abgestellt, die einem Ereignis zu Grunde liegen. Als konkreter Anlass für den Rücktritt im vorliegenden Fall sind eindeutig die unglücklichen Umstände rund um den Einsatz von Bad Kleinen zu nennen. Der interessante Befund zum Rücktritt von Rudolf Seiters lautet, dass es im Grunde die Ursache nicht gibt bzw. sie als identisch mit dem Anlass zu bezeichnen wäre. Wie gesehen gab es bis zu den Geschehnissen in Bad Kleinen keinerlei Anzeichen, die auf eine bevorstehende Demission des Ministers hingedeutet hätten. Seiters war skandalfrei, für einen Bundesinnenminister in seinen inhaltlichen Positionen und persönlichen Profilierung vergleichsweise unumstritten, weitestgehend frei von Kontroversen, nicht erkrankt und er ließ keinerlei Anzeichen von Amtsmüdigkeit erkennen. Hätten sich die Ereignisse rund um Bad Kleinen, die ja vollkommen kontingent waren, so nicht zugetragen, wäre Seiters mit großer Wahrscheinlichkeit noch mindestens bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt geblieben. In gleicher Weise lässt sich auch die Frage, ob es einen oder möglicherweise mehrere Rücktrittsgründe gab, klar beantworten: Es lag eindeutig nur ein singulärer Rücktrittsgrund vor. Seiters war weder innerhalb der Regierung oder in der eigenen Partei noch beim politischen Gegner besonders umstritten und es lassen sich neben der politischen Verantwortungsübernahme für den Einsatz in Bad Kleinen keine weiteren Aspekte angeben, die für den Rücktritt eine Rolle gespielt hätten.

Eindeutig bejaht werden muss aus diesem Grund auch die Frage, ob der Rücktritt hätte vermieden werden können. Selbstverständlich kann dieser Befund wissenschaftstheoretisch betrachtet nicht mit harten empirischen Fakten untermauert werden. Aber mit einer plausiblen Spekulation lässt sich durchaus eine begründete Einschätzung formulieren. Laut einer Umfrage des Focus in den Folgetagen unmittelbar nach dem Rücktritt erachtete auch eine Mehrheit der Deutschen den Rücktritt als nicht erforderlich, nur etwa ein Drittel der Befragten äußerten Verständnis für den Rücktritt, mehr als die Hälfte gaben an, der Rücktritt habe nicht sein müssen (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 83). Nicht nur zeitgenössisch, auch in der rückschauenden Betrachtung fällt u. a. Volker Kronenberg (2017, S. 45) dazu ein klares Urteil: „Mancher Rücktritt hätte nicht sein müssen, sachlich nicht, politisch nicht, und erfolgte doch – beispielsweise von Rudolf Seiters 1993“. Seiters’ Parteifreund Wolfgang Schäuble beurteilt die Umstände des Rücktritts ebenfalls in der späteren Rückschau bei der Seiters-Biografin Ulrike Berg folgendermaßen: „Er hat mit dem ihm eigenen strengen Anspruch an politische Verantwortung diese nach der komplizierten Geschichte von Bad Kleinen übernommen. Schade ist, dass er ein guter Innenminister war und er wäre auch ein guter Innenminister geblieben.“ (Wolfgang Schäuble zit. nach: Berg 2002, S. 185) Auf diese Weise drückte Schäuble zwar einerseits die Wertschätzung für Seiters aus – zwischen den Zeilen lässt sich aber durchaus herauslesen, dass Schäuble die innere Konsequenz des Rücktritts für übertrieben hielt und ebenfalls den Rücktritt nicht unbedingt für notwendig gehalten hätte. Hätte Seiters unbedingt an seinem Amt festhalten wollen, so wäre dies nach Lage der Dinge ohne große Friktionen möglich gewesen. Es hätte mit Sicherheit in den Folgemonaten eine zähe, und vielleicht auch unwürdige Hängepartie in der Aufarbeitung zwischen Innen- und Justizministerium gegeben. Seiters hätte auch nicht so umfassende Würdigungen erhalten, wie diejenigen für seinen Rücktritt, sondern wäre von der Öffentlichkeit deutlich kritischer betrachtet worden. Auf den Rückhalt von Bundeskanzler Kohl, der den Rücktritt zunächst nicht akzeptieren wollte, hätte sich Seiters definitiv verlassen können. Insofern hätte er bildlich gesprochen durchaus mit politisch nicht mehr ganz weißer Weste, aber nicht irreparabel beschädigt sein Amt weiter ausüben können.

Dass er sich jedoch aus innerer Überzeugung anders entschieden hat, führt zur nächsten Frage danach, ob der Rücktritt mit den Kategorien erfolgreich/nicht erfolgreich bzw. gelungen/nicht gelungen erfasst werden kann. Der Rücktritt kostete Seiters zwar ein wichtiges politisches Amt, hatte aber mit Blick auf seine persönliche Integrität kathartische Wirkung. Ein durch die Ereignisse von Bad Kleinen angeschlagener und unter massiven Beschuss geratener Minister wurde durch den Rücktritt zu einem verantwortungsbewussten Diener des Volkes, dem die Sache wichtiger war als die eigene Macht. Der Rücktritt wurde politisch und medial ausgesprochen positiv rezipiert – als pflichtethisches Handeln der Würde des Amtes angemessen. Seiters wurde als Amtsträger wahrgenommen, der die politische Verantwortung für ein operatives Fehlverhalten übernahm, das er nicht verschuldet hatte. Damit ist sein Rücktritt geradezu der ebenso seltene wie paradigmatische Fall eines erfolgreichen Rücktritts – und zwar durch den Rücktrittsgrund der Übernahme von politischer Verantwortung.

Dies ist auch der Grund dafür, dass der Rücktritt die nachfolgende Karriere und erst recht den Nachruhm von Rudolf Seiters positiv beeinflusste. Zwar war seine Karriere als absoluter Spitzenpolitiker auf Exekutivebene beendet. Dennoch fiel er vergleichsweise weich und bekleidete in Partei, Parlament und Zivilgesellschaft weiterhin wichtige Ämter. Er blieb bis 1998 ungeachtet des Rücktritts Mitglied im Bundesvorstand der CDU. Von 1994 bis 1998 amtierte er als stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion und war zwischen 1998 und 2002 in der Zeit der ersten rot-grünen Bundesregierung erster Vizepräsident des Deutschen Bundestages und hatte damit immerhin eines der sehr wenigen Ämter inne, die der Union in Oppositionszeiten zur Verfügung standen. Zwischen 2003 und 2017 engagierte er sich zivilgesellschaftlich im Präsidentenamt des Deutschen Roten Kreuzes und erhielt bis heute verschiedene Orden und Ehrendoktorwürden. Insgesamt kann man also nicht von einem abrupten Karriereende sprechen.

Mehr noch als für die weitere politische Laufbahn spielte der Rücktritt für den Nachruhm von Rudolf Seiters eine besondere Rolle. Seine Demission nimmt bis heute einen ganz wesentlichen Raum in der Gesamtbeurteilung seiner politischen Vita ein. Die Wertschätzung dafür wird ihm nicht nur aus den Kreisen der eigenen Partei, sondern auch vom politischen Gegner zu Teil. So führte Wolfgang Thierse (SPD) später der Seiters-Biografin Ulrike Berg gegenüber aus: „Er hat etwas Unerhörtes vollbracht: Zurückzutreten, wegen eines Vorgangs, für den er persönlich und unmittelbar gar nicht verantwortlich war.“ (Wolfgang Thierse zit. nach: Berg 2002, S. 185) Auch die grüne Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer (zit. nach: Berg 2002, S. 185), die sich in den 1980er-Jahren in vielerlei parlamentarischen Wortgefechten mit Seiters befunden hatte, sprach später von „großem Respekt“, die sie für den Schritt habe und lobte die „starke Souveränität und Klarheit“ der Entscheidung. Unter dem Strich wird man sagen können, dass Seiters‘ Geschichtsbild ganz maßgeblich durch die Art und die Umstände seines Rücktritts geprägt ist.

5 Fazit

Nicht zuletzt, weil Anlass und Umstände des Rücktritts für die Gesamtbewertung der politischen Vita des Zurückgetretenen eine so entscheidende Rolle spielen, ist dieser Fall für die Rücktrittsforschung besonders interessant. Aus heutiger Perspektive – nicht zuletzt im Lichte der Untersuchungen und der eindeutigen kritischen Stellungnahme des Spiegel zu seiner eigenen damaligen Berichterstattung, die ja erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde – ist Seiters für diesen Schritt durchaus Respekt zu zollen. Viele Politikerinnen und Politiker geben zwar in ihren Rücktrittserklärungen an, dass sie Schaden vom Amt abwenden wollen und sich im Dienste des Gemeinwohls zurücknehmen. Oftmals sind dies Floskeln, die einer wirklichen Substanz entbehren. Aber im Falle von Rudolf Seiters sind es eben keine leeren Formeln, sondern sie treffen den Kern dessen, worum es geht und unterstreichen seine persönliche Authentizität und Integrität.

Es gibt allerdings auf der anderen Seite keinen Grund, Seiters’ Rücktritt zu überhöhen. Interessant ist in diesem Fall das Urteil seiner Biografin, die schreibt: „Doch Seiters’ Rücktritt ist kein Akt, der zum Schulterklopfen Anlass gibt. Er ist definitiv auch das Eingestehen einer Niederlage.“ (Berg 2002, S. 186) Möglicherweise wirkt Seiters‘ Rücktritt nur so groß, weil dieser Fall, dass ein Minister oder eine Ministerin für Vorgänge die politische Verantwortung übernimmt, auf die die Betroffenen selbst keinen unmittelbaren persönlichen Einfluss hatten, so selten vorkommt. Unter allen Ministerinnen- und Ministerrücktritten seit 1990 kommen auf Bundesebene im Grunde nur die beiden Fälle von CDU-Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) 1993 im Zusammenhang mit den gegen einen Parlamentsbeschlusses gelieferten Panzern an die Türkei (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 84–86) sowie der von Arbeitsminister Franz Josef Jung (CDU) in Frage, der im November 2009 seinen Hut wegen Vorgängen in Afghanistan aus seiner Zeit als Verteidigungsminister im September 2009 nehmen musste (vgl. Grosch 2017, S. 221–229). Bis heute scheint sich die Lage so darzustellen, dass beide Minister persönlich keine Kenntnis von den Vorgängen hatten, die zu den Demissionen führten, aber die politische Verantwortung übernehmen mussten. Dass nur Jung, Stoltenberg und eben Seiters aus den dargelegten Gründen zurückgetreten sind, zeigt eben, wie selten dergleichen Vorgänge in der von Macht und Machterhalt dominierten Spitzenpolitik sind.

Diese Rücktritte dokumentieren, dass Webers Überlegungen zwischen Politiker und Beamten keine leere Theorie sind. Ministerinnen und Minister sind und bleiben neben partikularen Interessen einem übergeordneten Gemeinwohl verpflichtet. Das Amtscharisma des Berufspolitikers ist mit einem institutionellen Ethos verknüpft. Nur durch dieses Amtsprinzip kann die repräsentative Demokratie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Nur wenn Macht ganz im Sinne Kielmanseggs durch einen Zweck legitimiert ist und einer Rechenschaftspflicht unterliegt, kann sich die repräsentative Demokratie im nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeitalter selbst rechtfertigen. Daher kann man aus einem Rücktritt wie dem von Seiters auch jenen von Jung und Stoltenberg zwei Schlüsse ziehen, einen zynischen oder einen verhalten optimistischen: Entweder man stellt sich auf den Standpunkt, dass man diese Fälle ausgesprochenen Seltenheitswert haben und gerade weil man sie schon mit der Lupe suchen muss, sie eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Oder man sieht allein die Tatsache, dass es diese Form von Rücktritten gibt, als Zierde der Demokratie an und als Ausweis der demokratischen Qualität eines Gemeinwesens. Welchen Schluss die geneigte Leserin bzw. der geneigte Leser dieses Aufsatzes zieht, bleibt ihr bzw. ihm am Ende selbst überlassen.