Kritik zu Precious – Das Leben ist kostbar | epd Film

Kritik zu Precious – Das Leben ist kostbar

© 20th Century Fox

Die Verfilmung des Schockromans »Push« zeigt die Entwicklung eines von Vater und Mutter vergewaltigten und schulisch zurückgebliebenen Mädchens zu einer selbstständig handelnden jungen Mutter

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Ihr heruntergekommenes Zuhause in Harlem ist die Hölle auf Erden. Mit diabolischer Boshaftigkeit schikaniert Mary Jones ihre Tochter Claireece, genannt Precious. Die 16-Jährige muss alle Arbeiten im Haushalt verrichten und Geld vom Sozialamt beschaffen, während die verwahrloste Mutter in der düsteren Wohnstube keifend und kettenrauchend vor dem Fernseher hockt. Unter ihrem Terrorregime bleibt für die Schulbildung wenig Zeit, Precious ist Analphabetin. Seit frühester Kindheit regelmäßig von ihrem Vater vergewaltigt, ist Precious bereits mit dem zweiten Kind schwanger von ihm; das erste bekam sie mit zwölf. Bevor der Vater die Familie verließ, steckte er seine Tochter mit dem HIV-Virus an.

Die Vorlage für dieses Schreckensszenario lieferte der Bestseller »Push« (1996) von Sapphire. Die Autorin lässt Precious darin selber ihre Geschichte erzählen, in der ihr eigenen restringierten Ausdrucksweise: »Mama steht das Maul offen, wie beim bösen Wolf. Stinkt schlimmer als auf dem Klo.« Mit obszöner Sprache und pornografischer Direktheit wird der sexuelle Missbrauch durch den Vater geschildert. Die Buchautorin rührt an Tabus, wenn sie deutlich macht, dass das Kind den Geschlechtsverkehr nicht nur quälend, sondern gleichzeitig lustvoll empfindet. »Ich habe versucht, sexuellen Missbrauch komplex und aufrichtig darzustellen, nicht die übliche Schwarz-Weiß-Malerei«, erklärt Sapphire. »Der menschliche Körper reagiert auf Berührungen, und auf eine Art empfindet Precious die Vergewaltigungen lustvoll.«

Sapphire, die mit bürgerlichem Namen Ramona Lofton heißt und 1950 in Kalifornien geboren wurde, weiß, wovon sie schreibt. Ihre Mutter verfiel dem Alkohol, der Vater hat sie misshandelt, ihr obdachloser Bruder wird umgebracht. Als Sapphire 1977 mittellos nach New York zieht, schlägt sie sich zunächst als Stripperin und Prostituierte durch. Später arbeitet sie als Sozialhelferin, dann mehrere Jahre als Lehrerin für analphabetische Kinder. »Ich hatte eine Schülerin – sie diente zum Teil als Vorbild für meine Hauptfigur –, die hatte nicht nur HIV, sie hatte schon AIDS entwickelt. Mit zwölf bekam sie ein Kind vom Vater, daraufhin arbeitete sie als Kinderprostituierte und wurde drogensüchtig. Sie bekam noch zwei Kinder, inszwischen ist sie gestorben. So sieht das wirkliche Leben aus.«

Derart krasses Elend lässt sich kaum im Kino vermarkten, und auch die Drastik der Romanvorlage wurde für den Film verringert. So wird die Vergewaltigung durch den Vater nur kurz und stilisiert angedeutet, das erste Kind ist keine Missgeburt. Mehrfach werden visuell effektvoll inszenierte bunte Fantasievorstellungen von Precious gezeigt, in denen sie ihrem tristen Dasein kurzzeitig entflieht. In diesen bunten Bildern, vergleichbar mit den Gesangs- und Tanzsequenzen im Hindi-Kino, imaginiert sich der Teenager als Fashionmodel oder Discoqueen und turtelt mit ihrem Traummann. Trotz ihrer extremen Fettleibigkeit wird die Hauptfigur nie lächerlich gemacht, der Debütschauspielerin Gabourey Sidibe gelingt es, ihre Rolle mit menschlicher Würde auszustatten und Empathie beim Zuschauer zu evozieren. Die erfahrene Film-,TV- und Bühnenentertainerin Mo'Nique bietet in der Rolle der Mutter eine erschütternde Vorstellung als Furie in Menschengestalt. Während ihres Monologs bei einer Sozialarbeiterin (verblüffend bodenständig und verhalten verkörpert von Popstar Mariah Carey) bringt sie emotional anrührend und eindringlich menschliche Abgründe zum Ausdruck – eine schauspielerische Meisterleistung. Charakterlich differenziert ist auch die Darstellung der Nebenrollen von Precious' Mitschülerinnen.

Trotz ihrer Handycaps, ihrer Traumata, ihrer scheinbar aussichtslosen Lage resigniert Precious nicht, sie kämpft tapfer um ihre Identität, gegen die Zerstörung ihrer Persönlichkeit. Sie kann sich behaupten, gewinnt Selbsterkenntnis sowie Achtung vor sich und von anderen. Sie lernt lesen und schreiben unter einfühlsamer, aber energischer Anleitung einer Hilfsschullehrerin. Am Ende gelingt es Precious, ihr Leben selbst in die Hand zunehmen – ein Vorbild für andere unterprivilegierte Jugendliche, sich persönlich weiterzuentwickeln.

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