Plastic Bag | Kritik | Film | critic.de

Plastic Bag – Kritik

Die Welt aus der Sicht einer Plastiktüte. Ein Meisterwerk in 18 Minuten.

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Langsam umkreist er sie, tanzt mit ihr, ohne sie zu berühren, dreht sich dabei um sich selbst. Ein scheues Balz-Ballett zweier Verliebter vor dem ersten Kuss. Dann endlich treffen sie zusammen, berühren einander. Er schmiegt sich an sie, aus zwei wird eins, von nun an bewegen sie sich in völligem Einklang fort. Der Romantik dieser wunderbar zärtlichen Liebesszene ist kaum zu entrinnen – sie bindet den Zuschauer emotional ein, lässt ihn mit den Protagonisten fühlen: den zwei Plastiktüten.

Es ist schon allerhand, was Ramin Bahrani in seinem Kurzfilm Plastic Bag (2009; der vollständige Film auf Youtube) mit dem Publikum anstellt. Der amerikanisch-iranische Independent-Regisseur (Man push cart, 2005; Um jeden Preis (At any price), 2012) bringt einen tatsächlich dazu, mit einer Plastiktüte zu leiden, um sie zu weinen. Zwar sorgte schon in American Beauty (1999) eine Plastiktüte für einen der emotionalen Höhepunkte, doch letztlich ging es dabei um zwei Menschen, die sich beim Betrachten der fliegenden Tragetasche näher kommen.

Jenseits des Menschen

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Bahrani hingegen macht Schluss mit dem Anthropozentrismus, bei ihm steht die beseelte Plastiktüte allein im Mittelpunkt. Die Menschen im Film sind stets nur unscharf oder ohne Gesicht zu sehen – und zwar nicht zufällig meist aus Untersichten. Denn dass die Einsamkeit der Plastiktüte so berührt, mag daran liegen, dass sie uns in eine ganz bestimmte Perspektive versetzt, nämlich die eines Tieres. Die Parallelen sind unübersehbar: Anfangs ist der Tragebeutel ein ständiger Begleiter seiner Besitzerin („meine Schöpferin“). Treu wie ein Hund folgt er ihr überall hin, auch wenn er nicht versteht, warum sie etwas tut. Doch bald schon, nachdem der Zauber des Anfangs sich aufgelöst hat, wird die Tüte zum selbstverständlichen, kaum noch wahrgenommenen Objekt. „Sie verbrachte immer weniger Zeit mit mir“, stellt die Tasche einmal betrübt fest. Traurig hängt sie im Regal und wirkt dabei fast wie ein einsames Haustier, das den ganzen Tag auf die Heimkehr seines Besitzers wartet. Aus der gegenseitigen Liebe entsteht eine einseitige Abhängigkeit.

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Schließlich ereilt die Tüte ein ähnliches Schicksal, wie es gerade in Ferienzeiten immer wieder Haustiere erfahren: Sie wird ausgesetzt. Nicht auf einem Rastplatz, sondern einer Müllhalde. Sie hat ihre Funktion – die Bereicherung des menschlichen Alltags – erfüllt und überdauert. Ein Selbstzweck steht ihr nicht zu. Verzweifelt macht sich die Tasche auf die Suche nach derjenigen, die sie verstoßen hat. Das Stück Plastik fliegt quer durch amerikanische Natur- und Kulturlandschaften: Felder, Wälder, Straßen, Gleisbetten und leere, verfallende Gebäude.

Auf der Suche nach dem Rest Müll

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In einem dieser Gebäude gelingt Bahranis Stammkameramann Michael Simmonds ein schöner Trick. Wir sehen, wie die Plastiktüte von oben in Richtung einer Pfütze hinabschwebt, bemerken aber erst, als sich auf dem Wasser kleine Wellen bilden, dass die Kamera nicht direkt auf den Beutel blickt, sondern nach unten auf die glasklare Reflexion der Tasche im Wasser.

Wasser spielt überhaupt eine entscheidende Rolle in diesem Kurzfilm. Als der Kunststoff-Protagonist die Suche nach seiner ehemaligen Besitzerin endlich aufgibt, macht er sich auf den Weg zum Pacific Vortex – einem unter Plastiktüten sagenumwobenen Paradies mitten im Ozean, wo sich Millionen von leeren Tragetaschen und Flaschen treffen. Diesem Wink mit dem ökologischen Zaunpfahl lässt Plastic Bag Unterwasser-Bilder und Zeitrafferszenen folgen, und in einer amüsanten visuellen Assoziation setzt Bahrani Plastiktüten per Parallelmontage mit Quallen gleich.

Hier, unter Wasser, entfaltet der Film seine Kraft erst so richtig. Die einfache, aber effektive Piano-Begleitung von Kjartan Sveinsson changiert zwischen kontemplativ, traurig und vorwärtsdrängend – ihre Stimmungslage korrespondiert dabei erst in zweiter Linie mit den Bildern. Determiniert wird sie viel mehr vom Voice-over-Kommentar der Plastiktüte, gesprochen von Werner Herzog.

Sätze, die ins Herz treffen

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Bei den Monologen des Tragebeutels wird eines deutlich: An Ramin Bahrani ist ein Schriftsteller verloren gegangen. Mit welch scheinbar müheloser Pointiertheit er quasi im Minutentakt mitten ins Herz treffende, existenzielle Sätze aus dem Ärmel schüttelt, ist schon eine Wucht. Wenn die Plastiktüte über Metaphysik sinniert („Existiert meine Schöpferin oder habe ich sie im Geist erschaffen?“), den Schmerz des Seins reflektiert („Warum sind meine Momente der Freude so kurz?“) oder leicht wehmütig an aufgegebene Hoffnungen und Träume zurückdenkt („Ich frage mich, wo diese Teile von mir jetzt wohl sind“), übernimmt sie doch einmal eine eindeutig menschliche Perspektive. Um dann postwendend zur zentralen Qual einer mit Bewusstsein ausgestatteten Kunststofftasche zurückzukehren: „Ich wünschte, ich wäre so geschaffen, dass ich sterben kann.“ Wenn Leben immer auch Leiden bedeutet, ist der Protagonist dieses Films zum ewigen Leiden verdammt.

Für all das – philosophisches Meditieren, eine berührende Parabel über die Sicht der Tiere auf Menschen, politische Fingerzeige, überraschende visuelle Einfälle und eine geradezu literarische Färbung des Mediums Film – braucht Bahrani nur 18 Minuten. Im Kopf bleibt der Film jedoch ungefähr so lang, wie eine Plastiktüte existiert.

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