Die Wirkung von Farben im Film? Keine Ahnung, aber davon viel!

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Leider zu oft ein unbekannter Nebendarsteller: Farben im Film | © 3D-Grafik: Pavel Sokolov

In nahezu allen Disziplinen des Marketings ist eine sorgfältige Evaluation der eingesetzten Farbwelten unverzichtbar. Nur in Auftragsproduktionen geht die Mehrzahl der Macher bei der Farbgestaltung mit der Wirkung von Farben im Film um, als wären sie Steinzeitmenschen. Farbtöne und Farbwelten werden gewählt, weil sie „schön“ sind oder „stimmig“ scheinen. Damit wird unnötig Potenzial verspielt. Dieser Artikel erklärt, warum.

Der allererste Farbfilm der Filmgeschichte entstand 1902. Er zeigt die Kinder des Fotografen Edward Turner, die um ein Goldfischglas sitzen. Weit über hundert Jahre sind seither vergangen. Trotzdem wird die Farbwirkung in der Farbgestaltung beim Imagefilm, Produktvideos und in Werbespots – und nicht nur da – hartnäckig ignoriert. Statt wissenschaftliche Erkenntnis bei der Farbwahl zu berücksichtigen, dominiert bei der Wahl der Farbtöne das Bauchgefühl der Regie.

Eine professionelle Nutzung der Farbwirkung für Bewegtbild baut auf drei Stufen auf. Sie setzt Kenntnisse der Wirkung (dieser Artikel) und der Bedeutung der Farben voraus und definiert auf dieser Basis das Farbkonzept.

  • Farbwirkung
  • Farbbedeutung
  • Farbkonzept

Grafik 1: Aufbau der Artikel-Serie von Filmpuls zur Farbanwendung in Videos

Farbgestaltung und Wirkung von Farben

Die Forschung der letzten Jahrzehnte in den Disziplinen Wahrnehmung und Psychologie zeigt überdeutlich, dass die Wirkung von Farben weit mehr ist, als nur ein physikalisches Nischen-Phänomen. Ihre emotionale Wirkung ist derjenigen von Musik ebenbürtig.

Farbtöne und Filme haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Beide können ohne Licht nicht existieren.

Bereits in den Fünfzigerjahren hat die amerikanische Verpackungsindustrie kommuniziert, dass die Decodierung von Farben auch durch soziale Positionierungen und kulturelle Faktoren bedingt ist. Violett etwa gilt für die Farbgestaltung auf dem englischen Markt in allen Gesellschaftsstufen als Synonym für Luxus und Qualität. In China und Taiwan dagegen steht diese Farbe für das exakte Gegenteil.

Farbwirkung: Beispiele aus Wissenschaft und Praxis

Eine falsche Farbwahl bei Videos besitzt das Potenzial, visuelle Kommunikation zur visuellen Komplikation zu machen.

Wie wirken Farben im Film?

  • Für 92 % aller Menschen in der westlichen Welt spielt die Kolorierung gemäß einer Studie aus dem Jahr 2004 beim Kaufentscheid eine wichtige Rolle.
  • 84 % aller Menschen geben an, dass die Farbe für sie eines der wichtigsten Kaufargumente ist. 6 % der Bevölkerung geben an, der Tastsinn sei das ausschlaggebende Kriterium für den Kaufentscheid, 1 % nennt den Gehör- und Geruchssinn als entscheidungsrelevant. (Musikstücke und Parfüm natürlich ausgenommen).
  • Wissenschaftler (Kim/Moon, Bagchi/Cheema, 2013) haben bewiesen, dass Farbgebung auf das Kaufverhalten in einer direkten Wechselbeziehung steht
  • Eine Studie von Roullet (2006) beweist, dass die Wirkung von Farben auf den Kaufanreiz von Frauen markant stärker ist, als dies bei Männern der Fall ist.
  • Google hat auf Zufallsbasis 50 leicht unterschiedliche Blautöne bei kommerziellen Links getestet. Dabei wurde die Häufigkeit der Klicks auf die kommerziellen Links gemessen. An einer öffentlichen Konferenz (Quelle: Guardian, 2013) wurde das Resultat kommuniziert: die Evaluation und die anschließende Umstellung auf ein neues, unaufdringliches Blau bei der Farbgestaltung führte zu einer Gewinnsteigerung von 200 Millionen USD.
  • In einer wissenschaftlichen Studie wurde zu Testzwecken ein identisches Waschmittel an drei Testgruppen ausgeliefert: entweder mit gelben, roten oder blauen Farbpigmenten angereichert, die labortechnisch bestätigt keinerlei Auswirkung auf den Waschgang hatten. Der dutzendfach unter Aufsicht wiederholte Test zeigte immer das identische Resultat: Gelb wusch aus Sicht der Testpersonen „nicht gut“. Rot beschädigte nach Aussage der Probanden die Wäsche sogar. Mit Blau wurde die Wäsche „am saubersten“ (Quelle: Grossman/Wisenblit, 2001).

Je weniger Differenzierungsmerkmale das Produkt hat und je geringer die vorbestehende Bindung des Zielpublikums an das Produkt ausfällt, desto wichtiger wird die Farbwirkung. Dies gilt ganz besonders dann, wenn der Kaufentscheid in kürzester Zeit fallen muss – in einem TV-Spot keine unübliche Kundenvorgabe.

Wie individuell ist die Farbwahrnehmung?

Nicht jeder Mensch nimmt Farbtöne in einem Video identisch wahr. Darin liegt der Grund, warum bis heute unbekannt ist, welche Anzahl an Farbnuancen ein Mensch überhaupt wahrnehmen kann. Dies macht den Umgang mit der Farbwirkung im Film anspruchsvoll – ändert aber an der Wichtigkeit um das Bewusstsein der Farbwirkung nichts.

Wahrnehmungsforscher (Welsch/Liebmann, 2003) gehen seit mehr als einem Jahrzehnt davon aus, dass der Mensch in der Alltagswahrnehmung mindestens vierzig Prozent (!) aller visuellen Informationen durch Farben entschlüsselt. Dies belegt die Wichtigkeit einer professionellen Farbgestaltung auch für Maßnahmen mit Bewegtbild.

Weibliche Farbtöne?

Die Medizin weiß heute, dass rund 10 % der Männer und 50 % der Frauen nicht mit den üblichen drei Fotorezeptoren geboren werden, sondern über vier Rezeptoren für die Farbwahrnehmung verfügen. Diese Menschen sehen andere Farbwerte und nehmen insbesondere Nuancen der Farbtöne Gelb, Orange und Rot anders wahr, als es ihre Mitmenschen tun.

Kurze Studien über die dramaturgische oder ästhetische Bedeutung der Farben existieren. Ein Standardwerk fehlt leider bis heute.

Was ist Farbe?

Für Physiker sind Farben einfacher zu entschlüsseln als für die Psychologie der Wahrnehmung: Farben sind Licht, das vom Auge wahrgenommen wird. Licht besteht aus elektromagnetisch erzeugten Wellen, die entweder gefiltert oder reflektiert werden. Mit dem Auge erkennbar sind „nur“ Wellenlängen zwischen 380 und 780 Nanometer. Bestimmt wird ein Farbton mit drei Elementen: Farbton, Helligkeit und Sättigung.

Profi-Tipp

Anders als in der Realität oder im Theater durchläuft die Farbwahrnehmung bei Bewegtbild zusätzlichen, dem Auge vorgeschalteten, Filterstufen. Bildaufnahmegeräte, Komprimierung der Daten, Color Grading und Konfiguration der Wiedergabegeräte können die Wahrnehmung bedingt durch Videotechnik bei der Aufnahme oder Nachbearbeitung ungewollt verändern.

Technische Messungen der Farbwerte belegen, dass die Farbwerte eines fertigen Films oder Videos sich sogar bei identischen Endgeräten (TV, Tablets, Smartphones) enorm unterscheiden können. Dies ungeachtet von den bei der Aufnahme kontrollierten physikalischen Parametern wie Lichtstärke und Farbtemperatur.

Storytelling mit Farben im Spielfilm

In Victor Flemmings Spielfilm-Klassiker The Wizard of Oz (1939) tritt Dorothy mit ihrem Hündchen Toto im buchstäblichen Sinne durch eine Türe in die Welt von Technicolor. Etwas später, verwirrt, überwältigt und verängstigt von der Vielfalt und Buntheit dieser Welt und von all dem, was damit einhergeht, wünscht sich Dorothy in die schwarz-weiße Vergangenheit von Kansas zurück.

Inspirierende Kinofilme, bei denen Farbgestaltung und insbesondere die Farbwahl und Farbwirkung eine starke dramaturgische Komponente für das Storytelling innehaben:

Spielfilme (Auswahl)

  • Hero; Regisseur: Zhang Yimous
  • Vertigo; Alfred Hitchcock
  • Trois Couleurs: Bleu / Banc/ Rouge; Kristof Kieslowski
  • Memento; Christopher Nolan
  • Hable Con Ella; Pedro Almodovar
  • Tuvalu; Veit Helmer
  • Delictatessen; Marc Caro und Jean-Pierre Jeunet

Natürlich muss jeder Filmemacher selbst entscheiden, ob man es wie Judy Garland im Spielfilm Wizard of Oz halten will, und sich lieber an einer zweifarbigen Welt ohne Farbpsychologie orientiert. Man verpasst damit keine Chance. Sondern ganz viele.

Farbkonzept für Videos

Siehe dazu den Artikel (folgt)

Gibt es Farben, die man für die Farbgestaltung lizenzieren muss?

Die Wichtigkeit der Wirkung von Farben, gerade auch in Bezug auf Marken und auf Produktwelten, führt dazu, dass immer mehr Konzerne versuchen, von ihnen im Rahmen der Farbgestaltung ihrer Produkte verwendete Farbtöne juristisch schützen zu lassen.

Die Marke Christian Louboutin hat in der Vergangenheit schon mehrfach versucht, die roten Sohlen ihrer gleichnamigen Schuhe als Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch zu nehmen und die Verwendung der Farbe Rot ihren Mitbewerbern zu untersagen. Sie hat darum unter anderem gegen YSL und Zara Rechtsprozesse geführt – bis heute erfolglos. Farbtöne, gleich wie Buchstäben oder Wörter, sollen in den Augen der Richter nach der aktuellen europäischen Rechtsprechung für jedermann frei verfügbar bleiben.

Farbgestaltung in Auftragsproduktionen

Seltsamerweise wird beim Auftragsfilm über nahezu alles diskutiert und gesprochen. Außer über Risiken und über Farbgestaltung. Ein Corporate Design Manual ersetzt für das Storytelling in Videos keine Farbdramaturgie. Ein in den Augen eines Kreativen gerade als cool geltender Look ist kein Farbkonzept für Imagefilme oder Werbefilme.

Farben und ihre Wirkung dürfen für Auftragsproduktionen bei der Farbgestaltung nicht dem Zufall überlassen werden. Um das Potenzial zu illustrieren, das sich aus einem bewussten Umgang mit der Farbwirkung für die Bewegtbildkommunikation ergibt, lohnt sich der Blick über den Tellerrand hinaus: Procter & Gamble hatte vor sechzig Jahren die Idee, ihrem unspektakulär weißen Waschpulver zur Umsatzsteigerung wirkungslose Farbstückchen beizumischen.

Intelligente und wirkungsstarke Rezepte für den Einsatz von Farbtypen durch Videoproduktionen müssen gezielt und individuell erstellt werden. Sie verhalten sich wie maßgeschneiderte Schuhe: Ihr Besteller geht darin wie auf Wolken. Aber am falschen Fuß getragen, entstehen Blasen.

Farbwirkung und Farbgestaltung zusammengefasst

Farbe und Film können ohne Licht nicht existieren. Die Wirkung von Farbe ist in Videos direkt mit den Emotionen gekoppelt.

Learnings zur Farbwirkung

  • Wie der Mensch Farbtöne sieht, ist individuell. Das gilt auch für die Wahrnehmung von Farben im Film. Sie wirken darum unterschiedlich. Sowohl bei Einzelpersonen, als auch für kulturell unterschiedliche Gruppen oder Geschlechter. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten, die in einem Konzept abgebildet werden können.
  • Trotz kultureller und spezifischer Codes, die in Videos nie vernachlässigt werden dürfen, zeigt die empirische Arbeit bei der Farbwahl für Videos gute Ergebnisse.
  • Die Farbwahl ist (noch) keine wissenschaftlich präzise Arbeit, da sie weiterhin Gegenstand der Forschung ist. Unbestritten aber ist der Einfluss der Kolorierung auf das Seherlebnis als Stimulator bei der Konsumation von Videos.
  • Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass der Mensch über 40 % der visuellen Information über die Farben entschlüsselt. Anders gewendet: Die Farbgestaltung spielt im Spielfilm wie auch in Videos beim Hervorrufen von Gefühlen eine emotional tragende Rolle.
  • Wo sich Dinge und Menschen nicht durch andere Faktoren unterscheiden, kommt der Farbwirkung im Film eine tragende Funktion zu.

Wirkung von Farben im Film: Literatur und Links

Studien und Bücher zum Thema Farbwirkung (Auswahl)
  • Farben: Natur, Technik, Kunst; Welsch/Liebmann, 2003
  • Color, die Farben des Films; Gert Koshofer, 1999
  • Das Grundgesetz der Farbenlehre; Harald Küppers, 2002
  • Die Sprache der Blumen (und ihre Farbwirkung)

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 15.03.2016

Kristian Widmer 14 Artikel
Kristian Widmer ist Mitglied der Schweizer Filmakademie. Der promovierte Jurist und Inhaber eines MBA der Universität St. Gallen HSG war langjähriger CEO der 1947 gegründeten und mit einem Academy Award™ ausgezeichneten Condor Films AG.

6 Kommentare

  1. Wunderbar! Selbst als Videojournalist mache ich mir immer Gedanken, wie ich durch Farben die Story verbessern kann. Aber genau wie hier beschrieben, es gibt keine Erfolgsformel. Manchmal reicht es dann doch, die Sättigung etwas aufzudrehen (kennen wir ja aus der Werbung) oder über den Weißabgleich zu fuschen. Wizard of OZ ist ein tolles Beispiel, denn ich erinnere mich noch genau an die Wirkung des Films 🙂

  2. @Carrie: Da liest jemand mit Adleraugen. Großartig! Die Feststellung ist mit Blick auf die Farbeigenschaften korrekt: Buntheit ist in der Tat der Grad der Farbsättigung, der zusammen mit Helligkeit und Farbton über die Farbwahrnehmung entscheidet. Im Artikel wird der Begriff aber umgangssprachlich eingesetzt und ist darum sinnbildlich zu verstehen. Bunte Grüße!

  3. Sehr geehrte Redaktion, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass heutzutage nicht mehr von Männern und Frauen geredet wird. Diese Denkweise stammt aus der viktorianischen Zeit und ist heute nicht mehr gebräuchlich. In dem Abschnitt: „…die Auswirkung von Farben auf den Kaufanreiz von Frauen markant stärker sind …“, hätte folgendes voll ausgereicht: „…die Auswirkung von Farben auf den Kaufanreiz gewisser Zielgruppen markant stärker …“ Schöne Grüße, Dorothy.

  4. @Dorothy: Danke für Ihre Rückmeldung. Vielfalt und Zwischentöne sind in der Tat wichtig. Nicht nur bei Farben. Umgekehrt verlöre eine Welt ohne Komplementärfarben an Kontrast. Weil uns der respektvolle Umgang mit Gegensätzen zielführender erscheint, als ein totalitärer Verzicht auf Nennung von Differenzierungsmerkmalen, halten wir an der bemängelten Schreibweise fest. Danke für das Verständnis.

  5. Danke für den informativen Text über Farben und die Argumente, warum Farbtöne auch für Videos wichtig sind! Liebe Grüße.

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