1 Einleitung: ‚Der‘ Soziologe Frankreichs

Keine soziologische Position aus Frankreich hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breitere internationale Rezeption erfahren als Pierre Bourdieus Sozial- und Gesellschaftstheorie. Dabei hat er in besonderem Maße sowohl die französische Soziologie (und deren soziologische Theorie) weiterentwickelt, als auch interdisziplinäre Anschlüsse gesucht – und gefunden. Insbesondere von der Philosophie, der Epistemologie und der Ethnologie bzw. Anthropologie hat Bourdieu sich beeinflussen lassen. Umgekehrt wird er zunehmend auch in den anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen rezipiert. Zudem ist er ebenso und nicht zuletzt stets als engagierter Intellektueller aufgetreten, hat Marginalisierten sein Ohr geliehen und seine Stimme insbesondere gegen den Neoliberalismus erhoben.

Bourdieus Biographie – der Aufstieg aus bäuerlich-kleinbürgerlichen Verhältnissen in der Provinz in das intellektuelle Zentrum der französischen Wissenschaft, das Collège de France in Paris – muss vor dem Hintergrund seiner eigenen Studien zur Reproduktion sozialer Ungleichheit besonders unglaublich erscheinen.Footnote 1 Er ist in jedem Fall außergewöhnlich – und spezifisch französisch, weil er sich einer zentralisierten Eliteauswahl verdankt: Am 1. August 1930 wurde Bourdieu als Sohn eines Postbeamten im Béarn geboren, einer ländlichen Region, der er später auch eine ethnographische Studie widmete (Bourdieu 2002b). Von dort aus gelang ihm aufgrund seiner exzellenten schulischen Leistungen ein sukzessiver Bildungsaufstieg im meritokratisch organisierten französischen Schulsystem. Zunächst gelangte er, unterstützt durch die nachdrückliche Förderung seines Vaters, von einer Dorfschule an ein Gymnasium in Pau, wo er das Internat besuchte. Ein dortiger Lehrer empfahl ihm wiederum, sich am Pariser Lycée Louis-le-Grand einzuschreiben, das auf die Aufnahmeprüfung für die École normale supérieure in Paris vorbereitete. Mit der Aufnahme an der ÉNS, einer zentralen Institution zur Ausbildung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses in Frankreich, eroberte Bourdieu sich 1951 einen Platz unter den jungen Intellektuellen Frankreichs. Fast alle herausragenden Köpfe der Geisteswissenschaften haben diese Bildungsinstitution durchlaufen: Paul Veyne etwa war im selben Jahrgang wie Bourdieu; Jacques Derrida wurde ein Jahr später aufgenommen. Bourdieu studierte dann Philosophie an der Sorbonne und schloss sein Studium 1955 als Bester seines Jahrgangs ab. Besonderen theoretischen Einfluss haben auf ihn in dieser Zeit die Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelard und Georges Canguilhem ausgeübt (Moebius und Peter 2009). Nach dem Studienabschluss unterrichtete er zunächst als Philosophielehrer am Gymnasium, bevor er zum Militärdienst nach Algerien einberufen wurde. Diesen unfreiwilligen Aufenthalt für Feldforschungen nutzend, wandte er sich gleichzeitig der Soziologie zu (s. u., Abschn. 2.1). Nach dem Ende seiner Dienstzeit blieb Bourdieu noch für zwei Jahre als Dozent an der Universität von Algier in Algerien. Er unterrichtete anschließend an der Pariser Sorbonne und der Universität von Lille, bevor er 1964 Forschungsdirektor an der École pratique des hautes études (heute École des hautes études en sciences sociales) wurde. Bourdieu leitete zusammen mit Raymond Aron das Centre de sociologie européenne, zu dessen Mitgliedern etwa Luc Boltanski, Robert Castel, Jean-Claude Chamboredon, Michel Crozier, Jean-Claude Passeron und Monique de Saint-Martin gehörten, und war an der Gründung der einflussreichen, interdisziplinären Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales beteiligt, in der auch viele seiner Forschungen sowie die seiner Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen publiziert wurden. 19812001 lehrte Bourdieu am Collège de France auf einen Lehrstuhl für Soziologie, wodurch ihm nicht nur die größte akademische Weihe Frankreichs, sondern auch eine weitreichende institutionelle Autonomie zuteilwurden. Die 1990er Jahre sind daneben geprägt durch Bourdieus Selbstverständnis als eines „kollektiven spezifischen Intellektuellen“ (Jurt 2009: 8) durch sein öffentliches Engagement und seine Neoliberalismus-Kritik, die Beteiligung an der Gründung des Magazins Liber und der Buchreihe Raisons d’agir. Das von ihm mit herausgegebene Buch Das Elend der Welt (1997), in dem Arbeitslose und andere Marginalisierte zu Wort kommen, erreichte eine große Leserschaft. Im Januar 2002 verstarb Bourdieu an den Folgen eines Krebsleidens.

Aufgrund seiner Biografie, seiner bäuerlich-kleinbürgerlichen Herkunft und auch der Erfahrung von Gewalt und Ausgrenzung im Internat ist Bourdieu in der intellektuellen Welt nie vollständig heimisch geworden (Bourdieu 2002a: 102 ff.) und hat sich ihr gegenüber eine Fremdheit bewahrt, die ihm beispielsweise auch einen distanzierten Blick auf den bürgerlichen Lebensstil (Bourdieu 1982) oder das Feld der Wissenschaft (Bourdieu 1988) ermöglichte.

2 Theorieansatz: Verbindung von Philosophie, Ethnologie und Soziologie

Bourdieus Soziologie zeichnet sich durch eine Vielzahl an positiven wie abgrenzenden Theoriebezügen aus, die keineswegs auf die Soziologie beschränkt sind. Seine Grundlage hat sein breites Theorierepertoire sowohl in seiner ursprünglich philosophischen Ausbildung als auch in seiner empirischen Forschung im französisch besetzten Algerien.

2.1 Von der Philosophie zur Ethnologie: Bourdieu in Algerien

In Algerien gewinnt Bourdieu erste Forschungspraxis und entwickelt thematische Interessen und Motive, die ihn im Laufe seiner akademischen Laufbahn weiter beschäftigen werden (Krais 2004a; Schultheis 2007; Schäfer 2014). Der zunächst unfreiwillige Aufenthalt wird in mehrfacher Hinsicht grundlegend für sein Werk: Hier findet, fernab vom französischen Wissenschaftsbetrieb, die „Konversion“ (Schultheis 2007: 8) Bourdieus vom Philosophen zum Ethnologen und Soziologen statt; hier erprobt er sozialwissenschaftliche Methoden und hier beginnt bereits seine praxeologische Perspektive Kontur anzunehmen. Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung ist ein ebenso biographischer wie politischer. Zum Zeitpunkt von Bourdieus Militärdienst (1955–1957) befindet sich Frankreich, das Algerien seit 1830 in verschiedenen Wellen kolonialisiert hat, im Krieg gegen die algerische Befreiungsfront FLN, die im November 1954 den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht aufgenommen hat und seit 1956 durch Marokko und Tunesien unterstützt wird.Footnote 2 Der Algerienkrieg polarisiert auch die französische Gesellschaft. Linke Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre unterstützen die Befreiungsfront. Bourdieu sieht sich in der paradoxen Situation, dass er nun auf der Seite der französischen Besatzer steht und von der lokalen Bevölkerung als solcher wahrgenommen wird, obwohl er den Kolonialismus ablehnt und sich auch politisch gegen ihn ausgesprochen hat. Diese widersprüchliche Position schärft zum einen seinen Blick für die Lebensbedingungen vor Ort und lässt ihn außerdem seinen eigenen Standpunkt als wissenschaftlicher Beobachter reflektieren. Somit legt neben seiner sozialen Herkunft auch die Erfahrung aus Algerien den Grundstein für die spezifische Reflexivität von Bourdieus Soziologie (Langenohl 2011). Bourdieu, der ursprünglich vorhatte, eine philosophische Dissertation über Zeitstrukturen des Gefühlslebens im Anschluss an Husserl zu schreiben (Schultheis 2011: 29), verwirft diesen Plan und wendet sich der Situation der algerischen Bevölkerung zu.Footnote 3 Dabei behält Bourdieu sein Interesse für die Zeitlichkeit bei und transformiert es soziologisch (d. h., er analysiert die Transformation des Zeitempfindens und der Zeitstruktur, neben der räumlichen Veränderung infolge der systematischen Umsiedlung der bäuerlichen Bevölkerung, vgl. z. B. Bourdieu und Sayad 1964: 156). Bourdieu schreibt später, dass es ihm mit diesen Studien unter anderem darum ging, „das schlechte Gewissen eines ohnmächtigen Zeugen dieses grausamen Krieges zu beruhigen“ (Bourdieu 2002a: 48). Sein genuines Interesse für die lokale indigene Kultur, ihre Bräuche und Traditionen sowie Sozialformen paart sich mit dem Wunsch, eine Korrektur des Bildes von Algerien vorzunehmen – sowohl auf Seiten der Konservativen als auch der Linken. Dabei stößt er an die Grenzen der Möglichkeiten, die ihm seine philosophische Ausbildung bietet. Zudem entwickelt er eine Abneigung gegenüber der „scholastischen“ Haltung des Philosophen, die soziale Distanz mit wissenschaftlicher Objektivierung gleichsetzt (Bourdieu 2002a: 49 f., Schultheis 2007: 38–41). Stattdessen wendet er sich der Ethnologie zu und hier mit Claude Lévi-Strauss einem zweifellos zentralen Intellektuellen des damaligen Diskurses, bei dem er auch Seminare besucht hat. Lévi-Strauss hatte mit der strukturalen Anthropologie eine in Frankreich breit rezipierte Position begründet, die auch in der Philosophie große Anerkennung genoss. Ganz im Geiste Émile Durkheims (Bogusz und Delitz 2013) – und wie Lévi-Strauss selbst – unterscheidet auch Bourdieu nicht zwischen einer ethnologischen und soziologischen Herangehensweise (Schmeiser 1986; Bogusz 2013). Nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern auch in methodischer inspiriert Algerien Bourdieu zur Feldforschung; es erscheint ihm als „soziologisches Laboratorium“ (Schultheis 2007: 52). Er kombiniert frei und assoziativ Methoden aus der Ethnologie und Soziologie: teilnehmende Beobachtung, Interviews, die Sekundäranalyse ethnologischer Studien, statistische Erhebungen und Fotografie (Schultheis 2008b).Footnote 4

Bourdieu lernt den algerischen Intellektuellen Abdelmalek Sayad kennen, der für eine Reihe von Forschungsprojekten sein Partner wird und ihn insbesondere in dessen Heimat, der Kabylei im Norden Algeriens, begleitet. Hier findet Bourdieu die traditionelle algerische Kultur (oder deren Überreste) vor und kann den gewaltsamen Einbruch westlicher Denk- und Handlungslogiken beobachten – die koloniale, ebenso militärische wie ökonomische Strategie der Transformation und Kontrolle Algeriens. Die Themen von Bourdieus ethnologischen Recherchen zur algerischen Übergangsgesellschaft umfassen Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlechterverhältnisse, Mythologie und Volksweisheiten, Benimmregeln und Kleidungsvorschriften sowie die kabylische Architektur und Sprache; all dies interessiert ihn im Blick auf die ‚Dekulturation‘, die Zerstörung einer Kultur und Gesellschaft, oder deren absichtliche Transformation, um die indigene Bevölkerung in eine moderne Ökonomie zu integrieren. In insgesamt 32 Texten beschreibt Bourdieu – mit Sayad – diese gesellschaftliche Veränderung, unter anderem in den Monografien Sociologie de l’Algérie (1958) und Le Déracinement. La crise de l’agriculture traditionnelle en Algérie (Bourdieu und Sayad 1964); in diesem Kontext entstehen zugleich die ethnologischen Texte, die 1972 in Entwurf einer Theorie der Praxis aufgenommen sind. Bourdieu und Sayak beschäftigen sich – um die völlige „Entwurzelung“ der Bauern zu zeigen – auch mit ihren ökonomischen Aspekten (wie dem traditionellen Konzept des Kredits oder den Regeln der Tauschbeziehungen); dabei bezieht sich Bourdieu auch auf Marcel Mauss’ Arbeiten zur Gabe (Schultheis 2011: 32–35). In den qualitativen Interviews stehen die Zeiterfahrung, die Lebens- und Wohnverhältnisse der Algerier sowie die Organisation der Arbeit im Fokus.

Der Einfluss von Lévi-Strauss zeigt sich besonders an Bourdieus Analyse der Raumstruktur des kabylischen Hauses, die ganz der strukturalistischen Anthropologie verpflichtet ist – und dazu dient, die Tiefe der gesellschaftlichen Transformation durch die Umsiedlungen – die régroupemenets – und die Veränderungen der Architekturen vergleichend deutlich zu machen.Footnote 5 Der Studie zufolge sind die Innenräume des kabylischen Hauses in strikte Dichotomien wie innen/außen, hell/dunkel usw. unterteilt und je einem Geschlecht zugeordnet. Somit werden den einzelnen Bereichen des Hauses symbolische Bedeutungen zugesprochen, die nicht nur einer ausschließlich dualistischen Logik entspringen, sondern auch diachron invariant und vor allem unabhängig von den Interpretationen unterschiedlicher Akteure und ihrer sozialen Standpunkte zu existieren scheinen. Bourdieu reproduziert in diesem Text noch Elemente einer ‚objektivistischen‘ Perspektive, die er später als solche kritisiert: die Auffassung, Subjekte seien lediglich passive Träger oder Erfüllungsgehilfen einer in ihren Aktivitäten sich aktualisierenden sozialen Struktur, mit der damit zusammenhängenden Reduktion „ihre[r] Handlungen auf simple Randerscheinungen der Fähigkeit der Struktur, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren“ (Bourdieu 1987: 78). Bourdieus Studien zur algerischen Ökonomie sind dagegen den Arbeiten Max Webers verpflichtet, insofern sie nach den kulturellen Grundlagen ökonomischer Rationalität fragen.Footnote 6

Im Verlauf seiner Arbeit stellte Bourdieu fest, dass die algerische Bevölkerung das französische Wirtschaftssystem nicht bruchlos übernehmen konnte – ganz im Gegenteil handelt es sich um eine völlige, systematische sowie gewollte Transformation der indigenen Bevölkerung, um sie zu ‚pazifizieren‘, zu verhindern, dass die Bauern die FLN unterstützen. Bourdieu und Sayad (1964, 2020) beschreiben eine ‚Entbäuerlichung‘ (dépaysement) und ‚Entwurzelung‘ (déracinement); eine Gesellschaft in der irreversiblen Zerstörung. Bourdieu führt dies auf die Tatsache zurück, dass „das Funktionieren jedes Wirtschaftssystems an die Existenz eines gegebenen Systems von Dispositionen gegenüber der Welt […] gebunden ist.“ (Bourdieu 2000: 30) In den Algerien-Studien kann Bourdieu insgesamt eine Konstellation aufzeigen, in der die inkorporierten Dispositionen der algerischen Bevölkerung und das durch den Kolonialismus aufgezwungene Wirtschaftssystem auseinanderklaffen. Die algerische Ökonomie war etwa fundamental von der Logik des Tauschs geprägt und kannte wesentliche Elemente der kapitalistischen Ökonomie – wie z. B. das System des Kredits und die Institution des Berufs – nicht (Bourdieu 2000, 2003). In der Folge dieser gewaltsamen, kolonialistischen Konfrontation von zwei differenten kulturellen Bezugsrahmen kommt es bei den Akteuren zu Bezügen auf ambivalente Handlungs- und Rechtfertigungsmuster, etwa die eigene Tätigkeit als Beruf betreffend. Bourdieu arbeitet heraus, wie die Akteure „auf doppeldeutige Ideologien, die kapitalistische und vorkapitalistische Logiken vermischen, zurückgreif[en], um den Status von Tätigkeit als Beschäftigung zu rechtfertigen“ (Bourdieu 2000: 76), zwischen diesen parallelen Bezugsrahmen hin und her wechseln und sich damit in einer „zwiespältige[n] Wirklichkeit“ (Bourdieu 2000: 77) bewegen. Während in der traditionellen algerischen Gesellschaft Arbeit über ihren Nutzen für die Gemeinschaft definiert wurde, zählt in den nun kapitalistisch beeinflussten, kolonial beherrschten Gebieten ausschließlich Lohnarbeit als legitime Beschäftigung. Diese Beobachtungen lassen Bourdieu „die Universalität der sogenannten rationalen ökonomischen Dispositionen in Frage […] stellen“ (Bourdieu 2001: 205), womit er nebenbei Webers These von der kulturellen Fundierung ökonomischen Handelns und wirtschaftlicher Rationalität empirisch bestätigt.

Das französische Bild von Algerien korrigiert Bourdieu mit seinen Arbeiten in zweierlei Hinsicht: Zum einem entwickelt er mit seinen Analysen „eine Kritik an dem für den Kolonialismus so typischen ethnozentrischen Missverständnis einer angeblichen ökonomischen ‚Irrationalität‘ der algerischen Bevölkerung“ (Bourdieu 2007: 136). Zum anderen dämpft er mit seinen Analysen der Lebenssituation der Algerier die revolutionäre Hoffnung, die Sartre und andere Intellektuelle in diese setzten, indem er darauf verweist, dass „tiefste Unterdrückung nicht notwendig mit dem schärfsten Bewußtsein der Unterdrückung einhergeht“ (Bourdieu 2000: 141). Weder die entwurzelten Bauern noch das neu entstandene städtische Subproletariat erscheinen Bourdieu als mögliche Träger einer Revolution.

2.2 Die Theorie der Praxis – zwischen Strukturalismus, Phänomenologie und Existentialismus sowie Poststrukturalismus

Bourdieu hat seine Zeit in Algerien als „Initiation“ (Bourdieu 2002a: 67) in die Soziologie bezeichnet; er hat sich seiner Herkunftsdisziplin nicht wieder zugewandt, auch wenn er einige ihrer Fragestellungen beibehält und auf philosophische Positionen und Konzepte rekurriert. Nach seiner Rückkehr aus Algerien bleibt er zunächst der Ethnologie verpflichtet und besucht (wie erwähnt) das Seminar von Lévi-Strauss (Schultheis 2000: 183). Doch bereits in Algerien und besonders in den auf diese Zeit folgenden Jahren entwickelt Bourdieu eine deutliche, empirisch begründete Kritik am Strukturalismus und grenzt sich differenziert davon ab. Beim Studium kabylischer Rituale stößt Bourdieu auf „unzählige Widersprüche“ (Bourdieu 1987: 25); er entdeckt, dass die kabylischen Familienverhältnisse sich durch deutliche Handlungsspielräume auszeichnen und z. B. familiale Allianzen spezifischen lokalen Strategien und Kontexten unterworfen sind (Schultheis 2008a: 106). Diese empirisch gegebenen Unschärfen menschlichen Handelns lassen ihn die „immer nur im Groben bis zu einem gewissen Punkt schlüssige praktische Logik“ (Bourdieu 1987: 25) erkennen. Bourdieus Überlegungen zu dieser „Logik der Praxis“ bilden die Grundlage seiner Sozialtheorie. Er vermisst im Strukturalismus insbesondere die Berücksichtigung der Widersprüchlichkeit und Zeitlichkeit menschlichen Handelns, die eine angemessene Theorie der Praxis seiner Ansicht nach zu erfassen hat. Die Widersprüchlichkeit der Praxis begegnet ihm nicht nur in traditionellen kabylischen Ritualen und den paradoxen Rechtfertigungslogiken der algerischen Übergangsgesellschaft, sondern auch bei seinen ersten, noch deutlich ethnologisch geprägten Arbeiten in Frankreich, die er seiner Herkunftsregion dem Béarn und den dortigen Heiratsstrategien und Verwandtschaftsverhältnissen widmet (Bourdieu 2002a: 72). Sein Blick für die Zeitlichkeit der Praxis schärft sich mit der Lektüre von Marcel Mauss. Wie er in Anlehnung an dessen Untersuchung des Gabentauschs herausarbeitet, sind sowohl die Irreversibilität des Tuns als auch die tatsächliche Dauer von Handlungen und die Existenz von Pausen im Handlungsablauf konstitutiv für die menschliche Praxis (Bourdieu 1976: 217–227).Footnote 7 Bourdieu kritisiert damit eine Fokussierung geschlossener und diachron invarianter Bedeutungssysteme im Strukturalismus (Schäfer 2011).

Einen wichtigen philosophischen Impuls für Bourdieus Entwicklung der Theorie der Praxis liefert Ludwig Wittgensteins ‚Gebrauchstheorie‘ der Sprache in Philosophische Untersuchungen (Chauviré 1995). Die Perspektive Wittgensteins trägt dabei in gewisser Weise sogar ethnologische Züge: Wenn die Forschungshaltung der Ethnologie charakterisiert werden kann als eine holistische Analyse lokal spezifischer Kulturen sowie durch die Methode der ‚dichten Beschreibung‘, dann lassen sich bei Wittgenstein diese ethnologischen Vorgehensweisen identifizieren – zum einen die Anerkennung, dass ‚Sprachspiele‘ in umfassende kulturelle Zusammenhänge des Denkens und Handelns eingebettet sind, in ‚Lebensformen‘; zum anderen sein Interesse an der Beschreibung konkreter (sprachlicher) Phänomene: „[W]ir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“, schreibt (Wittgenstein 1999: § 109). Im Versuch, die ‚Logik der Praxis‘ angemessen zu erfassen, bezeichnet Bourdieu Wittgenstein als „eine Art Retter in intellektueller Not“ (Bourdieu 1992a: 28). Vor allem in Entwurf einer Theorie der Praxis nimmt er ausführlich auf den Philosophen Bezug: Er greift dessen Verständnis des Regelfolgens als Praxis, das von der Selbstverständlichkeit und Nicht-Bewusstheit des Handelns ausgeht, auf – in der Frage, wie „Verhaltensweisen geregelt sein [können], ohne daß ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt“ (Bourdieu 1992c: 86). Zur Erklärung sozialer Regelmäßigkeiten verwirft Bourdieu den Regelbegriff im Sinne autonomer Regeln, die Akteure implizit, quasi mechanisch ausführen. Der Begriff wird ersetzt durch die miteinander verbundenen Konzepte „Spiel“, „praktischer Sinn“, „Strategie“, „Habitus“ und „Praxis“. Bourdieus Entwurf kann somit als Soziologisierung des Wittgenstein’schen Regelfolgens gelesen werden (Taylor 1999; Gebauer 2005).

Insbesondere dem Konzept des Habitus kommt dabei die Funktion zu, regelmäßiges Verhalten zu erklären, ohne auf den Begriff der „Regel“ zurückgreifen zu müssen. Als ‚Habitus‘ bezeichnet Bourdieu inkorporierte „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987: 101), die die Bewertungen und Klassifikationen der Akteure ebenso wie die präreflexive Ausführung von Praktiken hervorbringen.Footnote 8 In seinen Algerienstudien hatte Bourdieu den Habitusbegriff schon beiläufig verwendet (Bourdieu 2000: 140). Zur zentralen sozialtheoretischen Kategorie wird er im Entwurf einer Theorie der Praxis als Lösung für die im Anschluss an Wittgenstein aufgeworfene Frage, wie Praktiken „objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein“ (Bourdieu 1976: 165). Auch wenn es philosophische und soziologische Vorläufer für den Habitusbegriff gibt (Rehbein und Saalmann 2009), so entwickelt Bourdieu ihn in Auseinandersetzung mit dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky, dessen Gothic Architecture and Scholasticism er übersetzt hatte (Müller 2017). Panofsky verwendet den Habitusbegriff, um die ästhetische Einheit der künstlerischen Produktion einer Epoche zu erklären (Bourdieu 1970) und arbeitet heraus, wie die Architektur der gotischen Kathedrale, die Bildhauerei, die Literatur und die Gestaltung von Handschriften wesentliche Charakteristika mit der scholastischen Philosophie Thomas von Aquins teilen. Bourdieu hebt hervor, dass der Habitusbegriff Panofsky die „Möglichkeit [gab], im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur“ (Bourdieu 1970: 132). So gesehen, ist der Habitusbegriff Bourdieus Instrument, die Durkheim’sche Tradition der Soziologie fortzusetzen und weiterzuentwickeln, d. h. das Kollektive menschlicher Sozialität zu betonen und dem Sozialen eine gegenüber dem Individuum prägende Kraft zuzuschreiben, ohne jedoch einen starken Gesellschaftsbegriff zu vertreten (s. u., Abschn. 2.3, zum Verhältnis von Bourdieu zu Durkheim (Wacquant 2001; Saalmann 2009)). Dabei grenzt Bourdieu sich auch von Theorien rationaler Wahl ab, indem er darauf verweist, dass Praktiken „objektiv ihrem Zweck angepaßt sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen“ (Bourdieu 1976: 165).

Die Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Phänomenologie bzw. Existentialismus

Im Wesentlichen sind der Habitusbegriff und die Theorie der Praxis jedoch Bourdieus Beitrag zur Überwindung einer Konkurrenz zweier dominanter französischer Paradigmen seiner Zeit: des Strukturalismus einerseits und der Phänomenologie respektive des Existenzialismus andererseits oder das, was Bourdieu Objektivismus und Subjektivismus nennt (Bourdieu 2015: 99–120). Dieser Dualismus ist für Bourdieu „[v]on allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, […] der grundlegendste und verderblichste“ (Bourdieu 1987: 49). Bourdieus differenzierte – ebenso an ihn anschließende, wie ihn korrigierende – Kritik des Strukturalismus wurde bereits angedeutet: Am Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss würdigt Bourdieu, dass mit diesem die

„strukturelle Methode oder einfacher das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, das mit dem substantialistischen Denken bricht und dazu führt, jedes Element durch die Beziehungen zu charakterisieren, die es zu anderen Elementen innerhalb eines Systems unterhält und aus denen sich sein Sinn und seine Funktion ergeben“ (Bourdieu 1987: 12).Footnote 9

Der Begriff des ‚Habitus‘ erlaubt es Bourdieu zugleich, den Strukturalismus zu verzeitlichen und die Dispositionen der Akteure als Produkte einer Sozialisationsgeschichte zu begreifen. Bourdieu bezeichnet seine Position daher als „genetischen Strukturalismus“ (Bourdieu 1992a: 31).Footnote 10 Der Habitus umfasst „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ (Bourdieu 1976: 165). Während Bourdieu in dieser Weise an Lévi-Strauss anschließt, ist sein Hauptvorwurf an dessen Strukturalismus jedoch, dass dieser die Subjekte zu „Epiphänomenen der Struktur“ (Bourdieu 1992a: 28) degradiere, dass er objektivistisch sei. Gerade der Habitusbegriff soll erlauben, „die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel [zu] bringen“ (Bourdieu 1992a: 28). Damit geht Bourdieu zugleich einen Schritt auf die (philosophische) Phänomenologie zu, insbesondere auf die Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty (vgl. dazu ausführlich Prinz (2017), deren Rekurs auf die Erfahrung der Akteure er für eine wichtige theoretische Perspektive hält, grenzt sich dabei aber von ihrem Subjektivismus ab. Gegen die phänomenologische Unterstellung einer Unmittelbarkeit der Erfahrung muss diese Bourdieu zufolge objektiviert, d. h. mit den inkorporierten sozialen Strukturen in Beziehung gesetzt werden, welche die Wahrnehmungen der Akteure leiten und strukturieren. Den Bezugspunkt von Bourdieus soziologischem Entwurf bilden daher nicht als persönlich und individuell verstandene Erfahrungen, sondern kollektive Wahrnehmungsschemata. Insbesondere an Jean-Paul Sartres Existenzialismus kritisiert Bourdieu die Leugnung jeglicher sozialisationsgeprägter Vorgeschichte der Subjekte und die Unterstellung ihrer unbedingten Freiheit. Autonomie ist für den Soziologen Bourdieu stets relativ:

„Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.“ (Bourdieu 1987: 103)

Auch empirisch kritisiert Bourdieu Sartre, fragt er sich doch (eingedenk seiner Beobachtungen aus Algerien), warum sich

„die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen […], von einigen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und […] die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können“ (Bourdieu 2005: 7).

Diese gleichsam theoretische wie politische Grundfrage prägt und motiviert auch Bourdieus Studien zur Reproduktion sozialer Ungleichheit (s. u., Teil 3). Auf diese Weise positioniert Bourdieu seine Theorie der Praxis in den 1970er Jahren als Überwindung von, und in gewisser Weise auch als Verbindung der zeitgenössisch dominanten französischen Theoriealternativen von Strukturalismus und Existenzialismus.

Bourdieu und der Poststrukturalismus

Zeitgleich mit dieser Kritik werden weitere Auseinandersetzungen mit den strukturalistischen Grundannahmen geführt, die zunächst in Philosophie und Literaturwissenschaft entwickelt, später von den Kultur- und Sozialwissenschaften aufgegriffen und schließlich eine breite internationale Rezeption erfahren wird – mit dem, was seither als ‚Poststrukturalismus‘ auftritt (Münker und Roesler 2000; Stäheli 2000; Moebius und Reckwitz 2008). Bourdieu war mit dessen zentralen Vertretern – nämlich mit Jacques Derrida und Michel Foucault – persönlich bekannt. Er hat die Impulse des Poststrukturalismus jedoch nicht aufgenommen und sich nur äußerst randständig mit ihnen auseinandergesetzt (Bourdieu 1996, 2002c; Schäfer 2009). Dabei lassen sich durchaus Affinitäten zwischen den poststrukturalistischen Perspektiven und Bourdieus ‚genetischem Strukturalismus‘ identifizieren: So charakterisiert die grundlegende strukturalistische These der Relationalität von Bedeutungen, der Priorität der Ordnung des Symbolischen, und die strukturalistische Dezentrierung des Subjekts ebenso Bourdieus, wie auch die poststrukturalistische Denkweise (vgl. zum Verhältnis Bourdieus zum Poststrukturalismus auch (Vazquez Garcia 2002; Pinto 2004). Poststrukturalismus und Praxistheorie treffen sich zugleich in ihrer Kritik an einem als statisch wahrgenommenen Strukturbegriff und an der als ahistorisch verstandenen, synchron vergleichenden Perspektive des Strukturalismus. Einer ihrer wesentlichen Berührungspunkte liegt in der Betonung der Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit von Struktur. Auch Bourdieus Verweis auf die Widersprüchlichkeit der Praxis lässt Ähnlichkeiten zum poststrukturalistischen Denken erkennen (Schäfer 2011). Wo jedoch Derrida die konstitutive Unmöglichkeit struktureller Schließung und die Radikalität der prozessualen Dynamik betont, ja sogar die Unterminierung und Auflösung des Prozesses selbst (Stäheli 2000: 59), wendet sich Bourdieu der Reproduktion von Strukturen zu und bleibt bei einer Vorstellung von homogenen Einheiten – wie etwa Klassen – und einer dualistischen Oppositionslogik, die für den Strukturalismus charakteristisch sind (Schäfer 2013: 93–111).

2.3 Kapital, Feld und Gesellschaft: Bourdieu als Postmarxist

Um die Grundkonzepte seiner Theorie der Praxis gruppieren sich eine Reihe von weiteren Analysekategorien, mit denen Bourdieu soziale Differenzierung in vertikaler (die Ungleichheit von Klassenpositionen) wie horizontaler Hinsicht (unterschiedliche gesellschaftliche ‚Felder‘) untersucht. Auch an diesen Konzepten – die Bourdieu vor allem als einen postmarxistischen Autor kenntlich machen – zeigt sich die Relationalität seiner Soziologie (Vandenberghe 1999). Zum einen dienen die erwähnten Begriffe dazu, die Positionen von Akteuren im ‚sozialen Raum‘ (Bourdieu 1985) zu erfassen, die sich „wechselseitig zueinander definieren, durch Nähe, Nachbarschaft oder Ferne sowie durch ihre relative Position, oben oder unten oder auch zwischen bzw. in der Mitte usw.“ (Bourdieu 1992b: 138). Hier folgt Bourdieu weiter der strukturalistischen Denkweise, der zufolge Bedeutung aus Differenzbeziehungen von Zeichen hervorgeht. Auch werden diese Relationen als ‚objektive‘ Strukturen verstanden, die insofern ‚unabhängig‘ von den Subjekten existieren, als sie ihren Handlungen unbewusst zugrunde liegen. Zum anderen betont Bourdieu die Relationalität seiner analytischen Konzepte als theoretisches System, in dem etwa Habitus, Kapital, Feld und Klasse aufeinander bezogen sind (Bourdieu und Wacquant 1996: 125). Mit dem Konzept des ‚Kapitals‘ schließt Bourdieu zugleich deutlich an eine marxistische Perspektive an, erweitert jedoch dabei die Bedeutung dieses Begriffes grundlegend (Beer und Bittlingmayer 2009). Bourdieu unterscheidet – im Kontrast zum Marxismus – vier Grundformen von Kapital, die für konkrete Analysen durch je spezifische Kapitalsorten ergänzt werden können: ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital (Bourdieu 1983, 1999), die je eine Eigenlogik und Wirksamkeit haben. Die Kapitalakkumulation einzelner Akteure ist das Resultat vergangener Kämpfe um Ressourcen und gleichzeitig die Basis für zukünftige Kämpfe um Macht bzw. Kapital. Die Persistenz und Trägheit der verschiedenen Kapitalsorten sind Eigenschaften, mit denen Bourdieu die Statik des Sozialen und die Reproduktion sozialer Ungleichheit theoretisch erfasst.

Kapitalakkumulation und Kämpfe vollziehen sich zugleich in je differenten sozialen ‚Feldern‘, die Bourdieu als relativ autonome, abgegrenzte Mikrokosmen im sozialen Raum begreift (Bourdieu 1999).Footnote 11 Er unterscheidet beispielsweise das Feld der Politik, das wissenschaftliche Feld, das künstlerische Feld oder das Feld der Religion, die wiederum in Subfelder unterteilbar sind (Bourdieu 1993b). Diese gesellschaftlichen Bereiche sind jeweils unterschiedlich strukturiert: Die ‚objektiven‘ Strukturen eines Feldes und die darin herrschenden Gesetze entsprechen nicht denjenigen anderer Felder. Kein Feld ist dabei vollständig autonom, da äußere Zwänge auf die Akteure und Institutionen im Feld einwirken können; hierin unterscheidet sich Bourdieus differenzierungstheoretische Perspektive grundlegend von der Systemtheorie (Bourdieu und Wacquant 1996: 134 f., Bongaerts 2008). Je größer die Autonomie eines Feldes, desto größer ist allerdings der Brechungseffekt, d. h. die Fähigkeit des Feldes, äußere Zwänge in die feldspezifische Logik zu übersetzen. Auch am Feldbegriff zeigt sich die Bedeutung der Zeitlichkeit: Bourdieu interessiert sich für die Genese der Strukturen sozialer Felder, zum einen in der longue durée ihrer Herausbildung, also ihres historischen Autonomwerdens (Bourdieu 1999), zum anderen als Resultat wie Grundlage der Machtkämpfe zwischen Akteuren, durch die sich die Strukturen der Felder objektiv verfestigen, um wiederum die Praxis der Akteure zu strukturieren. Die Handelnden richten dabei ihre Praxis nicht durch eine bewusste Berechnung von Gewinnchancen auf das Erreichen maximalen Profits aus. Die scheinbar zukunftsbestimmten Strategien sind vielmehr, wie alle Formen menschlicher Praxis, als Ergebnis erfolgreicher Sozialisation wesentlich von der Vergangenheit der Akteure geprägt und in den Schemata ihrer Habitus inkorporiert. Ein Zustand der Übereinstimmung von Habitus und Feld bildet dabei den von Bourdieus Sozialtheorie betrachteten Regelfall. So geht Bourdieu davon aus, dass Habitus und Feld stets einen Zustand der Koinzidenz anstreben, der sich, einem osmotischen Gleichgewicht ähnlich, von selbst einstellt, da die objektiven Strukturen eines Feldes und seine Eigenlogik im Habitus in Form generativer Schemata inkorporiert sind (Schäfer 2013: 91 ff.). Die vertikale Differenzierung durch Kapitalakkumulation und die horizontale Differenzierung der Felder erlauben es Bourdieus Theorie der Praxis, die Reproduktion sozialer Ungleichheit ebenso wie die Eigenlogik sozialer Sphären zu analysieren und miteinander in Beziehung zu setzen.

Er bearbeitet damit klassische soziologische Forschungsfelder, ohne einen ‚starken‘ Gesellschaftsbegriff – d. h. einen, den Kritiker von Kollektivbegriffen als essentialistisch und holistisch verstehen (Schwinn 2011) – zu vertreten; auch wenn der Begriff der Gesellschaft (im Unterschied also zu Handlungstheorien, die mit Weber einen strikten methodologischen Individualismus vertreten) nicht fehlt, zählt der praxeologische Ansatz zu jenen soziologischen Perspektiven, die auf den Gesellschaftsbegriff verzichten (Delitz 2020a). Auch wenn Bourdieu von gesellschaftlicher Herrschaft, von gesellschaftlichen Kämpfen, von einer Gesellschaft in der Krise usw. spricht, bleibt etwa ungeklärt, ob ‚die Gesellschaft‘ lediglich die Summe unterschiedlicher Felder bildet oder ob Bourdieu darüber hinaus von einem beherrschenden und übergreifenden „Feld der Macht“ (Bourdieu und Wacquant 1996: 136) oder einem Feld der Gesellschaft ausgehen wollte (Rehbein 2006: 108 ff.). Wenn Bourdieu den Gesellschaftsbegriff verwendet, dann jedenfalls nicht im Sinne einer Totalität, die es zu erfassen gelte; dagegen spricht bereits die erwähnte relationale Perspektive. Auch als analytisches (erklärendes) Konzept hat ‚Gesellschaft‘ in Bourdieus soziologischer Theorie keinen Stellenwert (Krais 2004b: 203); so weist er etwa das ‚Kollektivbewusstsein‘ Durkheims (verstanden als Kollektivsubjekt, vgl. zu Durkheim jedoch Delitz 2020b) als „falsche Lösung eines echten Problems“ (Bourdieu 2001: 201) zurück. Stattdessen existieren Bourdieu zufolge „[i]n jedem Akteur, also in individuiertem Zustand, […] überindividuelle Dispositionen, die in harmonisierter oder, wenn man so will, kollektiver Weise zu funktionieren vermögen“ (Bourdieu 2001: 201). An die Stelle eines so verstandenen Gesellschaftsbegriffes treten in seiner Theorie der Praxis die erwähnten, über- oder transindividuellen Schemata des Habitus: Sie sind der ‚Existenzmodus‘ von Gesellschaft (Bourdieu 1993a: 28). Es gibt „in jedem sozialisierten Individuum kollektive Anteile, also Eigenschaften, die für eine ganze Klasse von Akteuren gelten und die durch die Statistik ans Licht zu bringen sind“, schreibt (Bourdieu 2001: 201). Die Analyse von Lebensstilen ist das paradigmatische Beispiel für dieses Verständnis von Gesellschaft – als einer, die in statistischen Daten (und Interviews sowie Beobachtungen) sichtbar wird, die in die Körper und den Habitus einwandert, ‚strukturierende Struktur‘ ist.

2.4 Die feinen Unterschiede (1979). Empirische und theoretische Entwicklung des Postmarxismus

In Die feinen Unterschiede widmet sich Bourdieu dem Zusammenhang von sozialer Position in einer Gesellschaft der Klassen, und dem scheinbar individuellen oder subjektiven ‚Geschmack‘ (in kultureller, ästhetischer, wie auch in buchstäblich gustativer Hinsicht). Die Studie gilt zurecht als Bourdieus Hauptwerk und wird hier exemplarisch diskutiert – auch deshalb, weil Bourdieus enge Verbindung von soziologischer Theorie – Praxeologie und Postmarxismus – mit empirischer Sozialforschung gerade hier deutlich wird. Darin folgt Bourdieu im Übrigen Durkheim. Das Buch bietet eine Kultursoziologie in ungleichheitstheoretischer Perspektive und verarbeitet eine Fülle an empirischem Material, um an der Alltagspraxis anzusetzen.Footnote 12 Bourdieu differenziert – mithilfe einer umfangreichen Erhebung – drei „Lebensstile“Footnote 13, die er ausgehend vom Habitus-Konzept drei Klassen zuordnet. Dabei bewirkt der Habitus,

„daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer […] Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.“ (Bourdieu 1982: 278)

Die moderne französische Gesellschaft (der 1970er) wird hier ausdrücklich als eine Klassengesellschaft beschrieben, als eine, in der die ‚herrschende‘ Klasse einer ‚mittleren‘ und einer ‚unteren‘ bzw. der ‚Arbeiterklasse‘ gegenübersteht. Die Charakterisierung ihrer Lebensstile beruht auf einer Auswertung breiter Erhebungen über die kulturellen Praktiken der repräsentativ Befragten, wie beispielsweise das Ess- und Freizeitverhalten, Kleidungsstil und Mobiliar oder auch die politischen Einstellungen. Bourdieu beschreibt erstens den Geschmack der herrschenden Klasse, die sich durch ihren besonderen Sinn für Distinktion auszeichnet. Dabei identifiziert er innerhalb dieser Klasse zwei Pole, die sich chiastisch gegenüberstehen: Auf der einen Seite Unternehmer und ein Teil der Selbstständigen mit vergleichsweise hohem ökonomischem und niedrigem kulturellem Kapital; auf der anderen Seite Hochschullehrer, Intellektuelle und Künstler mit umgekehrt hohem kulturellem und vergleichsweise niedrigem ökonomischem Kapital. Diese ist die „dominierte Fraktion der herrschenden Klasse“ (Bourdieu 1982: 287). Der ‚legitime Geschmack‘ wird von beiden Fraktionen getragen und umfasst sowohl den ‚Luxusgeschmack‘ als auch den kulturellen Kanon der klassischen Musik, der anspruchsvollen Literatur und der ‚schönen Künste‘. Zweitens lässt sich der bildungsbeflissene Geschmack der Mittelklasse abgrenzen, die an sozialem Aufstieg interessiert ist. Sie strebt nach Teilhabe an den von der herrschenden Klasse vorgelebten Werten, wobei ihr ökonomisches Kapital – und ebenso der erworbene Habitus und die Bildung – ihr Grenzen setzt.

„Der Kleinbürger, ausgesetzt den Widersprüchen zwischen objektiv dominierter Soziallage und der Aspiration auf Teilnahme und Teilhabe an den dominanten Werten, ist besessen vom Gedanken daran, welches Bild wohl die Anderen von ihm haben mögen und wie sie es beurteilen.“ (Bourdieu 1982: 394)

So ist er stets darauf bedacht, den Anschein zu vermitteln, ‚dazuzugehören‘. Drittens schließlich spricht Bourdieu vom ‚Notwendigkeitsgeschmack‘ der unteren oder der beherrschten Klasse, der Dinge nach ihrer Nützlichkeit bewertet und sich vehement vom als überflüssig wahrgenommenen Luxuskonsum der herrschenden Klasse abgrenzt. Hier wird das Einfache und Praktische am höchsten bewertet. Damit machen die Beherrschten – ohne dass es ihnen bewusst wäre – aus der Not eine Tugend: Sie tendieren dazu,

„sich das zuzuschreiben, was ihnen qua Distribution ohnehin zugewiesen ist, das abzuwehren, was ihnen ohnehin verwehrt ist (‚das ist nichts für uns‘), sich damit abzugeben, was ihnen aufgezwungen wird“ (Bourdieu 1982: 735).

Diese Erkenntnis ist gesellschaftstheoretisch wie politisch bedeutsam, stellt sie doch eine deutliche Korrektur des vom Marxismus unterstellten revolutionären Potenzials der Arbeiterklasse als historischem Subjekt dar. Es gibt bei Bourdieu keine Kausalität zwischen Klassenlage und Klassenbewusstsein (Bourdieu 1985: 12), keinen Konflikt zweier Klassen und keine notwendige Revolution. Nicht nur die Herrschenden, sondern auch die Beherrschten tragen habituell zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei. Und nicht nur ökonomisches Kapital bzw. der Besitz von Produktionsmitteln, sondern auch das kulturelle Kapital ist für die Klassenposition entscheidend. Nicht nur die objektive Verteilung des Kapitals im sozialen Raum, sondern auch die inkorporierten Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der Akteure sind daran beteiligt. Der Kampf zwischen der Klassen vollzieht sich in Bourdieus Augen gewissermaßen geräuschlos durch alltägliche Positionierungen im sozialen Raum und

„vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen […]: dem beruhigenden und diskreten Gleiten über den beigefarbenen Teppichboden ebenso wie dem kalten, nüchternen Kontakt mit grellfarbenem Linoleum, dem durchdringenden, scharfbeißenden Geruch von Putzmitteln wie dem unmerklichen Duft von Parfum“ (Bourdieu 1982: 137).

Die in der Oberklasse vertretene „reine Ästhetik“ entlarvt Bourdieu dabei als ein

„Vermögen zur Neutralisierung der im Alltag sich manifestierenden Zwänge und zur Ausklammerung praktischer Zwecke […] in einer von Dringlichkeit befreiten Welt-Erfahrung“ (Bourdieu 1982: 101).

Die reine Ästhetik unterstützt – durch ihren Anschein der Interesselosigkeit, der Subjektivität und der Naturgegebenheit des Geschmacks – die Exklusions- und Reproduktionsmechanismen der sozialen Distinktion, von denen ausschließlich die herrschende Klasse profitiert (Bourdieu 1982: 17 ff.). So formuliert Bourdieu mit Die feinen Unterschiede explizit auch eine soziologische Kritik der philosophischen Ästhetik Immanuel Kants, wonach „interesseloses Wohlgefallen“ den Kern der ästhetischen Anschauung bildet (Prinz 2014: 301–305). Stattdessen formuliert Bourdieu es als die Aufgabe der Soziologie, „die Frage nach dem Interesse am Interesselosen aufzuwerfen“ (Bourdieu 1982: 390, Hervorh. getilgt).

Methodisch fällt die Vielfalt von Erhebungs- und Darstellungsmethoden auf, die Bourdieu für diese Untersuchung eingesetzt hat und die schon seine Algerienstudien und andere frühe Arbeiten auszeichnet. Standardisierte Fragebögen, die korrespondenzanalytisch ausgewertet werden, bilden die statistische Grundlage der Studie (Bourdieu 1982: 821 ff.). Fotografien (etwa von Wohnungseinrichtungen) und Auszüge aus qualitativen Interviews bieten ein eindrückliches Bild der Lebensstile und verleihen der Untersuchung ethnografische Dichte. Obwohl das Material, das die Grundlage der Untersuchung bildet, aus den 1960er und frühen 1970er Jahren stammt, die nachfolgende Bildungsexpansion in Frankreich somit nicht mit erfasst ist und sich seitdem viele sozialstrukturelle Verschiebungen ergeben haben, sind sowohl viele Detailerkenntnisse Bourdieus als auch die von ihm beschriebenen grundlegenden gesellschaftlichen Mechanismen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durchaus aktuell.

3 Aktualität und Kritik von Bourdieus soziologischem Denken

Die breite Rezeption von Bourdieu umfasst ebenso Anschlüsse und Weiterentwicklungen wie auch vielfältige kritische Einwände oder Korrekturen, und nicht zuletzt auch fundamentale Abgrenzungen (die, ähnlich wie im Fall der Hassliebe zu Durkheim, auch mit seiner herrschenden Stellung in der Disziplin zusammenhängen). An dieser Stelle kann nur ein kleiner Einblick über wichtigen Rezeptionen und Konkurrenzbewegungen gegeben werden, vor allem im Hinblick auf das Hauptwerk, Die feinen Unterschiede. Gerade daran entzündet sich eine gleichermaßen methodologische und theoretische wie auch empirische Kritik.

Die deutschsprachige Rezeption dieser Studie – und damit von Bourdieus Werk insgesamt – wurde zunächst wesentlich von dem Sammelband Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis (Eder 1989) eröffnet und geprägt. Darin vertritt etwa Stefan Hradil die Auffassung, dass eine „wachsende Bedeutung klassenübergreifender Disparitäten in der Sozialstruktur“ (Hradil 1989) in der empirischen Analyse berücksichtigt werden müsse. Die Vorstellung homogener Erfahrungen einer gesamten Klasse wird von ihm ebenfalls bezweifelt. Bourdieu habe seine analytischen Kategorien „inhaltlich sehr wenig aus[ge]lastet“ (ebd. 136), was Hradil auf die Konstruktion homogener Einheiten zurückführt. So werde der Begriff des „sozialen Raums“ auf die Kategorie der Klasse reduziert; der Habitus, der als Kategorie potentiell für verschiedene Analysedimensionen anschlussfähig ist, werde zum Klassenhabitus verengt, und der umfassendere Begriff der Praxis werde in dieser Studie ebenfalls weitgehend mit der Kultur einer gesamten Klasse identifiziert. Diese Kritik steht exemplarisch für eine Reihe von Einwänden gegen die Konstruktion von Homogenität und Kohärenz in Bourdieus Soziologie. Ein häufig adressiertes Problem von Bourdieus Theorie ist die Betonung sozialer Reproduktion, die teilweise als Determinismus ausgelegt wird (King 2000). Bourdieus Ansatz geht schließlich davon aus, dass sich zwischen Habitus und sozialer Welt quasi automatisch ein Koinzidenzverhältnis einstellt und die Strukturen des Habitus stets auf die objektiven Strukturen eines sozialen Feldes abgestimmt sind (Bourdieu 2001: 182–193). Fraglich ist tatsächlich, auf welche Weise diese – im Habitus und dessen Trägheitseffekten zentrierte – Theorieperspektive das Misslingen von Praktiken und die damit einhergehende Unterbrechung sozialer Reproduktion oder auch Abweichungen und Durchbrechungen der Distinktionslogiken erfassen kann (Schäfer 2011, 2013).

Als (kritische) Fortführung von Bourdieus Kultursoziologie versteht sich dagegen die britische Studie Culture, Class, Distinction (Bennett u. a. 2009), die explizit an die Konzepte Habitus und Kapital anschließt, und diese intersektional weiterentwickelt. Dabei werden auch Impulse der britischen Cultural Studies aufgegriffen. Eine frühere einflussreiche soziologische Analyse des Geschmacks, die auch die sozialstrukturellen Verschiebungen der Spätmoderne berücksichtigt, kommt zu einer Nuancierung der These der Feinen Unterschiede: Richard Peterson und Roger Kern (Peterson und Kern 1996) vertreten auf Grundlage einer Studie zur Musikrezeption die These, dass die geschmacklichen Präferenzen sich – zumindest in den 1990ern, in Großbritannien – nicht in „legitimen“ und „illegitimen“ Geschmack, sondern in „omnivorous“ und „univorous taste“ (Peterson 1992) unterscheiden. Sie zeigen, dass die Angehörigen der oberen Schicht einen weiteren Raum musikalischer Stilrichtungen rezipieren, also geschmacklich vielfältiger orientiert sind als die Arbeiterklasse.

Innerhalb des französischen Theoriediskurses stand und steht die Soziologie Bourdieus zunächst insbesondere in Opposition zu Ansätzen, die dem methodologischen Individualismus verpflichtet sind, wie dem „Aktionismus“ Raymond Boudons (Maurer und Schmid 2004), der von rational handelnden Akteuren ausgeht, oder der „Aktionalismus“ Alain Touraines, der ebenfalls handlungstheoretisch orientiert ist und gegen jede Soziologie ‚mit Gesellschaft‘ schreibt, aber auch ein „Prinzip der Totalität“ und somit eine gesellschaftliche Dimension voraussetzt (Moebius und Peter 2004; Peter 2004a). Auch ist Bourdieus Kontrast zum klassischen Marxismus deutlich (Beer und Bittlingmayer 2009; Burawoy 2018). Bereits angesprochen wurde die Distanz zu Strukturalismus und Poststrukturalismus. Bedeutsam sind dabei vor allem jene Abgrenzungen von Bourdieu gewesen, die sich gegen ihn auf den US-amerikanischen Pragmatismus beziehen: In den neopragmatistischen Ansätzen wird die Aktivität und Reflexivität des Handelns betont, während Bourdieu letztlich doch einen deterministischen Ansatz habe, die Akteure zu Marionetten ihrer sozialen Position mache. Ein zentraler Vertreter dieser Position ist (neben Jacques Rancière, vgl. Sonderegger 2010) Luc Boltanski, der ab den 1960er Jahren an vielen Forschungsarbeiten Bourdieus beteiligt (Bourdieu u. a. 1981) war und später zu einem seiner prominentesten Kritiker wurde (vgl. z. B. Faber 2013). Boltanski unterscheidet die „kritische Soziologie“ Bourdieus, in der Akteure „als Getäuschte, Hintergangene oder als ‚cultural dopes‘ (Harold Garfinkel) behandelt und ihre kritischen Fähigkeiten unterschätzt oder ignoriert“ (Boltanski 2010: 41) würden, von der „Soziologie der Kritik“: Diese nehme die kritische Fähigkeit der Akteure ernst. Aus dem amerikanischen Pragmatismus wird dabei das Konzept der Situationsdefinition übernommen. So differenzieren Boltanski und Luc Thévenot in Über die Rechtfertigung (2007) nicht soziale Gruppen wie Bourdieu, sondern Situationen der Kritik, in denen Akteure sich auf unterschiedliche, übersituativ strukturierte, Rechtfertigungsordnungen beziehen, die Wertzuschreibungen organisieren. Ebenfalls pragmatistisch ausgerichtet und kritisch auf Bourdieu bezogen ist die Soziologie des Geschmacks von Antoine Hennion (1993, 2005, 2013). Er folgt Bourdieu, insoweit er Geschmack als distinktiv und kollektiv geprägt versteht. Wie Boltanski und Thévenot zielt er jedoch darauf, die kritischen Kompetenzen der Akteure ebenso wie ihre Reflexivität zu betonen – ebenfalls im Ziel, Amateure (im Sinne von ‚Liebhabern‘) nicht als passive Akteure zu begreifen (Hennion 2005: 136). Neben der Aktivität menschlicher Akteure ist es für diese „Soziologie der Mediation“ zentral, Praxis und Materialität zu verschränken und den Objekten des Geschmacks eine affizierende und transformative Qualität zuzuschreiben. Die. Damit wendet er sich gegen die untergeordnete Rolle, die diese in Bourdieus Lebensstilanalyse spielen, wo sie letztlich nur als Zeichen sozialer Positionierungen auftreten (Hennion 2005: 132).Footnote 14 Auch Nathalie Heinich entwickelt eine pragmatistische Kunst- und Kultursoziologie in Abgrenzung von Bourdieu (Heinich 1996, 2005, 2009), mit der sie auf dessen „reduction of cultural practices to distinction strategies“ (Heinich 2018: 187) reagiert. Dabei setzt sie sich, im Unterschied zu vielen anderen polarisierenden Stellungnahmen französischer Wissenschaftler:innen, differenziert mit Bourdieu auseinander (Heinich 2007).

Bernard Lahire formuliert in L’homme pluriel (1998) und La Culture des Individus. Dissonances culturelles et distinction de soi (2004) ebenfalls eine Kritik an der Kohärenzthese von Bourdieus Habituskonzept, das seiner Arbeit als Ausgangspunkt und Kontrastfolie dient (Lahire 1999b; Peter 2004b), um dagegen von „pluralen“ oder „dissonanten“ Dispositionen und Akteuren auszugehen und somit die Binnendifferenzierung von Subjekten oder Inhomogenität zu betonen. Es geht ihm darum, „noch stärker als bisher die Komplexität der sozialisierten Individuen [zu] berücksichtigen“ (Lahire 2011: 64). Dabei bleibt allerdings die Frage, welchen Stellenwert Lahire letztendlich der Vergesellschaftung überhaupt einräumt (Peter 2004b: 308 ff.), was sich auch in der Bezeichnung seiner Forschung als einer „psychologischen Soziologie“ (Lahire 1999a) ablesen lässt. Nicht explizit als Abgrenzung von Bourdieu, wohl aber von der Soziologie insgesamt (vor allem derjenigen in der Tradition Durkheims), versteht sich die Akteur-Netzwerk-Theorie Michel Callons (2006) und Bruno Latours (2001, 2007). Dabei finden sich – in der relationalen Denkweise – durchaus Überschneidungen zwischen Bourdieus Theorie der Praxis und der Akteur-Netzwerk-Theorie (Schinkel 2007; Schäfer 2013). An den (wenigen) Stellen, an denen sich Latour für die Inkorporierung des Sozialen interessiert, verweist er nicht nur auf Mauss’ Körpertechniken, sondern auch auf Bourdieus Habitus-Konzept (Latour 2007: 363–365). An diesen und vielen weiteren Anschlüssen ebenso wie an den Kritiken, an den Abgrenzungsbewegungen von Bourdieu in der französischen Soziologie und allgemein in der soziologischen Theorie zeigt sich, welche zentrale Position dieser Ansatz im sozial- und kulturwissenschaftlichen Feld in Frankreich, aber auch international bis heute einnimmt.