Die woke Rechte
AfD- und CDU-Politiker fordern mehr Repräsentation von Handwerkern und Landwirten im Bundestag. Das erinnert an die linke Agenda für mehr Diversität in der Politik. Ist das rechte Wokeness?
Nur Handwerker wissen, wie es ist, Handwerker zu sein. Deshalb sollten mehr Handwerker im Deutschen Bundestag sitzen – für mehr Diversität. Das klingt seltsam? Zugegeben, so spitz hat Karl-Josef Laumann seine Forderung nicht formuliert. Trotzdem bekommt man, wenn man Laumann so zuhört, den Eindruck, dass er Diversität und konservative Politik irgendwie unter einen Hut bekommt. Laumann ist Vorsitzender der CSA, dem sozialpolitischen Flügel der CDU. Er ist gelernter Maschinenschlosser, bekennender Katholik und sagt Sätze wie: „Die beste Entscheidung meines Lebens war, in meiner Heimat geblieben zu sein.“
Laumann sagt aber auch Sätze wie: „Wir müssen vorne auch Leute haben, die eine andere Biografie haben als die jetzigen.“ Damit meint er die Zusammensetzung des Deutschen Bundestags. Dass der zu 23,5% aus Jurist:innen besteht, obwohl nur 0,5% der Bevölkerung einen Jura-Abschluss haben, findet Laumann nicht gut. „Ich bin groß geworden in einer Ortsunion, wo man sehr darauf geachtet hat, dass man bei Kommunalwahlen sowohl mit Arbeitern, wie Landwirten, wie Selbstständigen antritt." Auch, wenn er es nicht so nennen würde: Was Laumann fordert, ist mehr Diversität im Deutschen Bundestag.
Natürlich ist diese Forderung nicht neu. Links gibt es schon lange den Wunsch nach mehr People of Colour, mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mehr FLINTA*-Personen in der Politik. Neu ist, dass es Laumann und auch manche AfD-Politiker:innen sind, die solche Forderungen stellen. Machen hier zwei entgegengesetzte Lager die gleichen Argumente? Ist Laumann etwa woke? Ja. Und nein.
Wissen und Sein
Zunächst zur Antwort „ja“. In einem wichtigen Sinn gleichen sich die beiden Forderungen. Ihr Kern besteht aus der gleichen Grundannahme: dass es eine gute Idee ist, die sozialen Gruppen der Bevölkerung im Bundestag zu repräsentieren. Dafür stützen sich beide Seiten auf die gleiche Begründung: Beide nehmen an, dass es Wissen gibt, zu dem bestimmte soziale Gruppen besseren Zugang haben. Um dieses Argument genauer zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Standpunkttheorie. Sie ist so etwas wie der theoretische Unterbau linker Forderungen nach mehr Diversität. Trotzdem ist sie kein geschlossenes politisches Programm, sondern ein weites Geflecht an Positionen, die erklären wollen, was soziale Identität mit Wissen zu tun hat.
Die feministische Philosophin Sandra Harding formuliert 1993 die zwei zentralen standpunkttheoretischen Grundannahmen so: „all knowledge attempts are socially situated and (…) some of these objective social locations are better than others as starting points for knowledge projects.“ („Alle Wissensbestrebungen sind sozial situiert und (…) manche dieser objektiven sozialen Orte sind besser als andere als Ausgangspunkt für Wissensprojekte geeignet.“) In anderen Worten: Was wir wissen, hängt immer damit zusammen, wer wir sind. Und manche Menschen können aufgrund ihrer sozialen Position bestimmte Dinge besser, wahrscheinlicher oder kritischer verstehen als andere. Harding meint spezifisch die Wissenschaft, doch ihre Thesen lassen sich auf die Politik ausweiten. Zum Beispiel: Wird im Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das sexistisch ist, dann fällt das am ehesten Frauen auf. Das tut es deshalb, weil in ihren Biografien eher Erfahrungen liegen, die sie dazu befähigen, Sexismus kritisch zu begegnen. Sie leben nun mal im Patriarchat, das sie täglich daran erinnert, dass sie es schwerer haben. Deshalb ist ihre Repräsentation wichtig.
Wie ist das nun mit Handwerkern? Wenn alles Wissen sozial situiert ist, dann kann es auch Wissen geben, zu dem bestimmte Berufsgruppen einen besseren Zugang haben. Grob gesagt: Es ist vorstellbar, dass die 23,5% Jurist:innen ein Problem eines Gesetzesentwurfs übersehen, das Handwerker:innen ohne Weiteres erkennen würden. Etwa dann, wenn das Gesetz sie strukturell benachteiligen würde. Die Forderung Konservativer und Rechter standpunkttheoretisch zu deuten ist nicht abwegig. Denn der Vorwurf, die jetzigen Abgeordneten würden die „Sorgen vieler Menschen“ nicht kennen und nicht wissen, wo „die Bürger der Schuh drückt“, scheint genau dieses kritische Bewusstsein des Bundestags zu fordern. Ein kritisches Bewusstsein durch bessere Repräsentation bestimmter sozialer Gruppen.
Nun zur Antwort „nein“. Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Forderungen. Dieser Unterschied liegt in den Gruppen, deren Repräsentation gefordert wird. Links sollen es mehr Personen aus marginalisierten Gruppen sein. Also jene, die strukturell benachteiligt werden - aufgrund von Gender, Race, sexueller Orientierung. Rechts spricht man dagegen spezifisch von „Handwerkern“ und „Landwirten“. Sind Handwerker und Landwirte marginalisierte Gruppen? Man kann argumentieren, dass diese einer strukturellen ökonomischen Benachteiligung unterliegen, die die woke Linke vergisst, weil sie einen zu engen Fokus hat. Doch diese Überlegung ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Laumann nicht deshalb die Repräsentation von Arbeitern fordert, weil sie diskriminiert werden. Wäre das sein Anliegen, müsste er konsequenterweise die, nun ja, offensichtlich diskriminierten Gruppen wie People of Colour genauso meinen wie seine Handwerker. Tut er aber nicht.
Erkenntnis durch Arbeit
Stattdessen wird einer bestimmten Gruppe ein Erkenntnisprivileg zugeschrieben, das völlig unabhängig von Diskriminierung besteht. Der FDP-Abgeordnete Manfred Todtenhausen, selbst Elektroinstallateurmeister, findet etwa, „Handwerker und Unternehmer“ würden mehr „Praxisnähe und Macher-Mentalität“ in den Bundestag bringen. Er fordert keine Gleichstellung Benachteiligter, sondern offensive Bevorteilung. Diese Bevorteilung stützt sich auf die Annahme, dass manche Menschen einfach besser für den Bundestag geeignet sind als andere. Weil sie es besser können, härter arbeiten, anpacken. Mit progressiver Gleichberechtigung hat dieses Gesellschaftsbild wenig zu tun.
Was hier passiert, ist Identitätspolitik. Linke und rechte Identitätspolitik haben gemeinsam, dass sie die Gesellschaft nicht in individuellen, sondern in kollektiven Identitäten denken. Sie steckt im Kern von rassistischer Anti-Einwanderungspolitik und der Vorstellung eines dominierenden Geschlechts, aber auch in der Ansicht, nur Trans*-Personen könnten die Interessen von Trans*-Personen vertreten. Nicht jede identitätspolitische Forderung wird standpunkttheoretisch begründet. Wenn doch, dann kommt diese Argumentation typischerweise von links.
Nun anscheinend auch von rechts. Ein bisschen woke ist die Rechte hier also schon. Nur bemerkt sie das selbst nicht. Während standpunkttheoretische Identitätspolitik der Strohmann für Kritik an linker Wokeness bleibt, scheint sich eben dieser Strohmann im eigenen Lager eingenistet zu haben. Er passt da so gut rein, dass er nicht weiter auffällt.•
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Zur Person
Yascha Mounk, ist Politikwissenschaftler und Associate Professor an der Johns-Hopkins-Universität. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und die ZEIT. 2022 erschien sein Buch Das große Experiment. Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert (Droemer). Nun ist mit Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee (Klett-Cotta) sein neues Buch erschienen. Seit ein Vorwurf der Vergewaltigung gegen ihn bekannt wurde, lässt Yascha Mounk, der diesen Vorwurf zurückweist, sein Amt als Herausgeber der ZEIT vorerst ruhen.