Der ehemalige Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) rechnet als Folge der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs mit „rauen Zeiten“ und drei bis fünf „sehr schwierigen“ Jahren für Deutschland. Das Wohlstandsparadigma der Bundesrepublik stehe mit Blick auf Zuwächse und große Verteilungsspielräume für mehrere Jahre deutlich in Frage. Auch ein Anstieg der Arbeitslosigkeit sei möglich. „Ich glaube, dass in einer gewissen Trägheit der Zivilbevölkerung auch noch nicht begriffen worden ist, was diese Zeitenwende bedeutet“.
Die USA würden sich seiner Ansicht nach mehr in den asiatisch-pazifischen Raum orientieren und deswegen Forderungen stellen. „Sie werden mehr Verantwortungsübernahme von Europa erwarten und deswegen spielt das Thema einer gewissen Führungsrolle von Deutschland eine zentrale Rolle“, betonte Steinbrück. „Ich glaube, dass die SPD das über Jahrzehnte verdrängt hat“.
Allgemein wünsche er sich eine „sehr viel heftigere und deutlichere Auseinandersetzung“ über die Prioritäten der Staatsausgaben, mit Blick auf die Folgen der Corona-Pandemie, die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, den Klimawandel, Wiederaufbauhilfe für die Ukraine, Digitalisierung, bezahlbares Wohnen, den Zustand der Schulen und der Infrastruktur im Land sowie eine demographiefeste Altersversorgung.
Aber nicht mit dem Effekt, „das Geld aus dem Sozialhaushalt wegzunehmen“, vielmehr solle es „unter dem Bedürftigkeitsprinzip“ denjenigen zukommen, „die die Verlierer dieser Gesellschaft sind“.
Scharfe Kritik an der EZB - und der Ukraine
Steinbrück, der als Minister mit der Euro-Finanzkrise konfrontiert war, kritisierte den Umgang der Europäischen Zentralbank (EZB) mit der Inflation. Diese sei vorhersehbar und „ein, zwei Jahre über uns schwebendes Risiko“ gewesen. Die aktuelle Situation sei nicht allein dem Krieg geschuldet. Viel mehr sei das Risiko schon vorher angelegt gewesen, „unter anderem durch eine ultraexpansive Politik der EZB“.
Die Bank habe die Inflation unterschätzt und versucht zu camouflieren. Steinbrück warf der EZB vor, sie habe „sehr viel Geld in die Märkte gepumpt und hätte wissen müssen, dass die Frage ansteht: Wie kriege ich die Zahnpasta wieder in die Tube?“.
Dass die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten könnte, sieht Steinbrück skeptisch. Dies sei allein dem Krieg geschuldet. „Es gibt da Aufnahmekriterien, und die Ukraine ist davon leider ziemlich weit entfernt“. Sie sei ein Land, „das von Oligarchen durchsetzt war, das hoch korrupt ist und das erkennbar eine sehr politische Justiz hat“.
Steinbrück zweifelt unterdessen auch daran, dass der jetzige Finanzminister, Christian Lindner (FDP), die Schuldbremse künftig wird einhalten können. „Ich weiß nicht, wie er es schaffen will. Vor allem, wie er es ohne Steuererhöhungen schaffen will“.
Möglich sei beispielweise eine Erhöhung der Erbschaftssteuer. Die Vermögenden seien die Gewinner der letzten zehn Jahre gewesen, die Bundesregierung müsse sich fragen, „ob nicht eine gewisse Erhöhung der Erbschaftssteuer“ zum Beispiel zur Finanzierung der Ausstattung von Schulen „eine richtige Maßnahme wäre“.
„Scholzen folgt auf Merkeln“
Außerhalb von Steinbrücks Interview kommentierten bei „Maischberger“ auch die Journalisten Ulrich Wickert (ehem. Tagesthemen-Moderator), Ulrike Herrmann (taz) und Michael Bröcker (The Pioneer) das aktuelle politische Geschehen.
Sandra Maischberger bat Ulrich Wickert gleich zu Beginn der Sendung um eine Definition des Wortes „Scholzen“ – ein Begriff, der von Scholz‘ bisherigem Verhalten in der Rolle des Kanzlers geprägt wurde. „Etwas ganz emotionslos so erklären, was eine politische Entscheidung ist. Aber so zu erklären, dass man ihn hinterher nicht darauf festnageln kann“, definierte Wickert. Als Gegensatz dazu sehe er „habecken“. In der Ukraine würde „scholz it“ für „viel versprechen – wenig halten“ stehen, las Maischberger vor.
Ulrike Herrmann empfand diese Definition als Kommunikationsstrategie. Sie betonte, dass „alle Politiker für ihre eigene Bevölkerung senden“. Im Falle einer Teilniederlage sei es wichtig kommunizieren zu können: „Das liegt nicht an uns, den Ukrainern, sondern das liegt am Westen.“
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