Ehemalige afghanische Ortskräfte kritisieren Bundesregierung
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Ortskraft unter Tränen: „Wie konnte man Afghanistan in dieser Situation allein lassen?“

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Drei Jahre nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan sprechen ehemalige Ortskräfte bei einer Diskussion im Deutschen Bundestag. Mit ihren Gefühlen sind die Veranstalter sichtbar überfordert.

Berlin – Ihre Verzweiflung ist greifbar, als die Frau am Saalmikrofon steht. Sie hat als lokale Ortskraft für die Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet, jetzt lebt sie seit ein paar Monaten in Deutschland. „Meine Eltern sind noch in Afghanistan, sie sind in Gefahr“, sagt sie unter Tränen im Paul-Löbe-Haus des Bundestags. Seit dem hastigen Abzug der internationalen Streitkräfte im August 2021 quält sie eine Frage: „Wie konnte man Afghanistan in dieser Situation allein lassen?“

Der Bundestag hat zum deutschen Engagement in Afghanistan eine Enquete-Kommission eingesetzt. Das Gremium aus elf Abgeordneten und elf Sachverständigen soll Fehler ergründen und Lehren aus dem 20-jährigen Einsatz für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik ziehen. Zu einem Zwischenfazit hat sie deutsche und afghanische Einsatzkräfte zur Diskussion eingeladen.

Die Bundeswehr fliegt nach ihrem Abzug aus Afghanistan lokale Ortskräfte aus Kabul heraus.
Die Bundeswehr hat vor allem nach ihrem Abzug aus Afghanistan lokale Ortskräfte aus Kabul herausgeflogen. © picture alliance/dpa/Bundeswehr | Marc Tessensohn

Fehler wurden einige gemacht während des Abzugs in jenem August 2021. Auf dem Flughafen von Kabul versuchten Männer, Frauen und Kinder, noch irgendwie auf Flüge zu kommen, um vor den Taliban zu fliehen. Menschen klammerten sich in größter Verzweiflung an Flugzeuge. Der Bundeswehr gelang es, afghanische Helferinnen und Helfer in Sicherheit zu bringen – viele gefährdete Ortskräfte konnten in dieser chaotischen Lage jedoch nicht gerettet werden.

Wer ist schutzbedürftig – und wer nicht?

Einige, die es nach Deutschland geschafft haben, sitzen jetzt im Bundestag. Die Moderatorin der Veranstaltung reagiert geduldig, als sie ihre Ängste um ihre Angehörigen schildern. Zugleich erklärt sie unmissverständlich, dass dies nicht das richtige Format sei für Anliegen jener Art. Was sollten die Soldaten und Seelsorger auf dem Podium schon dazu sagen?

Qais Nekzai vom Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte ist aus Bochum angereist, um den deutschen Einsatzkräften zuzuhören. Der Enquete-Vorsitzende, der SPD-Abgeordnete und ehemalige Berliner Bürgermeister Michael Müller, hat Nekzai persönlich in die Hauptstadt eingeladen. „Das hat mich sehr stolz gemacht“, sagt der Sozialarbeiter, „eine solche Ehre erfährt man nicht jeden Tag.“

Auch Nekzai meldet sich am Mikro zu Wort. Nicht so gefühlsgeladen wie seine Vorrednerin, aber eindringlich. Er spricht das Ortskräfteverfahren an, das nach seiner Meinung dringend reformiert gehört. Unter den Taliban gelte das Prinzip der Sippenhaft. „Um Angehörige zu schützen, muss der Begriff der Kernfamilie erweitert werden“, appelliert Nekzai an die Abgeordneten im Publikum. „Bisher schließt er nur den Ehepartner oder die Ehepartnerin und gemeinsame minderjährige Kinder ein.“

Ortskräfte fühlen sich nicht ernst genommen

Die Ernüchterung ist groß, als auch ihm vom Podium aus gesagt wird, dass er mit seinem Aufruf an dieser Stelle falsch sei. „Es wäre schön gewesen, wenn wir mit unseren Anliegen zumindest auf offene Ohren gestoßen wären“, sagt Nekzai mit ein paar Tagen Abstand. „Ich jedenfalls fühlte mich in diesem Moment nicht ernst genommen.“

Die Soldaten und Seelsorger heben an diesem Abend mehrfach hervor, dass der Afghanistan-Einsatz ohne die Zusammenarbeit mit den Ortskräften kaum möglich gewesen wäre. „Ein ähnliches Bild hat sich auch durch die Anhörungen der Enquete-Kommission ergeben, bei der wir auch mit zahlreichen Afghaninnen und Afghanen gesprochen haben“, sagt der Vorsitzende Müller auf Anfrage. Indes laufe das Bundesaufnahmeprogramm „immer noch viel zu langsam und bürokratisch – auch wenn es uns gelungen ist, viele tausend ehemalige Ortskräfte und besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland zu holen“.

Die Reform des Ortskräfteverfahrens ist im Koalitionsvertrag festgelegt. „Wir Grüne halten daran fest“, sagt die Grünen-Obfrau in der Enquete-Kommission, Schahina Gambir. „Die Kriterien dafür, wer als Ortskraft anerkannt wird, sind noch immer ungenügend.“ Beschäftigte von Subunternehmen würden nicht ausreichend berücksichtigt, die Definition von „Kernfamilie“ sei viel zu eng gefasst, der Stichtag für eine Antragsberechtigung wirke willkürlich. Gambir sieht die zuständigen Ministerien in der Verantwortung, Verlässlichkeit herzustellen.

Deutschland hat in Europa die meisten Afghanen aufgenommen

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erklärt gegenüber IPPEN.MEDIA, dass die Bundesregierung bereits „vielfältige Anpassungen und Erleichterungen beim Ortskräfteverfahren eingeführt“ habe. Überdies gebe es eine Verständigung zu Aufnahmen für gewisse Härtefälle. „Deutschland hat im europäischen Vergleich die meisten ehemaligen Ortskräfte mit Familienangehörigen aus Afghanistan aufgenommen“, sagt ein Sprecher. „Mit Blick auf die Aufnahme von Ortskräften der Entwicklungszusammenarbeit konnte rund 3.400 afghanischen Ortskräften eine Zusage gegeben werden.“ Von diesen Personen seien bislang mehr als 2.600 nach Deutschland eingereist, mit Angehörigen seien es rund 12.300 Menschen.

Aus Sicht des Patenschaftsnetzwerks fehlen noch einige Tausend, die wegen Visa-Problemen in Afghanistan festsitzen. „Vor allem die Ortskräfte, die vor 2013 für die Bundesrepublik gearbeitet haben, bleiben nach aktuellem Stand von dem Verfahren ausgeschlossen“, kritisiert Nekzai. Angehörige inklusive, geht er von bis zu 5.000 Menschen aus.

Im Englischen spricht man nicht von Ortskräften, sondern von „Local Allies“, von Verbündeten. In den USA gebe es eine ganz andere Wertschätzung für Menschen, die der Armee während eines Auslandseinsatzes geholfen haben, sagt Nekzai. „Wer mit den USA als lokaler Helfer zusammengearbeitet hat, genießt von Beginn an einen höheren Schutzstatus.“

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