Seine Mutter hatte seinen offiziellen Vater gestürzt und umbringen lassen. Sein leiblicher Erzeuger soll einer ihrer zahllosen Liebhaber gewesen sein. Ungeachtet seiner Rechte hatte sie den Thron bestiegen und ihn systematisch von der Regierung ferngehalten. Nach 36-jähriger Herrschaft versuchte sie kurz vor ihrem Tod, ihn von der Nachfolge auszuschließen und seinen ältesten Sohn zum Thronfolger zu machen: Zar Paul I. (1754 bis 1801) wäre wahrlich ein interessanter Fall für einen Psychiater gewesen.
Als er nach dem Tod Katharinas II., der Großen, am 17. November 1796 Zar von Russland wurde, setzte Paul denn auch alles daran, das Gegenteil seiner Mutter zu werden. Zunächst bereitete er seinem offiziellen Vater, Zar Peter III., gegen den Katharina 1762 erfolgreich geputscht hatte, ein pompöses Staatsbegräbnis, während er die Gebeine ihres berühmten Geliebten Grigori Potjomkin zerstreuen ließ.
Dann holte er seine „Gardetruppen“ nach St. Petersburg. Die 2500 Mann starke Truppe hatte er sich auf seinem Prinzenschloss Gattschina neben eigenem Hofstaat aufgebaut, mit dessen Mitgliedern er jetzt die wichtigsten (und lukrativsten) Posten im Reich besetzte. In der Abgeschiedenheit des 50 Kilometer südlich von St. Petersburg gelegenen Anwesens hatte sich Katharinas Sohn seine Traumwelt geschaffen, deren großes Vorbild das Preußen Friedrichs des Großen war, den schon Peter III. angebetet hatte. In Uniformen und mit Waffen aus dem Siebenjährigen Krieg ließ Paul seine Soldaten unentwegt paradieren. Auch für seine Entourage waren altmodische Perücken, Zöpfe und Kniehosen vorgeschrieben.
Den 42-Jährigen, der so lange von der Macht ausgeschlossen war, trieben Kontroll- und Verfolgungswahn. Allein in seinem ersten Regierungsjahr erließ Paul tausende Dekrete. Deren Befolgung überließ er seinen Favoriten, während er sich in der Rolle des allmächtigen Imperators gefiel, der in preußischer Uniform und umgeben von Dutzenden Adjutanten und Ordonanzen Paraden abnahm und sich in die gesicherte Michaelsburg zurückzog, die er sich aus Furcht vor Anschlägen erbauen ließ. Gern zitierte er ein Motto des römischen Kaisers Caligula: „Sollen sie mich ruhig hassen, solange sie mich fürchten.“
Das taten sie, und damit waren nicht nur die einfachen Untertanen, sondern auch der Adel gemeint. Das „Reglement für St. Petersburg“ etwa verordnete penibel den Tagesablauf seiner Bewohner, der streng überwacht wurde. Der Zar scheute sich nicht, Adlige, die seinen Anordnungen nicht nachkamen, in aller Öffentlichkeit mit dem Stock zu verprügeln.
Um jegliches „Jakobinertum“ zu tilgen, wurden Auslandsreisen, private Druckereien, die Einfuhr von Büchern und Musiknoten sowie französische Mode verboten. Wörter wie „Nation“ oder „Bürgerrechte“ durften nicht benutzt werden. St. Petersburg, bis dahin eine kosmopolitische Metropole, erschien Beobachtern bald wie eine deutsche Stadt – vor 200 Jahren.
Die zahlreichen Ansätze einer Modernisierung der Verwaltung gingen in diesem Wust an Anordnungen, die sich oft genug widersprachen, unter. Dazu gehörte zum Beispiel die Abschaffung der Steuerprivilegien für den Adel. Pauls wirre Außenpolitik sorgte zudem dafür, dass sich die wichtigsten Stützen des autokratischen Systems von ihm abwandten.
Hatte der Zar zunächst gegen die Französische Revolution gekämpft, fand er auf einmal im Ersten Konsul Napoleon Bonaparte einen gleichgesinnten Verbündeten. Ein fantastischer Plan entstand: Während französische Truppen in England landen würden, sollte eine Kosakenarmee von Sibirien aus nach Indien marschieren und das britische Kolonialreich zerstören. Dass viele Großgrundbesitzer am Getreideexport nach England gut verdienten, verschaffte Paul weitere Gegner.
Hinzu kam die allgegenwärtige Angst vor Verhaftung und Deportation, die wie ein Vorgriff auf die Sowjetunion Stalins erscheint. „Ging man abends zu Bett, wusste man nicht, ob im Laufe der Nacht nicht ein Polizist mit einer kibitka (Wagen) kommen würde, um einen auf der Stelle nach Sibirien zu verfrachten“, notierte ein Zeitzeuge. Um sicherzugehen, in einem solchen Fall nicht völlig mittellos zu sein, führten viele Adlige stets größere Geldbeträge mit sich.
So war es kein Wunder, dass man sich bald auf ähnliche Situationen in früheren Zeiten besann, in denen missliebige Herrscher mindestens vom Thron gestoßen worden waren. Dutzende Höflinge, Beamte und Gardeoffiziere, allen voran der Außenminister, der deutschstämmige Balte Peter Ludwig von der Pahlen, fanden in einer Verschwörung zusammen, die bald weit in die Gesellschaft St. Petersburgs reichte.
Ihre wichtigsten Verbündeten wurden Pauls älteste Söhne, der designierte Thronfolger Alexander und Konstantin. Um sie von irgendwelchen Usurpationsplänen abzuhalten, überhäufte sie ihr Vater mit nebensächlichen Aufgaben. Als die Verschwörer mit ihrem Plan an Alexander herantraten, seinen Vater abzusetzen und durch ihn als „Regenten“ zu ersetzen, wand der sich zunächst. Schließlich nahm er ihnen den Eid ab, dass Pauls Leben unangetastet bleiben und er in seinen Palast verbannt werden würde.
Die Zahl der Eingeweihten war längst so groß, dass bald die ganze Hauptstadt von dem Komplott ahnte. Auch der Zar erfuhr davon und erging sich in dunklen Prophezeiungen gegenüber seinen Söhnen und führenden Verschwörern. Die entschieden daraufhin, in der Nacht vom 22. auf den 23. März 1801 (nach dem gregorianischer Kalender) zuzuschlagen. Zuvor aber tranken sie sich auf ausgelassenen Gelagen Mut an. „Man kann kein Omlett braten, ohne Eier zu zerschlagen“, gab Pahlen vor, der zusammen mit dem deutschstämmigen General Levin August von Bennigsen die Führung übernahm.
Auf die Warnung eines Kammerdieners versteckte sich der Zar hinter einem Wandschirm, wurde entdeckt und – in Unterhose, Wams und Nachtmütze – aufgefordert, umgehend die Rücktrittserklärung zu unterschreiben, die seinen Sohn Alexander zum Regenten erklärte. Auf die wütende Frage, was er den getan habe, lautete die Antwort: „Sie haben uns vier Jahre lang gefoltert.“
Den Rest erledigten einige Gardeoffiziere. Sie prügelten auf den Zaren ein und schlangen seine Schärpe um den Hals. Als Paul die Schlinge lockern konnte, griff „eines der Untiere nach den empfindlichsten Teilen und drückt sie“, schreibt der Paul-Biograf Valentin Zubow. Alexander begriff, was geschehen war, als man ihn mit „Majestät“ ansprach. In St. Petersburg brach Jubel aus. Es wurde gefeiert, bis der Champagner ausging.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.
Dieser Artikel wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht.