Ein Verwegener: Vor 150 Jahren wurde der Kunsthändler Paul Cassirer geboren

Ein Verwegener: Vor 150 Jahren wurde der Kunsthändler Paul Cassirer geboren

Eine umfangreiche Biografie fehlt noch immer: Der Berliner Galerist und Kunsthändler Paul Cassirer trug dazu bei, den Kunstbegriff der Zeit zu erneuern.

Paul Cassirer (1871–1926).
Paul Cassirer (1871–1926).dpa/Ullstein

Berlin-Es wäre mühelos möglich, sich Paul Cassirer über dessen außergewöhnlichen Charakter anzunähern, so lebhaft sind die zeitgenössischen Schilderungen seiner Impulsivität und Leidenschaft. Die Schauspielerin Tilla Durieux zeigte sich noch ein halbes Jahrhundert später tief bewegt. „Die größte Freundschaft und Liebe“, schrieb sie in ihrer Lebensgeschichte „Meine ersten 70 Jahre“ über ihren Ehemann, „habe ich nur für Paul Cassirer gehabt, 20 Jahre lang. Das war für mich einer, der mich in eine andere Welt geführt hat, in die Welt, die ich mir erträumt habe, nämlich in die Welt der Kunst, der wirklichen Kunst.“

Der Abschied aus dieser Welt jedoch war jäh und tragisch. Der Scheidungstermin war anberaumt und alles war zur Unterschrift bereit, als Paul Cassirer aufsprang und aus dem Zimmer stürmte. Der Tod kam in operettenhafter Unerbittlichkeit daher. „Gleich darauf fiel ein Schuss“, erinnerte sich Tilla Durieux. „Ich stürzte ins Nebenzimmer und fand Paul am Boden liegend und mir entgegenrufend: ‚Nun bleibst du aber bei mir!‘“

Stilsicher im Auftritt, entschieden in der Zielrichtung

Wohl in der Absicht, eine besonders eindrucksvolle Szene zu machen, hatte er sich derart schwer verwundet, dass er zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Als Paul Cassirer am 7. Januar 1926 im Alter von 54 Jahren starb, galt er als Berlins einflussreichster Kunsthändler und kulturpolitischer Drahtzieher, der bereits vor der Jahrhundertwende tiefe Spuren in der deutschen Kunstwelt hinterlassen hatte. Gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Vetter Bruno Cassirer war er Sekretär der Künstlervereinigung Berliner Secession, die mit Malern wie Max Liebermann, Max Slevogt und Walther Leistikow ausdrücklich den Kunstbegriff ihrer Zeit erneuern wollte und sich gegen die konservativ-konventionellen Vorgaben des wilhelminischen Preußen richtete.

Das Wort Sekretär impliziert eine dienende Rolle, aber Paul und Bruno Cassirer übernahmen bald in gestalterischer Diktion nicht nur die Geschäfte der Künstlervereinigung, sondern nutzen ihre Verbindungen auch für den 1898 in der Viktoriastraße im Tiergarten eröffneten Kunstsalon Cassirer.

Sicher im Auftritt, überraschend in der Zusammenstellung, entschieden in ihrem Vorgehen – innerhalb weniger Monate war der Kunstsalon Cassirer zu einer der wichtigsten Adressen der europäischen Kunstwelt geworden. Und die beiden Vettern wussten, was sie stilvollendet – den Salon hatte der belgische Architekt Henry van der Velde entworfen – auf die Beine gestellt hatten. „In aller Bescheidenheit“, schreibt Paul Cassirer an den Maler Max Slevogt, „es gibt wohl kein Unternehmen, das den Ruf besitzt wie das unsere.“

In der Rückschau liest sich die Liste der Ausstellungen wie eine Enzyklopädie der modernen europäischen Kunst. Degas, Renoir und Cézanne wurden hier, erstmals in Deutschland, mit größeren Ausstellungen bedacht. Bald kamen van Gogh, Munch und andere hinzu. Eine große Portion Idealismus, aber auch ökonomischer Spürsinn trieb die Cassirers an.

Mit Manet und Monet zu money

„Mit Manet und Monet zu money“, witzelte ein Karikaturist in den „Lustigen Blättern“. Aber die jungen Kunsthändler und Galeristen stellten die französischen Impressionisten nicht nur aus. Das allein schon hätte als Kampfansage gegen den vorherrschenden Kunst-Akademismus aufgefasst werden können. Vielmehr aber zwangen sie die internationalen Künstler und ihre Werke in einen kommunikativen Zusammenhang mit ihren deutschen Kollegen. Wenn schon konfrontativ, dann sollte daraus sichtbar etwas hervorgehen. Anschauung und Idee warben im Kunstsalon Cassirer um Aufmerksamkeit, Anerkennung und Widerspruch.

Paul Cassirer, porträtiert von Otto von Kalckreuth
Paul Cassirer, porträtiert von Otto von KalckreuthMärkisches Museum

Paul und Bruno Cassirer aber kamen einander bald selbst ins Gehege. Eine Frauengeschichte, so wurde gemunkelt, aber nie vollends aufgeklärt. Die Vettern trennten ihre beruflichen Aktivitäten fortan und vereinbarten vertraglich, dass der eine dem anderen geschäftlich nicht in die Quere kommen dürfe. Paul übernahm die Galerie, Bruno die Verlagsbuchhandlung, die sich bald auch ein literarisches Programm zulegte.

Paul Cassirer blieb zudem Geschäftsführer der Berliner Secession, trieb die Vereinigung später aber indirekt in die Auflösung, weil ein Streit darüber entbrannt war, ob Cassirer als Nichtkünstler auch deren Vorsitz übernehmen könne. Der Bildhauer und Schriftsteller Ernst Barlach wäre durchaus dafür zu haben gewesen. „Ich sehe in Cassirer nur nebenbei den Kunsthändler“, schrieb er an Karl Scheffler, der die Zeitschrift Kunst und Künstler im Verlag Bruno Cassirers herausgab, „der Mann hat einen ganz anderen Radius und macht sich durch den mehr als menschlich üblichen Atem natürlich unliebsam bemerkbar, zumal er es unterlässt, dafür zu sorgen, dass sein Tun und Treiben immer im anerkannten Sinn motiviert erscheint.“

Cassirers Hang zum Theatralischen

Barlach umschrieb auf vornehm-zurückhaltende Art die immer wieder sich bemerkbar machende Eigenschaft Paul Cassirers, sich selbst im Wege zu stehen. Aus sorgsam gehaltener Distanz sah Karl Scheffler die Angelegenheit weniger verschnörkelt. Dabei war ihm Cassirers Hang zum Theatralischen nicht verborgen geblieben. „Er war von Natur hysterisch aufgeregt und hatte eine schlechte Kinderstube gehabt. Doch machte er aus dieser Anlage auch eine Rolle zurecht: Er spielte seine Aufregung.“

Ein Beispiel blieb Scheffler in seinen Memoiren nicht schuldig. Als es in der Berliner Secession wieder einmal hoch herging, trat Cassirer in aller Ruhe von außen hinzu und fragte kühl und überlegt: „Was meinen Sie, muss ich mich entrüsten?“ Als der Angesprochene bejahte, bekam die Secession einen weiteren Cassirer-Auftritt frei Haus. Karl Scheffler mochte trotz aller Skepsis Paul Cassirer die posthume Anerkennung allerdings nicht verwehren: „Er gehörte zu den verwegensten Vorurteilslosen der Zeit und anerkannte kein Gesetz als den nur halb beherrschten Trieb in seiner Brust.“

Peter Paret, ein Enkel Paul Cassirers, versuchte später eine Beschreibung mit familiärem Einfühlungsvermögen und aus historischer Distanz. „Bruno war reserviert, pragmatisch, konnte sich schwer entscheiden, und wenn er es einmal getan hatte, hatte er nicht die Gabe, es laufen zu lassen. Paul war impulsiv, immer bewegt und immer bewegend. Bekannt für seine brillante Beredsamkeit, mit einem spektakulären Verstand begabt, der niemals seinen spielerischen experimentellen Charakter verlor.“

So hätte man mit anekdotischem Augenzwinkern auf dieses Kapitel der Berliner Kunstmoderne schauen können, wenn das Erbe der Cassirers und letztlich auch die Spuren jüdischen Lebens in Berlin insgesamt in den ersten Nachkriegsjahren in Ost und West nicht beinahe vollständig ausgelöscht gewesen wären. Ein kunsthistorisches Versäumnis, das erst in jüngerer Zeit aufgearbeitet wurde. In der DDR erschien in der Wendezeit eine umfangreiche Arbeit des Kunsthistorikers Georg Brühl über „Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus“, von Sigrid Bauschinger ist bei C.H. Beck eine Darstellung über die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der weit verzweigten Cassirer-Familie erschienen. Ausführliche Monografien über das Leben und Werk der ungleichen Vettern Paul und Bruno Cassirer fehlen indes noch immer.

Die Wiederentdeckung des Kunstsalons Cassirer

Umso höher ist die editorische Leistung von Walter Feilchenfeldt und Bernhard Echte zu bewerten, die in insgesamt sechs Prachtbänden die Ausstellungstätigkeiten des Kunstsalons Cassirer zwischen 1898 und 1906 wieder zugänglich gemacht haben. Weil hinreichende Dokumentationen über die Galerie nicht existierten, hat Echte sich ins Archiv begeben und die Ausstellungen anhand der Presseberichterstattung und Kritiken rekonstruiert. So ist es wohl auch der üppigen Berliner Presselandschaft um 1900 zu verdanken, dass nahezu lückenlos Auskunft über die gezeigten Werke und sogar deren Hängung in der Galerie gegeben werden kann.

Für das Leben Paul Cassirers indes darf noch immer gelten, was der Kunstkritiker Oskar Bie angesichts des bei den Cassirers gezeigtes Bildes „Déjeneuer sur l’herbe“ von Edouard Manet empfand: „Man steht da und staunt.“