Hermann Wagener – ein konservativer Sozialist? Rückblick auf den Vortrag von Dr. Christopher Peter

Der Segen der Alters- und Invalidenversicherung, Holzstich, um 1890 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Reproduktion: Jürgen Hollweg); Hermann Wagener, undatierte Fotografie

Seine „impertinenten Bettelbriefe an Bismarck“ und sein Antisemitismus, der mit Verschwörungstheorien gekoppelt war, erlauben heute keinen ungetrübten Blick auf Hermann Wagener – dieses Resümee zog sein Biograf Dr. Christopher Peter in der vergangenen Woche im Historischen Bahnhof Friedrichsruh. In seinem Vortrag hatte er zuvor Wagener als einen politisch extrem ambivalenten Akteur skizziert.

Hermann Wagener und Otto von Bismarck einte nicht nur das gemeinsame Geburtsjahr 1815. Über den gemeinsamen Freund Moritz von Blanckenburg kamen sie sich früh politisch näher. Während Bismarck, damals als Gutsherr, die Revolution 1848 mit starker Ablehnung verfolgte, entzog sie Wagener die finanzielle Existenzgrundlage: Der Jurist galt seinen Vorgesetzten als zu reaktionär und wurde aus dem Staatsdienst entlassen. Aber das konservative Netzwerk um Ernst Ludwig von Gerlach, zu dem beide gehörten, hielt. Wagener wurde Gründungschefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung, Bismarck schrieb für sie anonym mehrere Beiträge, wurde Abgeordneter und Diplomat. Nach starker Kritik aus konservativen Kreisen an seinen „polemischen, oft beleidigenden Leitartikeln“ sei Wagener entnervt zurückgetreten, erzählte Dr. Peter. In dieser Phase sei er zudem in einen Konflikt mit den Staatsorganen geraten, weil er die preußische Regierung für ihre deutschlandpolitische Abgrenzung von Österreich kritisiert habe. Bismarck setzte sich für eine stattliche Abfindung ein, mit der Wagener dann vom Sohn eines armen Landpfarrers zum Gutsbesitzer sozial aufsteigen konnte. Allerdings verschuldete er sich mit Fehlinvestitionen hoch – sein Finanzgebaren sollte später zu seinem endgültigen Sturz in die Bedeutungslosigkeit führen.

Dr. Christopher Peter

Zunächst aber wurde Wagener Abgeordneter und innenpolitischer Berater des neuen preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Klares Ziel beider war der Machterhalt der preußischen Monarchie. Um es zu erreichen, habe Bismarck vor allem auf außenpolitische Erfolge gesetzt, erläuterte Dr. Peter, Wagener dagegen innenpolitische Maßnahmen favorisiert. Um die liberalen, bürgerlichen Kräfte zu schwächen, wollte er die „missliebige Presse bestrafen oder verbieten lassen“, liberal gesinnte Beamte sollten gemaßregelt oder entlassen werden. Die rechtliche Emanzipation der Juden habe er rückgängig machen wollen und eine Ghettoisierung in ländlichen Regionen propagiert – „diese Vorschläge erinnern heute an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte“, sagte Dr. Peter. Wagener habe außerdem gemeint, die Arbeiterschaft gegen das Bürgertum für die Unterstützung der Monarchie gewinnen zu können. Daher habe er ein allgemeines, gleiches Männerwahlrecht, einen Mindestlohn und sogar eine Eigentumsbeteiligung der Arbeiter an den Fabriken gefordert. „Das ging Bismarck zu weit“, dennoch habe er sich auf einige Ideen eingelassen. So habe Wagener den Kontakt zum Arbeiterführer Ferdinand Lassalle vermittelt, mit dem sich Bismarck dann zu einigen Gesprächen getroffen habe.

Dr. Peter ordnete in seinem Vortrag auch die politische Ideenwelt Wageners ein. Er selbst sei kein innovativer Denker gewesen, sondern habe verschiedene Publizisten rezipiert und deren Ideen übernommen. Von zentraler Bedeutung seien für ihn drei Konzepte gewesen: das monarchische Prinzip, gekoppelt an eine christlich-germanische Staatslehre und die Überzeugung von einem Gottesgnadentum des Königs; die „historische Rechtsschule“ nach Friedrich Carl von Savigny, verstanden als Instrument der Bewahrung der ständischen Ordnung unter allenfalls langsamer Anpassung bestehender Institutionen an gesellschaftliche Veränderungen; das soziale Königtum im Sinne Lorenz von Steins, wonach die Monarchie sozialpolitisch tätig werden sollte. Wagener habe sich daher auch erste Gedanken über eine Rentenversicherung gemacht.

Nach der Reichsgründung blieb Wagener innenpolitischer Berater Bismarcks, 1872 wurde er sogar zum 1. Vortragenden Rat im Preußischen Staatsministerium ernannt. Der tiefe Sturz folgte wenig später: 1873 enthüllte der Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker, dass Wagener vertrauliche dienstliche Informationen genutzt hatte, um als einer der Hauptaktionäre der Pommerschen Zentralbahn durch Aktienspekulationen hohe Gewinne zu erzielen. Er wurde aus dem Staatsdienst entlassen, aber von Bismarck weiterhin unterstützt – bis er anfing, Erpressungsbriefe zu schreiben, in denen er Bismarck mit der Veröffentlichung von Korrespondenz drohte.

Der Reichskanzler habe sich nicht erpressen lassen, so Dr. Peter, und Wagener habe mit ihm seinen letzten Förderer verloren. Die Sozialversicherungsgesetzgebung setzten andere um, Wagener blieb als Publizist tätig und starb verarmt 1889 am Berliner Stadtrand.

Zum Abschluss diskutierte Dr. Peter die titelgebende Frage seines Vortrags: „Hermann Wagener – ein konservativer Sozialist?“ Seine Ideen seien zwar nicht im engeren Sinn sozialistisch gewesen, lautete die Einschätzung. Aber ohne seine Kernüberzeugungen aufzugeben, habe er die immense Bedeutung der sozialen Frage erkannt.

Literatur:
Christopher Peter
Hermann Wagener (1815 – 1889). Eine politische Biographie
Berlin 2020 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 181)