Otto Geßler: Er vollstreckte die Reichsexekution gegen Sachsen - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Kopf des Tages
  4. Otto Geßler: Er vollstreckte die Reichsexekution gegen Sachsen

Kopf des Tages Reichswehrminister Otto Geßler

Er vollstreckte die Reichsexekution gegen Sachsen

Weimarer Republik 1923: Über Monate hinweg waren Reichswehr und ihr Minister Otto Geßler von Sachsen attackiert worden. Im Oktober gab der liberale Amtsinhaber der Truppe schließlich den Befehl, die SPD-KPD-Regierung in Dresden abzusetzen.
Leitender Redakteur Geschichte
Vorgehen der Reichswehr gegen die kommunistischen Hundertschaften in Sachsen. Verhaftung eines kommunistischen R‰delsf¸hrers durch Reichswehr. Vorgehen der Reichswehr gegen die kommunistischen Hundertschaften in Sachsen. Verhaftung eines kommunistischen R‰delsf¸hrers durch Reichswehr.
29. Oktober 1923: Reichswehrminister Otto Geßler befiehlt den Truppen, die rot-rote Regierung in Sachsen abzusetzen
Quelle: Bundesarchiv CC-BY-SA 3.0

Er hatte sich wirklich bemüht. Sogar persönlich war Reichswehrminister Otto Geßler (1875–1955) im Mai 1923 nach Dresden gereist, um den Konflikt mit Sachsens linkssozialdemokratischer Landesregierung auszuräumen. Doch obwohl Ministerpräsident Erich Zeigner danach den Streit für beigelegt erklärt hatte, gingen die Angriffe gegen Geßler weiter.

Seit Ende Juni attackierte Zeigner die Armee sogar fast täglich. Nun verlangte Geßler im Kabinett, eine offizielle Mitteilung der Reichsregierung herauszugeben, dass die erhobenen Vorwürfe nicht zuträfen. Eigentlich wollte er aber etwas anderes: Der Ministerpräsident und seine Minister müssten abgesetzt, ein Reichskommissar ernannt werden. Der Reichswehrminister verlangte also die Reichsexekution gegen Sachsen.

10 Jahre deutsche Reichswehr! Der erste Oberbefehlshaber der deutschen Reichswehr, der verstorbene Reichspräsident [Friedrich] Ebert beim Abschreiten einer Ehrenkompagnie auf dem Platz der Republik in Berlin
Reichspräsident Friedrich Ebert (M.) und Reichswehrminister Otto Geßler (r.) beim Abschreiten einer Ehrenkompanie
Quelle: Bundesarchiv

Das war das schärfste Instrument, das die Weimarer Reichsverfassung vorsah. Seit dieses Grundgesetz im August 1919 in Kraft getreten war, hatte es noch keinen Einsatz dieser Regelung gegeben; die Hürde, es jetzt zu tun, war also hoch. Zumal seit dem 13. August 1923 in Berlin eine Große Koalition regierte, geleitet von dem Nationalliberalen Gustav Stresemann als Reichskanzler. Weil seine DVP, die linksliberale DDP, zu der auch Geßler gehörte, und das katholische Zentrum gemeinsam nur 168 der 459 Reichstagsabgeordneten stellten, hatte Stresemann die SPD ins Boot geholt.

Nun, zwei Monate später, wollte also einer seiner wichtigsten Minister eine SPD-geführte Landesregierung stürzen (oder noch lieber so sehr unter Druck setzen, dass sie freiwillig zurücktrat). Zwar waren auch die drei Sozialdemokraten im Berliner Kabinett von dem Dresdner Linksausleger Zeigner schwer genervt, wollten aber trotzdem gegen den Widerwillen ihrer Fraktion und der Funktionäre so eine Entscheidung nicht durchsetzen.

Seit der Ausrufung des zivilen Ausnahmezustandes im Reich wegen des Abbruchs des „Ruhrkampfes“ und Bayerns anschließendem Alleingang Ende September 1923 übte Geßler die vollziehende Gewalt aus. Wesentliche Grundrechte waren auf Zeit suspendiert, die Befehlshaber der Wehrkreise durften Weisungen aus Berlin notfalls mit militärischer Gewalt durchsetzen.

Dazu kam es nicht, aber Zeigner attackierte den für Sachsen zuständigen Reichswehr-General Alfred Müller trotzdem weiter öffentlich. Am 6. Oktober 1923 drängte Geßler im Reichskabinett, dem Treiben in Dresden Einhalt zu gebieten. Doch noch einmal gelang es Stresemann, den Konflikt zu entschärfen; Geßler akzeptierte schließlich, noch abzuwarten.

Tatsächlich verzichtete Zeigner auf zusätzliche Eskalation: In einer Regierungserklärung am 12. Oktober 1923 vermied er es, Geßler persönlich anzugreifen. Ansonsten jedoch teilte der linke Sozialdemokrat kräftig aus, und zwar in einer Tonlage, die von jener der KPD nicht mehr zu unterscheiden war. Kein Wunder: Zeigner hatte zwei Tage zuvor mit den aus Moskau gesteuerten Kommunisten eine Koalition gebildet.

Vorgehen der Reichswehr gegen die kommunistischen Hundertschaften in Sachsen. Abriegeln einer Strasse durch Reichswehr mit gefälltem Bajonett in Freiberg in Sachsen.
Eine Straße in Freiberg in Sachsen wird durch Reichswehr mit gefälltem Bajonett abgeriegelt
Quelle: Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0

Damit verschärfte sich die Tonlage zwischen Berlin und Dresden weiter. Schon am 22. Oktober marschierten Reichswehrtruppen unter dem Kommando von General Müller in die größeren sächsischen Städte ein; nennenswerte Gegenwehr gab es nicht, sondern etwa in der Landeshauptstadt einen begeisterten Empfang. Fünf Tage später musste entschieden werden, wie die Truppen weiter vorgehen sollten: Würde die offizielle Reichsexekution gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung kommen?

Das bedeutete, dass Reichspräsident Friedrich Ebert das Dresdner Kabinett von Soldaten absetzen und aus den Regierungsgebäuden entfernen ließ – notfalls mit Gewalt, falls sich die Minister und ihre Mitarbeiter weigern sollten. Die drei SPD-Minister im Reichskabinett versuchten, die Entscheidung noch hinauszuzögern. Deshalb unternahm Stresemann noch einen allerletzten Versuch zur friedlichen Klärung der Lage. Er schickte einen Brief nach Dresden und forderte den Ministerpräsidenten auf, von sich aus zurückzutreten.

Anzeige

Zeigner antwortete so postwendend wie herablassend: „Herr Reichskanzler! Ich bestätige den Empfang Ihres Schreibens vom 27. Oktober 1923. Das in ihm enthaltene Ansinnen, zurückzutreten, lehnt die sächsische Regierung entschieden ab.“ Nun war die Reichsexekution unausweichlich.

Vorgehen der Reichswehr gegen die kommunistischen Hundertschaften in Sachsen. Verhaftung eines kommunistischen Rädelsführers durch Reichswehr.
Straßenszene in Sachsen Ende Oktober 1923
Quelle: Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0

Am 29. Oktober gab Geßler Müllers Truppen die entsprechenden Befehle. In Dresden blieb alles ruhig, als Reichswehrsoldaten mehrere Ministerien und den Landtag besetzten. Gegenwehr bewaffneter Kommunisten gab es nur vereinzelt, wobei allerdings vor allem in Freiberg und in Pirna mehr als 30 Menschen starben. In Berlin traten daraufhin die SPD-Minister, von Fraktion und Funktionären gedrängt, zurück und ließen die Koalition platzen.

Das hatte Otto Geßler gewiss nicht gewollt – doch die sächsische Regierung hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Geboren 1875 in Ludwigsburg bei Stuttgart, gehörte Geßler zu den erfahrenen liberalen Politikern der Weimarer Republik. Nach dem Jura-Studium war er als Staatsanwalt und Richter in den bayerischen Justizdienst gegangen, wurde aber schon 1910 zum Bürgermeister von Regensburg gewählt. Vier Jahre später wechselte er als Oberbürgermeister in Bayerns zweitgrößte Stadt Nürnberg. „In dieser Stellung hat er während des Krieges mit großer Umsicht die Geschicke seiner Stadt geleitet“, schrieb sein Biograf Thilo Vogelsang, „und mit dazu beigetragen, dass Nürnberg und die fränkischen Gebiete im Wesentlichen von den Nachkriegswirren verschont geblieben sind.“

1919 trat er als Minister für Wiederaufbau ins Reichskabinett ein und im folgenden März, nach dem gescheiterten Kapp-Putsch, übernahm Geßler die Leitung der Reichswehr. Die SPD hatte ihren eigenen Minister Gustav Noske gezwungen, dieses Amt aufzugeben. „Unter den amtierenden Ministern schien Geßler der geeignetste zu sein, in kritischer Situation das Amt des Wehrministers zu übernehmen“, fasste Vogelsang zusammen. Bis Anfang 1928 blieb der liberale Reichswehrminister im Amt, dann fiel er einer Intrige aus der Truppe zum Opfer. Doch als Präsident des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge blieb er öffentlich präsent.

Otto Gessler, der ehemalige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (undatiert). Der Jurist und Politiker war 1918 maßgeblich an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) beteiligt. 1920-1928 übte er als Mitglied der Regierung das Amt des Reichswehrministers aus. Während des zweiten Weltkriegs wurde Dr. Otto Gessler 1944-1945 im KZ Ravensbrück interniert. Er wurde am 6. Februar 1875 in Lindenberg im Allgäu geboren und verstarb im März 1955. +++(c) dpa - Report+++
Otto Geßler (1875–1955) Anfang der 1950er-Jahre
Quelle: picture-alliance/ dpa

Obwohl sich Geßler ab 1933 sehr zurückhielt, wurde er nach dem misslungenen Staatsstreich 1944 festgenommen. Die Gestapo fürchtete, er könnte wie der knapp ein Jahr jüngere Konrad Adenauer Teil einer „Gegen-Elite“ werden. Sieben Monate war er inhaftiert und wurde zeitweise schwer misshandelt, obwohl er fast 70 Jahre alt war.

In die Politik kehrte er nach dem 8. Mai 1945 nur für wenige Monate zurück, unter anderem als erster Chef der Bayerischen Staatskanzlei in München. Hauptsächlich aber kümmerte er sich um den Wiederaufbau erst des bayerischen, ab 1950 auch des Deutschen Roten Kreuzes. Sieben Wochen nach seinem 80. Geburtstag starb Otto Geßler im September 1955.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema