Gemälde von Otto Dix: Im Krieg stirbt das Gute, das Schöne

Gemälde von Otto Dix: Im Krieg stirbt das Gute, das Schöne

1932 verarbeitete Otto Dix den Ersten Weltkrieg in einem Triptychon. Heute lesen wir die Tafeln als universellen Ausdruck für Aggression und Zivilisationsbruch.

Ein Hauptwerk der europäischen Malerei aus dem Zeitalter der Moderne im Albertinum Dresden: Otto Dix’ „Der Krieg“ (1929/1932), Triptychon mit Predella, Mischtechnik auf Sperrholz.
Ein Hauptwerk der europäischen Malerei aus dem Zeitalter der Moderne im Albertinum Dresden: Otto Dix’ „Der Krieg“ (1929/1932), Triptychon mit Predella, Mischtechnik auf Sperrholz.VG Bild-Kunst, Bonn 2022/SPK, Gemäldegalerie Neue Meister Dresden

Berlin-„Dix malte die Summe aller Kriege.“ Diesen Satz meiner Lehrerin habe ich nie vergessen. Wir waren auf Klassenfahrt in Dresden und besuchten die Galerie Neue Meister. Dort hängt seit 1965 Otto Dix’ Altarbild „Der Krieg“, ein Triptychon mit Predella. Es füllt die ganze Stirnwand des Bildersaals. Und ich war nicht vorbereitet auf das, was ich da sah.

Es war, als zöge man mir den Bast von der Seele: Schützengräben, durch Pulverqualm und Schlamm watende, im Morast versinkende Soldaten mit Tornistern und Karabinern. Gasmasken. Verwüstetes Geisterland, verkohltes Holz, Leichenberge, herausquellende Gedärme, aus dem Schlaf geschreckte, vor einer Feuerwolke fliehende Menschen. Einer mit einer blutigen Kopfbinde. Ein Selbstporträt des Malers, kriegsverletzt. Und in der Predella: junge Soldaten. Tot oder nur erschöpft schlafend? So oder so: Kanonenfutter.

Otto Dix hat die Tafel 1932 gemalt. Er lehrte damals an der Dresdner Kunsthochschule, in seinem Atelier an der Brühlschen Terrasse entstand ein Meisterwerk, angelehnt an Grünewalds Isenheimer Altar von 1515. Weltkulturerbe. Aber uns Teenagern war dieses brutale Requiem beinahe unerträglich. Krieg gehörte für meine Generation zu etwas Fernem und Abstraktem aus den Erzählungen der Großväter. Wir interessierten uns für die Beatles, träumten von Levi’s-Jeans und von all den Traumorten der Welt, wo Ostler nicht hinkonnten.

1964 in seinem Atelier in Hemmenhofen am Bodensee, dem Fluchtort während der Nazizeit: der Maler Otto Dix (1891–1969).
1964 in seinem Atelier in Hemmenhofen am Bodensee, dem Fluchtort während der Nazizeit: der Maler Otto Dix (1891–1969).Imago

Doch sollte der Dix-Altar auf suggestive Weise nachwirken. Damals fand ich keine rechten Worte für die Motive. Heute weiß ich, dass es diese Nähe zu der in Kunst verwandelten Grausamkeit war. Die dramatisch-ästhetische Aufladung der Farben, der Formen, die rabiate zyklische Unterteilung. Und diese schneidende Genauigkeit, der expressive, nervöse Pinselduktus. Und vor allem die fast altmeisterlich-sakrale Stilisierung des Infernos, der Apokalypse.

Als ich vor Tagen – es war die fünfte Woche von Putins Krieg gegen die Ukraine – im Dresdner Albertinum wieder einmal vor dem Werk stand, da nahm ich auch diese verstörende Ambivalenz zwischen Pazifismus, kriegerischem Pathos und fatalistischer Schicksalsergebenheit wahr. Was für ein hochkomplexes Meisterwerk der deutschen, der europäischen Kunstgeschichte! Und welche Aktualität! Dabei wäre es Otto Dix, geboren 1891 im thüringischen Gera, gestorben 1969 in Hemmenhofen bei Singen, gewiss lieber gewesen, er hätte diesen Altar nie malen müssen aus dem inneren Drang heraus, sich den Horror (er ließ sich freiwillig einziehen nach Flandern) von der Seele und aus dem Kopf zu malen.

Das Stigma des „entarteten“ Künstlers

Die Nazis jagten den Maler 1933 auch wegen dieses Altars aus dem Dresdner Hochschulamt, belegten ihn mit dem Verdikt „entartete, jüdisch-bolschewistische Unkunst“ sowie „gemalte Wehrsabotage“. Zweihundertsechzig seiner Bilder wurden aus deutschen Museen entfernt, verschachert, teils zerstört oder mit Glück von Sammlerinnen und Sammlern gerettet.

Dix zog überstürzt mit seiner Familie an den Bodensee, malte und zeichnete fortan aus Furcht vor Hitlers Bütteln und Schergen unpolitische Akte und Landschaftsbilder. Dass sich seine Kriegsmotive auf den Schlachtfeldern und in den Todeslagern des Zweiten Weltkrieges wiederholen würden, trieb den gealterten Künstler erneut in Entsetzen und Schwermut.

Als man in der DDR das Dresdner Altarbild – während des Krieges hatten Freunde es vorsorglich eingelagert – auf den ersten Kunstausstellungen zeigte, wurde dem Maler vom Land Sachsen mitgeteilt, man wolle dieses „einzigartige Dokument von erschütternder Gewalt, welches auch die Antwort auf Fragen nach dem Zeitgehalt von Kunst nicht schuldig bleibt“, erwerben. Zunächst indes blieb es bei einer Leihgabe.

1959 war der Kriegsaltar im Zwinger zu sehen, 1965 kam es zum Ankauf. Seitdem hängt Dix’ Hauptwerk im Albertinum. Zur Eröffnung war der 74-jährige Maler vom Bodensee angereist. Ihm sei „das Warnen vor der Kriegsgefahr das Wichtigste“, sagte er. Nur drei Jahre zuvor war die Welt im Kalten Krieg wegen der Kubakrise hauchdünn einem atomaren Schlagabtausch entgangen.

Der Mensch in seinem Wahn

Und nun sehen wir in den Medien die Kriegsbilder mitten aus Europa, aus der Ukraine. Im 21. Jahrhundert! Der von mehr als 70 Prozent der Russen gewählte Machthaber Wladimir Putin überzieht seit dem 24. Februar das Bruderland mit Schrecken, Tod, Zerstörung. Wir sehen, nur 1200 Kilometer von Berlin entfernt, die Ruinen der Städte, die Feuer- und Rauchsäulen, die Toten in den Straßen, die Massengräber, die verstörten Zivilisten, die verkohlten Körper, Bäume, Autos.

Und dann, in Dresden vor dem Dix-Altar, wurde mir das Universale des Werkes bewusst. „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“, schrieb der antike Dichter Aischylos. Im Krieg verliert der Glaube an das Gute und Schöne. Und Schiller hatte recht in seiner „Glocke“: „Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.“

Das Fernsehen hat die Bilder des von russischen Raketen zerborstenen Brückenpfeilers vor Irpin gesendet. Die Ermordeten des Massakers von Butscha, die Gräueltaten der russischen Soldaten in Borodjanka und die nahezu dem Erdboden gleichgemachte Stadt Mariupol. Zeugnisse eines Bruderkrieges, wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation sie aufzählt seit den Schlachten von Sparta gegen Athen, den blutigen Merowinger-Kämpfen, der Pariser Bartholomäusnacht, den Sezessionskriegen in den USA oder Bismarcks Militäraktion gegen Österreich.

Dix hat die Vernichtungsschlacht um Verdun von 1916 gemalt, und er kündigte ein Jahr vor der Machtübergabe an die Nazis wie ein antikes Orakel den Zweiten Weltkrieg an: den Überfall auf europäische Länder im Osten wie im Westen, den Völkermord und den Holocaust. Auch die 28 Monate dauernde Blockade des hungernden und frierenden Leningrads. Und das große Sterben von Stalingrad 1942/43.

Putins Zivilisationsbruch im frühen 21. Jahrhundert ist durch nichts zu rechtfertigen. Mögen sich in jedem Krieg dieser Welt die Sieger feiern, am Ende gibt es nur Verlierer: die Menschen, die Natur. Das Gute und Schöne. Genau das besagen Dix’ Tafeln, die linke, die rechte, die in der Mitte. Da sehen wir einen Schützengraben, den ins Licht gesetzten Ort des Grauens. Der Himmel brennt, wir blicken in die Tiefe der Zerstörung wie in einen Trichtersog.

Mittendrin ein Soldat mit Gasmaske – unklar, ob er noch lebt – als stummer, blinder Zeuge des Schreckens. Über ihm ragt ein auf Metallstangen aufgespießter lebloser Körper, die Kleidung in Fetzen: Die Gestalt nimmt mit ausgestrecktem Zeigefinger die Form eines Sensenblattes an. Als Groteske schwebt sie über der Szene als Symbol des triumphierenden Todes. Wir sind im Land der Letzten Dinge.