Die Mitteilung war so knapp wie demütigend: „Nachdem der Herr Reichspräsident mich durch die Verordnung vom 20. Juli 1932 zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt hat, enthebe ich Sie Ihres Amtes als Preußischer Ministerpräsident. v. Papen.“ Diese harsche Botschaft des Reichskanzlers Franz von Papen hatte ein untergeordneter Beamter der Reichskanzlei an eben dem 20. Juli 1932 gegen 10.45 Uhr in Otto Brauns Privatwohnung, einem bescheidenen Haus in der Dessauer Straße (heute Gilgestraße) in Berlin-Zehlendorf, abgegeben – in einem gesiegelten Umschlag.
Mit so etwas hatte der Sozialdemokrat Braun nicht gerechnet. Seit Anfang Juni war er offiziell beurlaubt gewesen, nachdem er angesichts der „negativen Mehrheit“ von NSDAP und KPD bei der Wahl zum Preußischen Abgeordnetenhaus am 24. April 1932 keine Regierungskoalition zustande gebracht hatte – die beiden antidemokratischen Parteien waren auf zusammen 49,56 Prozent der Stimmen gekommen und sogar auf 219 der 423 Sitze.
Zunächst war der 60-jährige Braun an diesem 20. Juli, einem Mittwoch, eher verblüfft als entrüstet. Er entschloss sich, in seinen Dienstsitz zu fahren, das Staatsministerium in der Wilhelmstraße 52, und rief seinen ranghöchsten Mitarbeiter an, Ministerialdirektor Eduard Nobis, um sich informieren zu lassen und einen Wagen zu bestellen. Doch was der vier Jahre ältere Jurist ihm berichtete, brachte Braun aus der Fassung: Das Staatsministerium wäre von Soldaten der Reichswehr besetzt, die Dienstwagen seien namens der Reichskanzlei sichergestellt. Wütend antwortete Braun, dann werde er eben ein Taxi ins Regierungsviertel nehmen und sich dort verhaften lassen.
In Wirklichkeit hatte Nobis seinen Chef angelogen: Das Staatsministerium war noch keineswegs besetzt und die Dienstwagen hatte auch niemand beschlagnahmt. Erst nach dem Telefonat mit Braun rief der Karrierebeamte in der Reichskanzlei auf der anderen Seite der Wilhelmstraße an und verriet die Ankündigung seines Chefs. Daraufhin ging ein Trupp Soldaten los, um die Pforte zum Staatsministerium zu besetzen. Doch Braun kam nicht; seine Wut war direkt nach dem Gespräch mit Nobis tiefer Resignation gewichen. So endete die Amtszeit des wichtigsten Demokraten, der jemals Preußen regiert hatte.
Otto Braun, geboren 1872 in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen, hatte acht Jahre die lokale Volksschule besucht und danach eine Lehre als Steindrucker begonnen. Mit 16 Jahren hatte er sich der seinerzeit verbotenen SPD angeschlossen und sein ganzes Engagement in die politische Arbeit gesteckt.
In seiner Heimatstadt Königsberg hatte er die erste SPD-Parteizeitung gestartet und zum Erfolg geführt. Seinerzeit hatte die SPD keinerlei bezahlte Funktionärsposten zu verteilen; auch eine staatliche Parteienfinanzierung gab es nicht. Braun verdiente sein knappes Auskommen bei der „Preußischen Volkszeitung“, saß für seine politische Arbeit sogar insgesamt sieben Monate in Haft und errang zum ersten Mal 1913 ein Abgeordnetenmandat, das aber auch nur mit einer geringen Aufwandsentschädigung dotiert war.
Als stets pragmatischer, lösungsorientierter Politiker war Brauns Zeit im Zuge der Novemberrevolution 1918 gekommen: Er übernahm Verantwortung im, mit jeweils rund zwei Dritteln der Fläche, der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Kraft weitaus wichtigsten Land des Deutschen Reiches, Preußen. Seit 1920 als gewählter Ministerpräsident, amtierte er mit zwei kürzeren Unterbrechungen (März bis November 1921 sowie Februar bis April 1925) insgesamt fast zwölf Jahre als Regierungschef und verdiente sich den Spitznamen „Roter Zar von Preußen“.
Ganz im Gegensatz zum verbreiteten Vorurteil wurde Preußen unter Braun zum Garanten des Rechtsstaates in Deutschland. Preußens Polizei war vorbildlich im Kampf gegen linke wie rechte Extremisten. Allerdings fehlte Braun völlig das Talent als Redner; dies verhinderte seinen Aufstieg in die höchste Spitze der Regierung. Als immer mehr Wähler statt pragmatischer Demokraten Nazis und Kommunisten wählten, verlor Otto Braun die Basis seines Einflusses.
Ab dem 20. Juli 1932, der als „Preußenschlag“ bekannt und berüchtigt wurde, als Beispiel für einen autoritären Putsch von oben gegen einen Rechtsstaat, machte Franz von Papen aus Preußen binnen weniger Monate wieder einen autoritären Beamtenstaat. Nobis übrigens wurde für seine Lüge mit der Beförderung zum Staatssekretär belohnt.
Nach der Machtübernahme Hitlers konnte Braun noch in die Schweiz flüchten, wo er in zunehmender Armut die NS-Zeit überstand. Er versetzte seinen materiellen Besitz, zeitweise musste er bei Freunden um eine warme Mahlzeit betteln. Ende 1955 starb Otto Braun im Alter von fast 84 Jahren weitgehend vergessen in Locarno.
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