Geht das Abendland noch immer unter? 100 Jahre Oswald Spengler | BR24
Der Philosoph Oswald Spengler
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Geht das Abendland noch immer unter? 100 Jahre Oswald Spengler

Ein Geschichtsentwurf auf 1.300 Seiten - und zugleich ein Publikumserfolg: "Der Untergang des Abendlandes" traf 1918 Jahren auf einen pessimistischen Zeitgeist. Was lernen wir heute aus der damaligen Angst vor dem Ende?

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

In der öffentlichen Debatte, in Politik und Medien werden gegenwärtig viele Untergangsszenarien gezeichnet. Der Diskurs ist nervös, der Ton verschärft sich, konstruktive Rhetorik und kreatives Denken haben es schwer. Aber woher speisen sich eigentlich die Ängste der Gegenwart? Und welche positiven Erzählungen könnte es geben? Unsere Serie "Hurra, wir denken noch! Keine Angst vor der Angst" erkundet das Feld zwischen Schrecken und Utopie.

Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlands" war nach seinem Erscheinen vor 100 Jahren ein viel gelesenes Buch. Das erklärt sich aus der historischen Situation der Weimarer Republik. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, die von vielen als Demütigung empfundenen Versailler-Verträge: Das Buch erlaubte es, beides in ein großes heilsgeschichtliches Schema einzuordnen. Der österreichische Philosoph Peter Strasser hat zum Jahrestag einen Essay über Spenglers Thesen vorgelegt. Für ihn ist Spenglers Untergangs-Theorie Anlass, auf die Gegenwart zu schauen – und zwar positiv. Joana Ortmann hat mit Peter Strasser gesprochen.

Joana Ortmann: Herr Strasser, zuerst vielleicht die Frage: Mit welchem Begriff von "Abendland" haben wir es bei Spengler zu tun?

Peter Strasser: Das ist nicht so klar, wie es eigentlich der Fall sein sollte, wenn man ein Buch zur Hand nimmt, das immerhin fast 1.300 Seiten umfasst. Man hat ein bisschen das Gefühl – auch wenn man die heutige Diskussion verfolgt – dass dieser Begriff "Abendland", je nachdem, wer ihn verwendet, ein bisschen als Projektionsfläche benutzt wird.

Das "christliche Abendland" ist negativ konnotiert, aus diesen und jenen Gründen und dann gibt es neuerdings die neuen rechten Abendlandverteidiger. Die wünschen sich, wenn ich das recht verstehe, eine Restauration des Abendlandes. Es stellt sich die Frage: Was ist es denn, das einerseits Gegenstand der Kritik ist, des Abscheus sogar, und andererseits wiederhergestellt werden oder doch Gegenstand einer tiefen Besinnung sein soll?

Bei Spengler ist das Abendland ja immerhin eine Hochkultur.

Ja. Spengler geht davon aus, dass die Menschheitsgeschichte sich aus einer Reihe von Hochkulturen zusammensetzt, darunter die abendländische Kultur, die indische Kultur, die antike Kultur und andere auch. Diesen Kulturen muss eine sogenannte Kulturseele innewohnen. Die drückt sich im kulturellen Geschehen als ein Ursymbol aus. Und er hat – das klingt alles ein bisschen mysteriös – für das Abendland ein Ursymbol, nämlich die Unendlichkeit, die Ausdehnung ins Unendliche. Deswegen spricht er auch von einer faustischen Kultur, die er mit bestimmten Attributen versieht: Sie sei eine Kultur des Wollens über die bestehenden Grenzen, auch über die Grenzen des Menschen hinaus. Da spielen romantische Motive hinein, es kommen auch schon "Blut und Boden"-Motive dazu.

Jedenfalls geht es um eine Kultur, die von einem Wunsch der Überwindung des Bestehenden und dem Drang ins Unendliche getragen wird. Das wichtigste Beispiel aus der großen abendländischen Kultur, das Spengler immer bringt – damit beginnt eigentlich das Abendland für ihn – ist die Kultur der Gotik: die Kathedralen, das himmelwärts Strebende. Es geht um dieses Pochen, dieses Wollen im Hintergrund, das Über-Sich-Hinausgehen, das Transzendieren, das Metaphysische. Das ist Abendland. Aber das ist noch ziemlich wenig und eigentlich eine ziemlich konturlose Angelegenheit. Man muss es also irgendwie konkreter fassen.

Gleichzeitig geht es ja bei ihm auch um eine negative Heilslehre. Die Zerstörung ist schon in der Vorstellung mit drin, oder?

Spengler hat ja von Goethe die sogenannte Morphologie übernommen, die Gestaltlehre. Sie stammt aus dem Reich der Pflanzen und der lebenden Gebilde, die einen Anfang haben und einen Prozess durchlaufen: Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter. Das legt er auf die Geschichte und danach auf die Kulturen und sagt, das Abendland sei an einem Punkt angelangt, vor allem deshalb, weil der Rationalismus, die Aufklärung, die Geldwirtschaft dominant geworden sind, wo aus der großen Kultur eine Zivilisation wurde. Zivilisationen können nach Spengler zwar technisch große Leistungen hervorbringen, sind aber ideell und geistig ausgetrocknet, sind nicht mehr kreativ und müssen daher absterben. Insofern ist unsere Welt für ihn eine Welt des Untergangs: Sie ist zwar zivilisatorisch hochgerüstet, aber kulturell tot - deswegen "Untergang des Abendlandes".

Warum ist diese Vorstellung hundert Jahre nach diesem Buch wieder so attraktiv – und auch die damit verbundene Lust am Untergang?

Das ist eine komplizierte Frage. Das eine ist das Gefühl, das heute viele Intellektuelle und viele Politiker haben, dass die alten Sachen sozusagen nicht mehr greifen. Das zeigt sich deutlich in der Politik, wo immerfort davon die Rede ist, dass etwas Neues kommen muss, weil das Alte sich irgendwie überlebt hat. Das ist natürlich nach 1945 – wir dürfen ja nicht vergessen, wir leben noch immer in einer Nachkriegsepoche – eine Rede der Ermüdung, die hier stattfindet. Man will etwas Neues, aber zugleich sieht man, dass das, was wir haben, und darauf lege ich großen Wert, vermutlich das Beste ist, was die Menschheit sich jemals antun konnte.

Unsere Kultur in Form der liberalen Demokratien ist sozusagen Produkt des Erbes der Aufklärung, des Humanismus, auch eines befriedeten Christentums, das auf karitative Aspekte und auf die Nächstenliebe großen Wert legt. Wir leben in einer Gesellschaft, die ist liberal, die ist tolerant, die schützt den Einzelnen, sodass er sich nicht fürchten muss, von den Mächtigen verfolgt zu werden, wir haben Menschen- und Grundrechtssicherungen und in manchen Ländern Europas auch eine starke sozialstaatliche Komponente.

Deswegen ist es eigentlich so absurd, wenn immer vom Untergang die Rede ist. Wir müssen alle diese Elemente, das Aufklärungs-Element, das Element des Humanismus, dass der Mensch nach Selbstverwirklichung und Autonomie strebt, und auch diese christlichen Aspekte der Nächstenliebe, diese Vorstellung des Universalismus, dass die Menschheit eine Solidargemeinschaft ist - all das müssen wir stärken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ein anderer ist die Reaktion der Neuen Rechten. Darüber muss man reden, denn die lehnt das alles ab.

Wenn die Lust am Untergang auch ein Symptom der Langeweile in einer Gesellschaft oder einer Zivilisation ist, warum sind wir dann jetzt gerade an einem Punkt, wo sich zum Beispiel die Rechten diese Lust am Untergang als Modell schnappen – und auch die damit verbundenen Begriffe wie "Blut", "Volk", "Heimat"? Ebenso wie die Angst vor Überfremdung, die ja bei Spengler auch schon angelegt ist?

Da muss man zunächst sagen, dass die Neue Rechte, so wie es sich heute darstellt, soweit sie sich auf Spengler beruft, einen Irrtum kultiviert. Denn Spengler war der Meinung: Wenn eine Kultur zu Ende ist und eine Zivilisation das Ende dieser Kultur signalisiert, wie unsere Art von Gesellschaftsform, dann kann man nicht mehr zurück. Man kann diese Kultur nicht mehr herstellen.

Bei Spengler kommt nach Zivilisation etwas ganz Anderes. Es kommen, wie er sagt, die "Caesaren". Das sind reine Machtmenschen. Bei Spengler, das übernimmt er von Nietzsche, ist ja das eigentlich tiefe Leben einer Kultur durch den Willen zur Macht bestimmt, und dieser Wille zur Macht ist nun kulturell gewissermaßen entmantelt, der läuft frei. Deswegen können jetzt Figuren auf die politische Szene kommen, die wollen gar nicht mehr mit Parteien Ideologien verbreiten, sondern nur mehr dem Machtinstinkt folgen im Sinne des Spenglerschen Diktums "Menschengeschichte ist Kriegsgeschichte".

Und daher ist auch diese ganze neurechte Idee eine, die in erster Linie davon lebt, dass sie etwas ablehnt : Sie lehnen die Demokratie ab, sie lehnen den ethischen und moralischen Universalismus ab und sie wollen die Restauration einer Art "Diktatur mit Tiefgang". Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, ein kurzes Zitat aus dem Ende des Spenglerschen Buches vorlesen, wo das ganz klar gesagt wird.

Sehr gerne, denn das ist ja ein interessanter Punkt, wenn Sie sagen, da passiert auch eine Fehlinterpretation von Spengler.

Das Zitat findet sich – für diejenigen, die es mir nicht glauben wollen – auf Seite 1194. Wer liest denn schon so weit? Dort steht: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" und "sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht". Worauf es Spengler hier anlegt, ist zu sagen: Recht hat die Weltgeschichte, sie allein ist das Weltgericht, sie allein bestimmt die Wahrheit und nicht das, was die Aufklärung oder der Humanismus als die Wahrheit des Menschen proklamieren. Auch die Idee, dass die Gerechtigkeit wichtiger sei als die Macht, das wird hier einfach weggewischt. Und es wird ausdrücklich gesagt, die Wahrheit und Gerechtigkeit wird von der Weltgeschichte der Macht und der Rasse geopfert. Ich meine, deutlicher geht es ja nicht mehr, oder?

Damit könnten wir aber auch wieder eigentlich sehr viel Kraft aus einer Vorstellung von Abendland ziehen, die vielleicht sehr positiv aufgeladen ist, oder?

Ja, natürlich. Ich habe in meinem Essay über Spengler darauf hingewiesen, dass das Abendland, das ja eine Projektionsfläche ist für allerlei Wünsche, auch insofern eine historische Realität sein könnte, als man sagt: Das Abendland – das ist ein Wort, das grenzt sich ab von dem, was Luther das Morgenland genannt hat – das Abendland setzt sich zusammen aus solchen Elementen der Aufklärung und des Humanismus, die dann zu diesen Formen des Liberaldemokratischen führen, die wir kennen.

Also, wir könnten sagen, unsere Kultur ist eigentlich entwicklungslogisch, geschichtslogisch gesehen die Vollendung des Abendlandes. Denn sie bringt die Potenziale eben dieser großen abendländischen Ideenkomplexe voll zur Geltung, die aus der Aufklärung, dem Christentum und dem Humanismus folgen. Das ist jetzt passiert und jetzt besteht die große Gefahr, dass wieder Leute an die Macht kommen, die alles das zerstören wollen. Und da rede ich weniger von neurechten Ideologen an irgendwelchen Universitäten, da rede ich wirklich von der großen Politik.

Das heißt, hundert Jahre nach dem befürchteten Untergang des Abendlandes sind wir in welchem Zustand?

Ich würde sagen, wir sind im Zustand der Vollendung und des Höhepunkts dieser langen abendländischen Entwicklung, meinetwegen seit dem Mittelalter oder dem Zeitalter der Gotik oder sonst irgendeiner Epoche. Das hat sich langsam entwickelt, über viele Schritte. Die Erfindung der liberalen Demokratie, so wie sie auch der von den Neurechten gehasste Karl Popper in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" beschreibt, die hat ihre Zeit gebraucht. Und jetzt haben wir – noch dazu bei uns in Deutschland, in Österreich und in anderen Ländern, in denen ein hoher Wohlstand herrscht – einen Punkt erreicht, wo man sagen kann: Na schön, wir haben zwar keine authentische Religion mehr, die ganz tief wirkt, wir haben das, was Spengler "zweite Religiosität" nennt. Das heißt, wir suchen uns aus verschiedenen Religionen einen Sinn unseres Lebens zusammen. Aber politisch gesehen ist es der Menschheit noch nie so gut gegangen und konnte sich die Menschheit ihrer selbst noch nie so sicher sein wie in diesen Ländern mit westlicher Kultur, die gerade auch in der Europäischen Union immer umstrittener zu sein scheint.

Und die wir jetzt eigentlich logischerweise mehr denn je verteidigen müssten, wenn ich sie richtig verstehe.

Die müssen wir verteidigen, natürlich! Wenn wir den Schalmeientönen der neuen Rechten folgen – ich meine, die reden ja nicht gleich vom "Blut und Boden" und Krieg, aber es wird doch klar, dass all das, was diese unsere Zivilisation zu bieten hat, ihre ganzen Freiheiten, dass all das schlecht geredet wird. Man könnte das Abendland verspielen, das ist meine Angst – das Abendland in dem Sinne, wie wir es jetzt besprochen haben.

"Spenglers Visionen. Hundert Jahre Untergang des Abendlandes" von Peter Strasser ist im Braumüller Verlag erschienen.