„Wie ist es, statt Filmregisseur nun Soldat zu sein, Oleh Senzow?“

„Wie ist es, statt Filmregisseur nun Soldat zu sein, Oleh Senzow?“

Der ukrainische Regisseur Oleh Senzow setzt in seinem Film „Rhino“ einen Darsteller mit rechtsradikalem Hintergrund ein. Ein Interview während seines Fronturlaubs.

Der ukrainische Filmregisseur Oleh Senzow
Der ukrainische Filmregisseur Oleh SenzowAFP/Miguel Medina

Oleh Senzows Profilbild auf Facebook zeigt ihn in Uniform, ein Maschinengewehr vor der Brust, ein Funkgerät um den Hals. Es ist ein Zeichen dafür, als was sich Senzow seit dem 24. Februar 2022 begreift: nicht länger als Filmregisseur, sondern als Soldat. Das macht er auch in unserem Gespräch sehr deutlich. Bevor sein zweiter Spielfilm „Rhino“ am 3. November in die deutschen Kinos kommt, die Berliner Premiere findet in der Kulturbrauerei in Anwesenheit des neuen ukrainischen Botschafters Oleksii Makeiev statt. schlüpft er für Interviews mit deutschen Journalisten noch einmal in die Rolle des Künstlers. Wir sprachen vor ein paar Tagen während seines Fronturlaubs per Videocall mit ihm.

Berliner Zeitung: Wie geht es Ihnen, Herr Senzow, und wo sind Sie gerade?

Oleh Senzow: Mir geht es gut, ich bin zu Hause in Kyjiw. Ich war ein halbes Jahr an der Front, im Donbass, und habe jetzt einen kurzen Urlaub.

Wie ist es für Sie, Soldat zu sein?

Das ist Arbeit, harte Arbeit. Man kann dabei getötet werden.

Und es ist eine Arbeit, bei der man selbst tötet, oder?

Ja. Das ist ein Krieg.

In Ihrem Film beschreiben Sie das Leben in der Ukraine in den 90er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine Zeit der Gesetzlosigkeit, Brutalität und Gewalt. Was hat Sie daran interessiert?

Brutalität und Gewalt gibt es in jedem Menschen. In ruhigen und stabilen Zeiten kommt das nicht zum Vorschein, aber wenn die Stabilität zerbricht, kommen diese animalischen Instinkte der Menschen hervor. Und das war der Fall, als die Sowjetunion zusammenbrach und der ukrainische Staat erst im Aufbau war. Damals herrschte auf den Straßen Gewalt, Gangster mit Gewehren und Baseballschlägern liefen herum. Das ist ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. Einer der Gründe für die Revolution im Jahr 2014 war der Kampf gegen diesen Zustand. Der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch hatte ein kriminelles, prorussisches System aufgebaut.

Wie hat sich die Ukraine seitdem verändert?

Die Ukraine als Staat und die ukrainischen Menschen haben sich sehr verändert. Aber damals haben wir unseren Institutionen nicht vertraut, weder der Regierung noch der Polizei noch den Gerichten. 

Bewirkt nicht  dieser Krieg wieder eine Art Zusammenbruch?

Nein. Die Ukraine ist eine Nation, die angesichts großer Probleme zusammensteht. Ich denke nicht darüber nach, wie dieser Krieg uns traumatisieren könnte, ich denke an den Feind und an die Front.

Sie waren mehrere Jahre in einem russischen Lager inhaftiert, danach haben Sie „Rhino“ gedreht. Was bedeutet Ihnen dieser Film?

Es war, als ob ich damit eine Schuld begleiche. Das Drehbuch habe ich 2012 geschrieben. Die Vorbereitungen für den Dreh wurden dann aber durch die Revolution unterbrochen, und dann haben die Russen mich gefangen genommen. Nach meiner Freilassung haben wir von vorn angefangen. Und binnen eines Jahres war der Film fertig.

Ihr Hauptdarsteller Serhi Filimonow ist kein Schauspieler, er hat einen rechtsradikalen Hintergrund. Warum wollten Sie ihn?

Serhi Filimonow ist ein einfacher Kerl aus einer sehr armen Familie, er hat zehn Brüder. Er war ein Fußball-Hooligan, und ja, er war ultrarechts, ein Straßenkämpfer. Aber jetzt arbeitet er in einer legalen Organisation. Und ich suchte nach genau einer solchen Person, die eine brutale, toughe, animalische Figur wie Rhino darstellen kann. Wichtiger noch: eine Person, die aufsteigen will. Als meine Assistentin ihn fand, war Filimonow in einer neuen Periode seines Lebens. Das fand ich interessant: Wie jemand, der ein schlechter Mensch war, das begriffen hat, und sich ändern möchte. Das ist das, was in „Rhino“ ja auch passiert. Und deshalb habe ich mich für Serhi Filimonow entschieden.

Haben Sie noch Kontakt zu Serhi Filimonow? Es heißt, dass er sich weiter in rechten Kreisen bewegt.

Nein. Ich kannte ihn vor dem Film nicht, und seit dem Dreh haben wir kaum Kontakt.

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AFP
Oleh Senzow
Der ukrainische Filmregisseur Oleh Senzow wurde 1976 in Simferopol auf der Krim geboren. Als Russland diese 2014 annektierte, geriet er als Gegner der Annexion in Haft. Er wurde in Russland wegen Terrorismus zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt, zahlreiche Filmemacher auf der ganzen Welt, Menschenrechtsorganisationen und auch russische Bürgerrechtler setzen sich damals für ihn ein. Während der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland trat er in einen Hungerstreik. 2019 kam er im Zuge eines Gefangenenaustauschs nach fünf Jahren Haft frei und nahm sofort die Arbeit an seinem zweiten Spielfilm „Rhino“ wieder auf.

Was ist mit den anderen Schauspielern, wo kommen sie her?

Es ist meine Methode, nicht mit professionellen Schauspielern zu arbeiten. Die Hälfte der Darsteller in „Rhino“ sind Laiendarsteller. Ich habe nach einfachen Typen gesucht, die ein schweres Leben haben. Ich wollte in „Rhino“ diese kriminelle Welt der 90er-Jahre in der Ukraine zeigen, deshalb habe ich das gemacht. Ich wollte diese Welt sehr realistisch darstellen.

Es gibt einige Folterszenen in diesem Film, und man kann nicht anders, als daran zu denken, dass Sie selbst auch gefoltert worden sind, als Sie in russischer Gefangenschaft waren. Gibt es eine Verbindung zwischen dem, was Sie erlebt haben, und der Folter im Film?

Diese Szenen beruhen nicht auf dem, was ich erlebt habe, sondern auf den Erfahrungen, die ein sehr enger Freund von mir gemacht hat. Ich habe das, was er mir erzählt hat, in meinem Film verwendet, künstlerisch bearbeitet natürlich.

Netflix hat „Rhino“ gekauft.

Ja, es ist der erste Spielfilm aus der Ukraine, den sie gekauft haben. Netflix hat sich aufgrund des Kriegs aus Russland zurückgezogen und ist in den ukrainischen Markt eingestiegen. Sie haben inzwischen noch mehr ukrainische Filme gekauft.

Der Film kommt am 4. November in die deutschen Kinos, war er auch schon in der Ukraine zu sehen?

Die Premiere hat eine Woche vor der Invasion stattgefunden.

Sie müssten in diesem Krieg nicht kämpfen, Herr Senzow. Oder sind Sie eingezogen worden?

Ich war auf diese offizielle Invasion vorbereitet, war überzeugt, dass das passieren würde. Und ich war entschlossen, zu kämpfen. Das war meine Entscheidung.

Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll: Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Sie als Filmemacher eine besondere Rolle für die ukrainische Gesellschaft spielen, dass Sie dazu beitragen, die Identität Ihres Landes zu formen, und dass Sie das nicht mehr tun können, wenn Sie tot sind?

Der Unterschied zwischen jemandem, der Filmregisseur ist, und jemandem, der das nicht ist, existiert gerade nicht. Es ist nicht wichtig, wer man vor dem Krieg gewesen ist. Jetzt geht es darum, für unser Land zu kämpfen, für unsere Freiheit. Natürlich möchten wir alle nicht sterben, wir versuchen, nicht daran zu denken. Aber das ukrainische Kino hat es lange vor mir gegeben und es wird lange nach mir existieren.

Was glauben Sie, wie wird die Kriegserfahrung, die Gewalterfahrung, die die Menschen seit Februar machen, das künftige Filmschaffen in der Ukraine beeinflussen?

Szene aus Oleh Senzows Film „Rhino“ mit dem Hauptdarsteller Serhi Filimonow
Szene aus Oleh Senzows Film „Rhino“ mit dem Hauptdarsteller Serhi FilimonowMovie Pilot

Ich glaube, das weiß im Moment niemand. Es ist schon so, dass wir uns alle gerade sehr verändern. Aber ich weiß nicht, was morgen passiert.

Ist es so, dass man sich im Krieg sehr auf die Gegenwart konzentriert?

Das tue ich schon lange. Das ist mein Lebensstil. Aber es ist wirklich so, dass man im Krieg lernt, im Moment zu leben, im Heute, und das zu schätzen. Denn man weiß, dass das Leben sehr schnell zu Ende sein kann.

Wie ist das Leben in Kyjiw? Es hat dort wieder Angriffe gegeben, oder?

Putin hat das Ziel, uns zu ängstigen, aber er hat nicht genug Mittel, das zu tun. Kyjiw ist sehr friedlich, daran haben auch die Drohnenattacken nichts geändert.

Wie lange werden Sie noch in Kyjiw sein?

Das hängt nicht von mir ab, sondern von meinem Kommandeur. Auf jeden Fall werde ich für unseren Sieg kämpfen. Bevor wir nicht gesiegt haben, werde ich keinen Film mehr machen.

Sie werden jetzt zum zweiten Mal vom Filmemachen abgehalten, erst durch die Gefangenschaft in Russland, jetzt kämpfen Sie in einem Krieg. Haben Sie manchmal das Gefühl, das Schicksal behandelt Sie schlecht?

Jeder hat sein eigenes Schicksal und trägt es, so gut er kann. Das ist das Leben, das ich habe.

Sprechen Sie eigentlich Ukrainisch, obwohl Sie auf der mehrheitlich russischsprachigen Krim aufgewachsen sind?

Ja, ich spreche Ukrainisch, aber ich bin mit Russisch aufgewachsen. So wie viele andere Ukrainer habe ich aus persönlichen und politischen Gründen beschlossen, nur noch Ukrainisch zu sprechen. Das ist eine der Veränderungen, die uns hoffentlich enger zusammenbringen.