In einem der berühmtesten Gedichte der deutschen Romantik träumt einer von einer Welt ohne Mathe. Für Millionen Schüler ist das täglich aktuell:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten
dann fliegt vor Einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.“
Zwölf Verse hat das Gedicht (das im Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ zu finden ist) – und keinen Titel. Sein Autor heißt Novalis (zu ihm und seinem seltsamen Namen gleich mehr). „Wenn … dann“: Das ganze Gedicht ist eine Konditionalkonstruktion. Es geht um die Welt, wie sie sein könnte oder sollte. Man hat das Gedicht oft als Absage an die rationale Welt und die exakten Wissenschaften gelesen, und tatsächlich steckt, von heute her gesprochen, ein bisschen Adorno („Dialektik der Aufklärung“) in ihm drin. Kaum hatten die Menschen mit Kant gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen (man nannte es: Aufklärung), begann schon wieder die Gegenaufklärung.
Die wahren Weltgeschichten
Statt tiefer Gelehrsamkeit und blanker Wahrheiten wollen Menschen eben auch ein bisschen Märchen und Geschichten („die wahren Weltgeschichten“), im Modewort „Narrativ“ klingt es heute oft an. Die Romantik glaubte an eine Welt, die jeder sich mit „singen oder küssen“ (also den Musen und Künsten) erträumen darf. Und wenn Novalis am Schluss seines Gedichtes zauberspruchgleich die Sprache der Poesie als Lösung präsentiert („dann fliegt mit EINEM geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort“), erinnert das wieder an Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ „Das ganze verkehrte Wesen“, das kann so ziemlich alles sein: der Krieg, zu lasche Klimaziele oder auch nur ein falsches Pronomen für Transmenschen. Das Passepartout der Romantik als Lizenz für alles Mögliche, das sich falsch anfühlt.
Wer aber war Novalis, der am 2. Mai 1772, also vor genau 250 Jahren, geboren wurde – und heute einer der berühmtesten Vertreter der Romantik ist? Er wurde nicht mal 29 Jahre alt, und Dichter war er bis dahin meist nur heimlich. Das Pseudonym Novalis („der das Neuland Bestellende“) gab er sich 1798, als er Freunden seine „Blüthenstaub“-Fragmente präsentierte. Fast alles von ihm wurde posthum veröffentlicht.
Eigentlich hieß er Friedrich von Hardenberg. Geboren im Mansfelder Land, einer alten Kupfer-Bergbauregion im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte er erst Jura in Jena, Leipzig und Wittenberg und folgte dann dem Beruf des Vaters, der Salineninspektor in Sachsen war, also Solequellen beaufsichtigte, die zur Salzgewinnung ausbeutet wurden.
Novalis drehte das Geschäft der Salzsiederei eine Stufe weiter, indem er es nicht mehr mit irren Mengen von Brennholz, sondern mit Braunkohle betreiben wollte. Für ein Aufbaustudium ging er an die Bergakademie Freiberg. Dort belegte er, wie man dem Stundenplan bis heute entnehmen kann, Chemie, „Geognosie“ (Geologie) und viermal die Woche „Reine Mathematik“. Also doch ein Mathehasser?