Sein Lebenslauf enthält alles, was man von einer Leitfigur der literarischen Romantik erwarten kann: aus einer alten Adelsfamilie stammend, geboren am 2. Mai 1772 im kursächsischen Schloss Oberwiederstedt, als Student der Montanistik in der Bergakademie Freiberg zu Physik, Chemie und Geologie hingezogen, „hinunter in der Erde Schoß“; im späteren Beruf Akzessist an der Salinendirektion in Weißenfels. Von Jugend an war er im Gespräch und Austausch mit Dichtern und Philosophen seiner Zeit, angefangen von Schiller, dem er während seiner Krankheit nahekam, bis hin zu Fichte, mit dem er leidenschaftlich diskutierte und dessen Philosophie ihm als „angewandter Christianism“, als Erinnerung an das vom Christentum entdeckte Ich, erschien.
Eine Liebestragödie erschütterte sein Leben (seine Braut Sophie von Kühn starb mit 15 Jahren). Auch er selbst starb jung, knapp vor seinem 29. Geburtstag. Mit Georg Büchner ist er der jüngste unter den deutschen Autoren klassischen Ranges. Zugleich war er der Intellektuelle unter den romantischen Poeten – Dichter und philosophischer Kopf in einem, immer auf der Suche nach der „Erhebung des Menschen über sich selbst“, ein Poet mit Luftwurzeln. „Poesie“, so bekennt er, „ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt“ („Fragmente und Studien“, 1797/98).
Für seine Veröffentlichungen wählte der junge Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772-1801) – so hieß er bürgerlich – den Namen Novalis, in Anlehnung an das Gut seiner Vorfahren Großenrode (lat. magna Novalis). Zum ersten Mal taucht sein Pseudonym 1798 in einer Sammlung von Fragmenten auf, die unter dem Titel „Blüthenstaub“ in der von Friedrich und August Wilhelm Schlegel herausgegebenen Zeitschrift „Athenaeum“, dem Organ der frühen Romantik in Jena, erschienen.
Fragmentarischen Charakter hat in großen Teilen auch sein Werk und seine Überlieferung: das gilt für die unvollendeten Epen „Heinrich von Ofterdingen“ und „Die Lehrlinge von Sais“, es gilt auch für die Gedichte, die sich nur selten zu einem Zyklus runden („Hymnen an die Nacht“, „Geistliche Lieder“) – vor allem aber gilt es für das umfangreiche theoretische Werk, das mehr als die Hälfte seiner Arbeiten ausmacht und sich aus philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien, aus historischen und politischen Fragmenten zusammensetzt. Zu Lebzeiten erschien nur weniges im Druck; der größte Teil der Schriften wurde erst nach dem Tod des Dichters publiziert; einiges ist bis heute unveröffentlicht.
Es ist, als sei dieser Autor ein Leben lang im Stand des mündlichen Sprechens verblieben. Positiv gesagt: seine Unmittelbarkeit und Lebendigkeit blieb von der Last der Buchstaben, vom Gewicht der Bücher nahezu unbeschwert. Die Freunde lasen ihn nicht, sie hörten ihn sprechen. „Unbeschreiblich viel Feuer, er redet dreimal mehr und dreimal schneller als wir andre“ – so charakterisierte ihn sein Freund Friedrich Schlegel. Wer die Texte von Novalis heute, nach 250 Jahren, laut liest, der spürt noch in der Gegenwart jene „üppige Leichtigkeit“, die der Dichter nach Schlegels Wort seinem Studium der Philosophie verdankt.
Novalis als Übersetzer
Sogar Novalis’ Übersetzungen wie die in der Freiberger Zeit entstandene der Horaz-Ode III, 25 strömen diesen Grundton aus, sie offenbaren eigene lyrische Qualitäten:
Wohin ziehst du mich,
Fülle meines Herzens
Gott des Rausches,
Welche Wälder, welche Klüfte
Durchstreif ich mit fremdem Mut.
Welche Höhlen
Hören in den Sternenkranz
Caesars ewigen Glanz mich flechten
Und den Göttern ihn zugesellen.
Unerhörte, gewaltige
Keinen sterblichen Lippen entfallene
Dinge will ich sagen.
Wie die glühende Nachtwandlerin
Die bacchische Jungfrau
Am Hebrus staunt
Und im thrazischen Schnee
Und in Rhodope im Lande der Wilden
So dünkt mir seltsam und fremd
Der Flüsse Gewässer
Der einsame Wald...
Viele Gedichte von Novalis haben etwas Beschwörendes; sie nehmen den Leser gefangen; Magie ist im Spiel. Es sind Carmina im Wortsinn, Bann- und Zaubersprüche. Der Dichter beherrscht den Umgang mit den verschiedenen Takten und Rhythmen; er kennt vor allem die Kunst des Einsatzes, des stimmunggründenden ersten Verses („Lobt doch unsre stillen Feste“; „Fern im Osten wird es helle“; „Himmlisches Leben im blauen Gewande“; „Ich sehe dich in tausend Bildern“).
Im Clinch mit Goethe
Noch jung, bezog Novalis eine eigene Stellung unter den Poeten seiner Zeit. Mit Autoren wie Wieland, Jean Paul, Hölderlin, Tieck und den Brüdern Schlegel blieb er lebenslang verbunden. Von anderen Meistern dagegen entfernte er sich im Lauf der Jahre. So von Lessing: in dessen Prosa fehle es ihm, wie er schrieb, „an hieroglyphischem Zusatz“. Und gegenüber „Herders Paramythien“ fand er die biblischen „allegorischer und poetischer“. Am kritischsten nahm Novalis Goethe in den Blick, den er im März 1798 in Weimar besucht und anfangs sehr bewundert hatte; er war ihm zu dieser Zeit als „der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden“ erschienen. Später nahm er ihn fast herablassend nur noch als „praktischen Dichter“ wahr. „Er ist in seinen Werken – was der Engländer in seinen Waren ist – höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft.“
Die Abneigung scheint wechselseitig gewesen zu sein. Denn als die Jenaer Romantiker sich 1799 über ein von Novalis dem Kreis vorgelegtes Prosastück zum Thema Europa beugten – und sich nicht einigen konnten, ob es im „Athenaeum“ veröffentlicht werden sollte oder nicht, als sie schließlich Goethe als Schiedsrichter anriefen, da riet dieser von einer Publikation ab. Novalis’ Text kam deshalb erst ein volles Vierteljahrhundert später, 1826, ans Licht der Öffentlichkeit, obwohl er historisch eng mit Schleiermachers Schrift „Über die Religion“ (1799) verbunden war, über die man in Jena gleichfalls diskutierte und stritt und von der Novalis zahlreiche Anstöße erhalten hatte.
Novalis und das Christentum
„Die Christenheit oder Europa“ ist Novalis’ berühmtester – und heute wohl sein aktuellster – Prosatext. Ist er wirklich nur, wie Gerhard Schulz urteilt, ein Experiment, „den Gedanken einer inneren Revolution in äußeren, geschichtlichen Bildern auszudrücken“? Bei allem Respekt vor dem bedeutenden Novaliskenner bin ich anderer Meinung. Novalis’ Rede – als solche hat er sie selbst bezeichnet – ist mehr und anderes. Für mich gehört dieser Text zu den noch kaum entdeckten deutschen Antworten auf die Französische Revolution – wobei er sich deutlich von den zwischen Zustimmung und Ablehnung schwankenden „Revolutionsetüden“ von Schiller-Goethe-Kleist unterscheidet, die Hans-Jürgen Schings in einer verdienstvollen Studie 2012 wieder in Erinnerung gebracht hat. Eher wirkt er wie ein vorweggenommener Büchner-Akzent (man lese „Dantons Tod“).
„Historisch merkwürdig bleibt der Versuch jener großen eisernen Maske, die unter dem Namen Robespierre in der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik suchte“ – so formuliert Novalis in seiner Rede den entscheidenden Punkt. Er spielt damit auf den 8. Juni (den 20. Prairial) 1793 an, an dem der französische Diktator in einer Feier im Tuileriengarten die neue Religion des höchsten Wesens verkündet und damit die religionsfeindliche Phase der Revolution beendet hatte.
Novalis deutet es dialektisch: auf dem Höhepunkt des revolutionären Terrors muss der Umschlag kommen, muss die verwaiste Religion die Herzen wiedergewinnen, muss ein „Mystizismus der neuern Aufklärung“ sich verbreiten. Und während Robespierre nur vage vom „höchsten Wesen“ spricht, hat der 21-jährige Novalis bereits eine „sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen“ im Auge – und so orientiert er sich ganz unbefangen an der katholischen Welt, Papst und Bischöfe eingeschlossen.
Das stürzte Goethe, aber auch die romantischen Freunde – alle Protestanten – in Verlegenheit. Denn schon die Berufung auf Religion in der Linie Schleiermachers war vielen anstößig (in Schelling, der unter Novalis’ Zuhörern war, weckte sie sogar den „alten Enthusiasmus für die Irreligion“). Das freilich hielt Novalis nicht von seinem Bekenntnis ab, mit dem er aus der Revolution, die sich vor seinen Augen abspielte, neue unerwartete Schlüsse auf die Zukunft zog: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installieren.“
Was würde der Dichter, lebte er heute, dem aktuellen Europa ins Buch schreiben? Wäre er heute ebenso spontan, ebenso kühn und unberechenbar, ebenso anstößig wie zu Lebzeiten? Könnte er darüber hinwegsehen, dass das Christentum in Europa inzwischen in vielen Ländern in die Minderheit geraten ist? Oder würde ihn dieses Negativbild gerade herausfordern, wie er im „Allgemeinen Brouillon“ 1798/99 schreibt: „Die Meinung von der Negativität des Christentums ist vortrefflich. Das Christentum wird dadurch zum Rang der Grundlage – der projektierenden Kraft eines neuen Weltgebäudes und Menschentums erhoben – einer echten Veste – eines lebendigen moralischen Raums“? Novalis’ 250. Geburtstag ist ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken.
Hans Maier, Jahrgang 1931, ist Publizist und ehemaliger Politiker. Er war bayerischer Kultusminister und langjähriger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Der voranstehende Text ist ein Vortrag, den Maier am 25. April an der Bergakademie Freiberg zu Ehren von Novalis gehalten hat. An der Hochschule hatte Novalis 1799 Naturwissenschaften und Bergbau studiert.