1 Erster Blick in Richtung Instabilität

„Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“

Heraklit (o. J.)

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach unserer Stabilität wird gegenwärtig und mit wachsender Selbstverständlichkeit auf die Sichtweise der sogenannten Spiritualität zurückgegriffen. Damit bekommt Spiritualität einen Status, von dem sie noch vor wenigen Jahrzehnten Lichtjahre entfernt war. War Spiritualität bis vor kurzem eher ein Privatvergnügen einiger weniger Spinner*innen, Exzentriker*innen und Aussteiger*innen, so ist sie, vereint mit dem Begriff der Meditation und Achtsamkeit, zum langersehnten Allheilmittel gegen (fast) alle Zivilisationskrankheiten geworden. Das Angebot an unterschiedlichsten spirituell-meditativen Praktiken ist schier unüberschaubar geworden. Diese Praktiken werden ebenfalls von unterschiedlichen Weltanschauungstheorien begleiten und untermauert, deren Anzahl gleichfalls unüberschaubar gewachsen ist und weiterhin wächst. Was ist hier richtig, korrekt und seriös? Die Frage ist mehr als berechtigt, wogegen die Kriterien für eine befriedigende Antwort erhebliche Schwierigkeiten bereiten.

Damit ist aber nicht genug. Denn in diesem kurzen Essay haben wir es eigentlich mit einem anderen Begriff zu tun, nämlich dem unserer Instabilität. Was unter der auf uns Menschen und zahlreiche andere Ereignisse und Sachen bezogenen Instabilität gemeint ist, gilt ebenfalls alles andere als eindeutig gesichert. Dass der Begriff mit größter Selbstverständlichkeit und Häufigkeit im Gebrauch ist, lenkt eher davon ab, genauer hinzuschauen, was mit ihm eigentlich gemeint ist und ob das Gemeinte auch genauso zutrifft.

So gesehen haben wir es hier mit einer Gleichung mit zwei Unbekannten zu tun, in der Instabilität und Spiritualität die gesuchten Variablen/Größen darstellen. Eine solche Gleichung wäre bekanntlich nur dann zu lösen, wenn zusätzlich eine zweite Gleichung zur Verfügung stünde, in welcher die gleichen beiden Unbekannten in einer anderen Konstellation vorkämen.

Was aber in der Mathematik möglich zu sein scheint, ist mit unseren beiden Unbekannten, nämlich der Instabilität und Spiritualität nicht zu bewerkstelligen. Oder kann jemand wirklich und allerernstes behaupten, mehrmals die exakt gleiche Spiritualität oder Instabilität selbst erlebt oder bei anderen wahrgenommen zu haben? Eine ähnliche vielleicht, aber die gleiche?

Damit aber werden wir niemals die beiden Unbekannten an sich bestimmen können, da diese vermutlich von unzählbaren, nicht ohne weiteres zu bestimmenden Einflussgrößen abhängen. Es bleibt lediglich der Versuch, unsere beiden Unbekannten durch starke Vereinfachungen näherungsweise voneinander abzuleiten. Das wiederum weist auf eine uns als unbequem erscheinende Tatsache hin, dass wir jede Einsicht und Bestimmung immer nur in Bezug auf eine andere Einsicht und Bestimmung hin erzeugen und erklären können. Die immer wieder so vielen Aussagen vorausgesetzte „Wahrheit“ an sich, welche für uns alle – und zwar täglich – den sicheren Grund und Boden erzeugen soll, wird es wohl nur als gedachte, ja sogar gewünschte oder ersehnte Größe geben. Mehr leider oder zum Glück nicht. Das es diese voraussetzungslose Wahrheit an sich so nicht nur nicht gibt, sondern auch noch nicht mal geben kann, war und wird einigen von uns immer wieder bewusst, häufiger aber bewusst verdrängt.

Werden wir also diese Gleichungen exakt aufstellen, geschweige denn lösen können? Ich glaube nicht. Das wäre die sogenannte schlechte Nachricht. Die gute Nachricht lautet: Wir müssen doch gar nicht unsere selbsterschaffenen Paradoxe, Widersprüche und Gleichungen mit vielen Unbekannten lösen. Was wir nämlich ganz gut können, ist nachzuvollziehen, wie es immer wieder dazu kommt, dass wir selbsterschaffene Probleme kreieren, um dann stolz sein zu können, wenn wir dafür Lösungen gefunden haben, welche wiederum künftige Probleme sein werden.

In unserem Fall könnte das bedeuten – und ich stelle die provokante These mal so hin –, dass unsere Instabilität nicht wirklich ein Problem ist und die Spiritualität wiederum keine Form von Lösung für was auch immer darstellt. Die Instabilität kann gerne Instabilität bleiben und Spiritualität kann es ebenfalls. Beide können sich gerne aufeinander beziehen, ohne dass die eine die andere vernichtet. Mehr noch: Vielleicht können sie ja, oder gar müssen gleichzeitig existieren, denn aufeinander bezogen kann eh nur alles genauso existieren, wie es gerade erscheint, und zwar gleichzeitig und damit für uns als ein unübersehbarer Haufen von Widersprüchen.

2 Zweiter Blick in Richtung Instabilität

„Sie verstehen nicht, wie das eine auseinanderstrebend ineinanderstrebt, wie gegeneinanderstrebend sich Bogen und Leier verbinden.“

Heraklit (o. J.)

Gibt es die Instabilität an sich? Üblicherweise und dem Mainstream folgend, müssten wir die Frage als eine rhetorische Frage auffassen und mit einem selbstverständlichem „Ja“ beantworten. Aber gerade diese Art der Selbstverständlichkeit steht nicht mehr so hoch im Kurs. Es ist sogar so, dass einige wichtige Selbstverständlichkeiten, die über Jahrhunderte hinweg als zweifelsfreie Grundlagen für unsere Handlungen gedient haben, plötzlich selbst in Frage gestellt werden. Das betrifft auch die Instabilität. Ist sie wirklich so gefährlich oder gar bedrohlich? Und wenn ja, dann wodurch?

Nun, auf den ersten Blick glauben wir, dass es beide, die Instabilität und die Spiritualität gibt. Wir glauben aber auch, dass die Instabilität eben instabil ist. Darunter verstehen wir häufig, dass sie ein, relativ gesehen, vorübergehender Zustand sei, und zwar ein Zustand, in dem sich ein an sich stabiles Etwas eben nur zeitweise und nicht beabsichtigt, mithin vorübergehend befindet. Instabilität sei damit, so unser überkommenes Selbstverständnis, die vorübergehende Befindlichkeit eines Menschen, einer Sache oder – modern und etwas komplexer ausgedrückt – die eines Systems, welches seine endgültige oder die ihm eigentlich zukommende Bestimmung noch nicht gefunden hat oder dabei ist diese zu verlieren.

Babys und Kleinkinder sind aus unserer Sicht sehr häufig instabil. Krankheiten dagegen können instabil machen, so sie länger andauern und unser Ich angreifen. Hier wird die Verwendung des Begriffes „instabil“ deutlich. Im Falle von Babys bezeichnet instabil die ganze Erscheinung, während bei Erwachsenen Instabilität eine in der Regel vorübergehende Phase wäre. Wie kommt es zu dem kleinen, feinen, jedoch so wichtigen Unterschied bei der Verwendung der Bezeichnung „instabil“? Es scheint so zu sein, dass wir Babys problemlos als instabil bezeichnen können, da sie ja gerade erst im Prozess sind, ein stabiles Ich zu entwickeln und zu etablieren. Baby-sein bedeutet für unsere gewöhnliche Betrachtung, instabil zu sein, da ein Baby aus unserer Sicht noch über keine stabile Instanz verfügt und deswegen auf die Stabilität der Eltern existenziell angewiesen ist. Genau das wird bei einer erwachsenen Person anders gesehen. Ein sogenanntes voll entwickeltes Ich wird mit dem Erwachsen-sein gleichgesetzt. Dieses Ich hat nicht nur für die Stabilität der gesamten Person zu sorgen, sondern wird von uns selbst als ein an sich stabiles Wesen/Etwas angesehen. Das erklärt fürs Erste, weshalb so etwas wie Instabilität überhaupt konzipiert werden kann, denn diese kann nur im gleichzeitigen Vergleich zur Stabilität gesehen werden. Stabil aber ist die- oder derjenige, die oder der die Instabilität zu bemerken glaubt. Eine wichtige Ausnahme bilden hier die sogenannten psychischen Erkrankungen, weil sie eben die Stabilität des*der bis dahin Stabilen angreifen und damit zum Teil oder sogar gänzlich unmöglich machen.

Damit betreten wir einen wichtigen Raum, den es in weiteren Schritten etwas genauer zu erforschen gilt. Wir fragen nämlich nicht mehr danach, wie man Instabilität vermeidet oder gar bekämpft. Denn bevor wir uns daran machen, ihr den üblichen Kampf anzusagen, sollten wir mehr über sie selbst in Erfahrung bringen. Es könnte ja sein, dass sie ganz anders ist, als zunächst angenommen, was bereits jetzt schon einen Hinweis dafür liefert, weswegen unsere gegen sie geführten Kämpfe, von kurzen Siegen mal abgesehen, allesamt wenig dauerhaft Stabiles bewirken konnten. Und ist die Beschreibung: „wenig dauerhaft Stabiles …“ nicht üblicherweise eine der vielen Definitionen der Instabilität?

3 Erster Blick aus der Instabilität heraus

„Wenn den Menschen das zuteil würde, was sie wollen, wäre das nicht besser für sie.“

Heraklit (o. J.)

Also fragen wir zunächst nach der Instabilität selbst. Halten wir aber gleich kurz Inne. Üblicherweise würden wir die Instabilität als ein Ereignis an sich untersuchen wollen, womit wir sie bereits vorab definiert hätten, gerade ohne zu wissen, was sie denn sein soll. Damit wäre solch eine Untersuchung wenig seriös, denn der zu untersuchende Gegenstand, also die Instabilität, würde bereits vor der Untersuchung als an sich bestehendes Etwas vorausgesetzt. Ist sie aber das Fehlen von Stabilität, dann auf keinen Fall etwas an sich, oder? Und wenn das so ist, dann sollten wir uns bewusst machen, wie es dazu kommen kann, dass wir bereits die Instabilität als solche zu identifizieren glauben, bevor wir sie uns genauer angeschaut haben. Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma kann darin liegen, dass wir, erneut unbewusst, in Gegensätzen sprechen und damit auch denken. Ganz einfach formuliert: Es gibt, ja es muss so etwas wie Instabilität geben, weil wir doch ihr Gegenteil, also die Stabilität erfahren können. Diese Art der Bipolarität betrifft sowohl unsere Sprache als auch unser Denken. Die Regel ist einfach: Es gibt das Eine, weil es sein Gegenteil gibt und umgekehrt. Es gibt also Gutes, weil es doch offensichtlich so etwas wie das Böse gibt und umgekehrt. Beide Größen bedingen sich nicht nur gegenseitig, sondern schließen sich gegenseitig auch aus. Natürlich tun sie es nicht generell jedoch an sich schon. So kann beispielsweise an einem ganz bestimmten Ort und zu einer ganz bestimmten Zeit entweder Tag oder eben Nacht sein aber weder beides zugleich noch keins von beiden. Sogenannte Übergangszustände sind in dieser Betrachtungsweise inbegriffen. So wäre in unserem Beispiel Dämmerung solch ein Übergangszustand. Diese Übergangszustände gibt es wiederum nur, weil sie von einem Gegensatz zum anderen hinüberleiten. So gibt es aus unserer Alltagsperspektive zahlreiche Übergänge von dem, was wir als Instabilität bezeichnen, zu dem, was wir als stabil wahrnehmen. In einem weiteren Schritt glauben wir, dass das, was stabil ist, über einen eigenen Wesenskern verfügt und sein Gegenteil eben nicht, sonst wäre es ja stabil. Erstaunlicherweise gibt sich unser Gemüt wie auch unser Alltagsdenken mit solch einer Betrachtungsweise zufrieden. Mehr noch: Nicht nur unsere individuellen Lebensentwürfe, sondern die Lebensentwürfe ganzer Gesellschaften bauten und bauen auf solchen Perspektiven. Ist das etwa falsch? Nein. So sollte man es nicht sehen, will man die gleiche Bipolarität nicht erneut und ebenfalls unreflektiert zum Einsatz bringen.

Was tun also? Wir könnten uns zunächst einmal mit dem Bewusstwerden zufriedengeben und etwas vorsichtiger weiter machen.

4 Zweiter Blick aus der Instabilität heraus

„Es ist immer dasselbe in uns: das Lebende und das Tote, das Wache und das Schlafende, das Junge und das Alte. Wenn es umschlägt, ist dieses jenes und andrerseits wiederum jenes dieses.“

Heraklit (o. J.)

Wie wir bereits gesehen haben, besteht die beliebteste Methode, etwas an sich zu behaupten, darin, sich von seinem Gegenteil abzusetzen. Ich bin gut, weil ich eben nicht böse bin. Oder: Ich bin doch stabil, was genau das Gegenteil von instabil bedeutet. Diese Vorgehensweise ist für die meisten von uns alltägliche Selbstverständlichkeit. Und genau das scheint die Untersuchung zu erschweren. Die Bezeichnung „Selbstverständlichkeit“ ist bereits nicht korrekt. Weshalb? Weil sie ein An-Sich und Aus-Sich-Heraus suggeriert. Sie suggeriert damit auch, dass bestimmte Erscheinungen über eine Substanz und deren Abgrenzbarkeit und Unabhängigkeit verfügen. Mehr noch: Mit der Selbstverständlichkeit einer substanziellen und unabhängigen Existenz wird ihr Gegenteil ebenfalls als ein substanzielles und unabhängiges Etwas gesetzt. Wir glauben wirklich, dass es das Gute an sich gibt, weil das Böse ebenfalls an sich existiert. Beide sehen wir als unabhängig voneinander an und können deshalb darauf bestehen, dass sie sich gegenseitig bekämpfen und zwar mit dem Ziel, dass nur eines von beiden siegreich sein wird, was wiederum mit der Vernichtung seines Gegenteils einherzugehen hat. Genau diese Sichtweise bildet bis heute den Stoff der größten religiösen und politischen Ideen und muss dafür herhalten, ihre zahlreichen vernichtenden Kämpfe anzustoßen und zu rechtfertigen.

Gibt es hierzu eine alternative Sichtweise? Ja, die gibt es und nicht nur eine. Die, welche ich hier vorstellen möchte, ist genauso alt, wie die uns alle immer noch beherrschende Gegensatzperspektive. Worauf basiert sie? Sie basiert auf dem genaueren Betrachten des Denkens und des Wahrnehmens selbst. Auf den Punkt gebracht bedeutet das, dass wir es hier mit mindestens zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven und den mit ihnen verbundenen Vorgehensweisen zu tun haben. Entweder wir setzen uns selbst als wesenhaft existierend voraus und betrachten dann alles andere als von uns unterschieden und um uns herum und als von uns getrennt existierend oder aber wir werden uns dessen bewusst, wie das Wahrnehmen und Denken jeweils wahrnimmt und denkt.

Im zweiten Fall zeigt sich eine durchaus erstaunliche Perspektive, nämlich: Unser Ich wird nicht, wie üblich, als die Ursache des Wahrnehmens und des Denkens gesetzt, sondern als ihr wohl wichtigstes Ergebnis. Die Feststellung, wonach unser Ich immer schon voraus-gesetzt werden muss, erfährt eine radikale Umdeutung. Erstens: Es stimmt, unser Ich muss immer wieder voraus-gesetzt werden. Allerdings muss die Bezeichnung „Voraus-Setzung“ wörtlicher verstanden werden, als es bisher der Fall ist. Es ist nämlich das Denken, welches sich selbst mit dem Wort „Ich“ denkend voraus-setzt. Damit ist das Ich nicht einfach als Substanz vorhanden, die dann alles andere denkt, sondern wird immer wieder „gesetzt“ und zwar vor alles andere. Genau das bedeutet das Wort „Voraus-Setzung“.

Ich bin also nur dann als ein gesetztes Ich existent, wenn ich gleichzeitig ein Du voraussetze, es also mitdenke, von dem ich mich immer wieder denkend unterscheide. Je mehr ich mich als ein stabiles, mithin unabhängig existierendes Ich verstehen will, umso mehr muss ich ein Du mitdenken, von dem ich mich Augenblick für Augenblick unterscheiden muss. Auch bin ich nicht „gut“ an sich, obwohl ich es gerne sein möchte, sondern bin nur gut in Abgrenzung zu dem, was ich mir als Böse vorstelle, und zwar ebenfalls von Augenblick zum Augenblick.

Noch genauer formuliert: Immer dann, wenn ich mich als Ich oder als gut bezeichne, habe ich das Du oder das Böse indirekt mitberücksichtigt, mitgedacht und damit auch miterschaffen und zwar auch dann, wenn ich es nicht explizit ausgesprochen habe.

Was sagt uns diese Betrachtungsweise über den Begriff der Stabilität versus Instabilität aus? Diese Perspektive zeigt die relative Existenz von beiden. Was das zu bedeuten hat, wird sich gleich noch zeigen.

5 Schuld sind die anderen

„Der Pfad in die Höhe ist der gleiche, der in die Tiefe führt.“

Heraklit (o. J.)

In der Regel bekommen wir es mit der Angst zu tun, wenn wir den Erscheinungen und vor allem unserem Ich eine feste und wesenhafte Substanz absprechen. Warum ist das so? Vieles deutet darauf hin, dass unsere Gegenreaktion deswegen so heftig ausfällt, weil wir uns durch solche Einsichten und Erlebnisse in unserer Existenz in Frage gestellt fühlen. Mehr noch: Wir fühlen uns geschmälert, gemindert, vielleicht sogar bedeutungslos. Mit anderen Worten: existenziell bedroht.

An diesem Punkt angekommen wird deutlich, weswegen sich hier unsere Wege scheiden. Es muss vermutet werden, dass es kein blinder Zufall ist, weswegen wir das tun, was wir täglich tun. Korrekter formuliert müsste es eigentlich heißen: Wir tun, was wir tun, weil wir uns über vieles nicht, noch nicht bewusst oder bewusst nicht bewusst sein wollen. Und noch etwas ist gerade in diesem Zusammenhang interessant. Gesetzt den Fall, unser Ich wäre eine fixe und wesenhafte Substanz. So gesehen müsste es sich gar keine Sorgen um sich und seinen Fortbestand machen. Merkwürdigerweise jedoch lässt sich unser Ich durch sehr viele banale Erlebnisse, Einsichten oder Behauptungen derart aus der Fassung bringen, dass am Vorhandensein solch einer stabilen Fassung durchaus gezweifelt werden kann und soll. Wenn unser Ich also wirklich wesenhaft wäre – so jedenfalls lautet die Annahme der Mehrheit der Weltbevölkerung – wie kommt es dazu, dass die meisten von uns ein Leben lang damit beschäftig sind, sich zu behaupten? Klafft da nicht eine gewaltige Kluft zwischen dem Anspruch auf die eigene fixe Substanz und Wesenhaftigkeit auf der Einen und der Unsicherheit und Angst vor der eigenen vernichtenden Bedeutungslosigkeit auf der anderen Seite?

Noch mehr kann und muss an dieser Stelle gefragt werden: indem wir uns mit dem Duo Stabilität-Instabilität befassen, muss die Frage nach der Stabilität bzw. Instabilität neu ausgerichtet werden? Bisher nämlich wird immer dann von Ich-Instabilität gesprochen, wenn ein wesenhaftes Ich durch verschiedene, häufig äußere Umstände, ins Wanken zu geraten scheint. Bestes Beispiel ist das vorliegende Buchprojekt. Mit der Überschrift und dem Zeitpunkt seines Erscheinens suggeriert es Instabilität. Weshalb ist dieses Buch nicht drei oder fünf Jahre früher erschienen? Und hätte es dann auch noch mit der gleichen Überschrift erscheinen können? Natürlich könnte es das, aber mit ziemlicher Sicherheit wäre das Assoziationspotenzial ein ganz anderes, vielleicht sogar um einiges geringer ausgefallen. Covid, der Ukraine-Krieg, die Klima-Krise, die Inflation und vieles mehr lassen sich leicht als die auffälligsten äußeren Umstände ausmachen, unter denen unser sonst stabiles Ich oder die Gesellschaft als eine Ich-Ansammlung derzeit zu leiden haben. Genau dieses Quartett bestehend aus Covid, Ukraine-Krieg, Klima-Krise und Inflation gilt derzeit als die ausgemachte Ursache der instabilen Zeiten. Schön und gut. Das klingt auf den ersten, sogar noch auf den zweiten Blick kongruent. Und das ist es auch. Dass diese Ereignisse Teile unseres Selbstverständnisses in Frage stellen, steht wohl außer Zweifel. Ob diese Ereignisse jedoch, ein ansonsten stabiles Ich in die bodenlose Instabilität stürzen können, sei sehr dahingestellt.

Weshalb kann, ja soll diese Sichtweise trotzdem angezweifelt werden? Die Zweifel kommen deswegen auf, weil überhaupt nicht klar ist, ob das Ich an sich eine Substanz ist und in deren Folge über eine wesenhafte, dauerhaftere und abgegrenzte Existenz verfügt. Je nachdem, wie die Antwort auf diese selten gestellte Frage ausfällt, ändert sich vieles. Vielleicht sogar alles.

6 Die Suche nach dem Boden unter den Füßen

„Der Menschen Gedanken sind Kinderspiele.“

Heraklit (o. J.)

Vielleicht leben wir nicht in besonders instabilen Zeiten, sondern in Zeiten, in der verschiedene Ereignisse unsere Planungsgewohnheit nicht bedienen?

Vielleicht sind diese Zeiten auch nicht außergewöhnlich bedrohlich, denn um dies sagen zu können, müssten wir uns des Maßstabes für diese Aussage bewusst werden.

Vielleicht sollten wir diesbezüglich unsere Eltern oder Großeltern bzw. Personen aus anderen Staaten oder Kulturen befragen, wie es während oder nach dem Krieg war? Wie es sich in bestimmten Staaten Afrikas oder Asiens lebt?

Vielleicht sollten wir uns darüber bewusst werden, dass Planungsunsicherheit bzw. die Gefährdung der nahtlosen Fortsetzung lieb gewordener Gewohnheiten schlichtweg zum Leben dazugehören, und zwar derart intrinsisch, wie die Wärme vom Feuer oder die Nässe vom Wasser nicht zu trennen ist, sodass wir niemals das eine ohne das andere haben können?

Vielleicht war und ist der Boden, auf dem wir und alles andere stehen, nicht nur nicht stabil, sondern in bestimmter Weise inexistent?

Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit uns? Auf wen oder was genau bezieht sich die Bezeichnung „instabil“? Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn wir diese Bezeichnung auf uns selbst beziehen?

7 Der freie Fall

„Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener ist der Tod dieser.“

Heraklit (o. J.)

Angesichts der Kürze dieses Beitrages, will ich mich auf nur zwei von vielen Möglichkeiten der Ich-Beschreibung begrenzen. Diese aber sind, wie schon vorher angedeutet und der Art wie wir zu Denken pflegen entsprechend, bipolar. Die eine Seite der Argumentation lautet: Ja, es gibt ein substanzielles und wesentliches Ich. Die zweite Seite und damit die gegenteilige Behauptung lautet dann: Nein, es gibt kein an sich substanzielles oder wesentliches Ich. Und gleich ergänzend dazu: weil nichts Substanzielles oder Wesentliches an sich ausgemacht werden kann. Nirgendswo.

Dass die zweite Sichtweise immer noch sehr ungewohnt, ja un-heimlich ist, steht außer Frage. „Heimlicher“ fühlen wir uns innerhalb der ersten Behauptung, wobei die bezogene Wohnung oder „Heim“ nirgendswo wirklich gesichtet worden ist. Aber dazu gleich mehr.

Gehen wir mal davon aus, dass das Ich weder eine Substanz ist noch hat. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass wir problemlos vom Ich sprechen können, es überall zu sehen glauben, es pflegen, entwickeln und eines Tages bestatten. Aber wer sieht wirklich was?

Nun gehen wir beim Wort „Ich“ davon aus, dass sich dieses Wort auf ein unabhängig von ihm existierendes Etwas bezieht, dass dann das „wirkliche Ich“ sei. Und genau hier beginnt eine der ältesten menschlichen Suchbewegungen überhaupt. Wo ist denn dieses Ich? Im Körper? In einem seiner Teile? Ist es da, jedoch völlig unsichtbar? Ist es oder kommt es von außerhalb in den Körper, diesen eine Zeit lang benutzend? Viele Fragen und genauso viele Antworten, von denen einige über Jahrhunderte hinweg kulturstiftend waren und bis heute immer noch sind.

Zweifelsohne kann gesagt werden, dass die meisten Antworten auf die Frage nach dem Wesen unseres Ichs von einer Ich-Substanz ausgingen. Das würde bedeuten, dass die Instabilität, wie im Buchtitel angedeutet, eher den Boden, auf dem unser Ich steht, betrifft und nicht das Ich selbst. Folgt man aber der zweiten Alternative, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Der vermeintliche „Boden“ ist weit weniger relevant, weil keine Substanz ausgemacht werden kann, welche auf ihm zum Stehen kommen könnte.

Nun also lautet die entscheidende Frage: Auf wen oder was bezieht sich die behauptete Instabilität? Und die zweite Frage müsste dann lauten: Gibt es wirklich so etwas wie Stabilität? Und wenn ja, was soll darunter verstanden werden und wo wäre sie ausfindig zu machen?

8 Der Ausverkauf

„Viel wissen bedeutet noch nicht Verstand.“

Heraklit (o. J.)

Während sich in den letzten Jahrzehnten die unterschiedlichsten Wissenschaften nach und nach von dem herkömmlichen Begriff der Substanz und Materie als einem Etwas an sich verabschiedet haben, erleben andere Betrachtungsweisen der Wirklichkeit, wie z. B. die Religionen, erneut heftigste innere und äußere Kämpfe. Eine erste Siegerin dieser Auseinandersetzung scheint sich langsam abzuzeichnen. Sie erscheint unter der Bezeichnung „Spiritualität“. Auch wenn „Spiritualität“ eher ein Sammelname für unterschiedlichste, ja sich zuweilen widersprechende Praktiken und Narrationen zu sein scheint, gewinnt sie zusehends an Bedeutung. Das Hinzuziehen der „spirituellen Perspektive“ bei der Suche nach möglicher Stabilität ist, gesellschaftlich gesehen, relativ neu. Spiritualität wird heutzutage nicht nur nicht gleichgesetzt mit Religion, sondern zuweilen sogar als deren Gegensatz verstanden. So gesehen ist sie eine neue und deswegen auch noch wenig bekannte und anerkannte Perspektive, was ihrer Verbreitung als Bezeichnung zunächst keinen Abbruch tut. Sie wird seitens der Religionen sehr kritisch beäugt und als selbstständig auftretende Größe so gut wie nicht anerkannt. Vor allem Vertreter*innen der monotheistischen Religionen behaupten, dass gerade das vor allem in Europa spürbare Schwinden der Wirksamkeit der religiösen Narrationen entschieden dazu beiträgt, das Gefühl der Instabilität hervorzurufen.

Aber waren und sind die immer noch zahlreichen Christ*innen, Juden*Jüdinnen und Muslim*innen gute Beispiele für ein stabiles Lebensgefühl? Die leicht zu beobachtende erneute Radikalisierung der religiösen Narrationen lassen eine andere Deutung zu. Gilt nämlich auch hier die Regel: je größer die Angst, umso radikaler der Glaube? Und wenn diese Sicht stimmt, dann lässt sich doch gerade hinter der Angst die Instabilität vermuten, deren Maß unmittelbar in Angst-Graden gemessen werden kann.

Unter diesen Umständen lässt sich die Frage nach der Instabilität neu stellen. Was ist „Instabilität“ überhaupt? Lässt sie sich als ein objektiver „An-Sich“-Zustand bestimmen, der von allen unter gleichen Umständen eben gleich erlebt wird? Waren wir etwa in Europa vor der Pandemie oder dem Ukrainekrieg „stabiler“? Es wäre naiv diese Frage mit einem „Ja“ beantworten zu wollen. Genauso naiv wäre die Behauptung, in den katholisch geprägten Gegenden Europas z. B. des 11. bis 14. Jahrhunderts sei Stabilität das dominierende Lebensgefühl der meisten Bewohner*innen gewesen und das eben Dank des verbreiteten Glaubens, der über Jahrhunderte hinweg für eine gleichbleibende Sinn-Erklärung sorgte. Nicht nur Kriege, Krankheiten oder Armut und die mit ihnen verbundenen Ängste und Sorgen standen für die allermeisten Menschen an der Tagesordnung, sondern die „frohe“ Botschaft der christlichen Religion sorgte ihrerseits für noch weitere und tiefergreifende Verunsicherung. Die ewige Verdammnis beispielsweise, vorgestellt als Hölle, war bis ins Detail ausgemalt und ließ keinen, auch nur unvorstellbaren Schrecken unerfüllt. Mit anderen Worten: Das Diesseits war von Ängsten aller Art bestimmt und damit instabil. Dem Jenseits erging es nicht viel besser. Angst herrschte im Diesseits und im Diesseits vor dem Jenseits. Und für Viele sollte es im Jenseits auf ewig so weiter gehen wie im Diesseits, nämlich im permanenten Zustand von Angst und Schrecken.

Ich weiß, dass ich schwarz/weiß zeichne. Ich bin mir aber auch ziemlich sicher, dass sowohl ich mir, als auch wir uns überhaupt keine Vorstellung darüber machen können, unter welchen äußeren Umständen und in welchen inneren Vorstellungswelten unsere Vorfahr*innen gelebt haben und was das mit ihnen damals gemacht hat und mit uns heute immer noch tut. „Schwarz/weiß-Malerei“ als Bezeichnung für die Darstellung von extremen Zuständen ist in diesem Fall zu schwach und zu weich, um auch nur annäherungsweise das wiedergeben zu können, was bereits geschah und von unseren Ahn*innen erlebt und gelebt wurde.

Hat sich heute bezüglich der Instabilität essenziell etwas verändert? Genau die so gestellte Frage verzehrt meiner Ansicht nach die Betrachtung der Instabilität selbst. Warum? Weil wir, indem wir so fragen, von der Instabilität weg, auf sogenannte Lösungen schauen. Das wiederum bedeutet, dass wir genau zu wissen meinen, was denn mit Instabilität überhaupt gemeint sein kann. Suchen wir nach Lösungen, gehen wir nicht nur davon aus, dass Instabilität vorhanden ist, sondern dass sie, ganz selbstverständlich, unerwünscht sei. Hier gleicht der Name dem Urteil, denn wer will schon Instabilität erleben?

So steht die Instabilität von Beginn ihrer Betrachtung bereits auf verlorenem Posten, denn unsere gewohnte Bemühung des Verstehen-wollens richtet sich so gut wie nie auf sie, sondern in aller Regel von ihr weg, auf die vermeintliche Lösung hin. Wer weiß, vielleicht bezieht die Instabilität ihren stark bedrohlichen Charakter gerade dank unserer Haltung des Wegschauens? Oder noch provokativer formuliert: Vielleicht sind wir es, die auf dem verlorenen Posten stehen, indem wir uns als Lösungssucher*innen gegen etwas richten, was wir in Wirklichkeit kaum kennen bzw. selbst zutiefst sind?

Genau an diesem Punkt zeichnen bestimmte Schulen, die der Spiritualität zugeordnet werden, wie das Chan oder Zen, ein alternatives Verständnis dessen, was uns das Wichtigste ist, nämlich unseres Ichs.

9 Da fällt keiner

„Wähnen ist wie Fallsucht, und das Auge trügt.“

Heraklit (o. J.)

Auch hier wird es gleich zu Beginn ungemütlich. Entgegen weitverbreiteten Meinungen, bieten Chan und Zen als buddhistische Schulen anstatt einer gut funktionierenden Lösung auf die Frage nach der Erreichbarkeit einer dauerhaften Stabilität, die Einladung zum genaueren Erleben dessen, das überhaupt instabil sein könnte, nämlich unserem Ich.

Um es kurz zu machen: In einem der wirkungsvollsten buddhistischen Texte, dem sogenannten „Herz-Sutra“, wird überhaupt keine Ich-Substanz oder Ich-Wesen gesehen, sondern nur die Verschränkung und Wechselwirkung unterschiedlichster Bedingungen, genannt Skhandas, die wiederum bedingt sind (Jäger & Grimm, 2010). Die Einsicht des Herz-Sutra mündet in der ebenfalls berühmt-berüchtigten Feststellung, dass jegliche Form, mithin auch unser Ich, weder ein Wesen noch eine Substanz an sich hat.

Diese Einsicht ist ver-rückt. Dieses Ver-rückt-sein wiederum, lässt sich in zweifacher Weise verstehen: Zum einen ver-rückt es die bislang immer noch geltende Sichtweise auf uns und die Wirklichkeit. Zum anderen rückt es unsere Sichtweise zurecht auf das, wie es sein kann. Im Ergebnis bedeutet es, dass so etwas wie Stabilität, basierend auf der Annahme fester Substanzen oder Wesenheiten, schlichtweg nicht existent ist. Konkret und auf unser Ich bezogen heißt es, dass unser Ich das Ergebnis zahlreicher Bedingungen ist und nicht ein Wesen oder eine Substanz an sich, welche dann über zahlreiche Eigenschaften verfügen würde, zu denen Stabilität und ihr Gegenteil zählen würden.

Unser Ich, aber nicht nur, sondern alles, was wir als Wirklichkeit wahrzunehmen glauben, ist das jeweils momentane Ergebnis einer unendlichen Zahl an Wechselwirkungen, die von Augenblick zu Ausgenblick genau das ergeben, was wir als das Hier und Jetzt erleben. Nichts davon ist zu fassen, nirgendwo Gegenständlichkeit oder fixes Sosein. Nirgendwo Beständigkeit oder Unveränderlichkeit. Damit auch weder ein fester Boden unter den Füßen, noch feste Füße auf wackeligem Boden.

Es ist ein Wunder des lebendigen Lebens, das wir weder erfassen, geschweige denn verstehen können.

10 Des Rätsels Lösung

„Wer unverhofftes nicht erhofft, kann es nicht finden.“

Heraklit (o. J.)

Ist diese, mehr als 2500 Jahre alte Einsicht, immer noch aktuell? Die Antwort lautet „Ja“. Das ist sie. Vielleicht sogar erneut mehr denn je, da zahlreiche sogenannte wissenschaftliche Theorien, Einsichten und Erkenntnisse zusehends, wenn nicht die gleiche, so doch eine ähnliche Richtung was das Wirklichkeitsverständnis angeht, ansteuern. Vielleicht ist es auch an der Zeit, bestimmte buddhistische Schulen weniger als „östliche Religionen“ und mehr als eine besondere, weil auf Erfahrung beruhende Erforschung des Bewusstseins und der erscheinenden Wirklichkeit, aufzufassen? Damit wären diese Schulen das östliche Pendant zu dem, was wir mit redlicher, d. h. praxisbezogener und erfahrungsbasierter Erkenntnistheorie meinen?

Das wiederum könnte bedeuten, dass wir seit geraumer Zeit über Wissen und Wege verfügen, genauer zu erfahren, wie das, was wir als Ich und Wirklichkeit bezeichnen, in Erscheinung tritt. Das bedeutet aber auch, dass gewisse Methoden, die gemeinhin als „Meditation“ bezeichnet und im persönlichen Wohlbefindlichkeitsbereich ihr Dasein fristen, über ein ganz anderes Potenzial verfügten und immer noch verfügen, als das ihnen von der leicht veredelten Ich-Entwicklungs-Industrie zugewiesene.

Zudem bedeutet es, dass wir mit den Fragen nach unserem Ich und der Wirklichkeit noch lange nicht zu einer korrekten und befriedigenden Antwort gelangt sind, sodass wir noch nicht wirklich in der Lage sind, uns erneut und wie in unseren Breitengraden so üblich, in ein alles mal wieder verbessertes Handeln zu stürzen.

Bislang identifizieren wir uns über das Machen und Handeln. Aber haben wir wirklich bis zur Klarheit die Frage erforscht, wer wir eigentlich sind?

Aus der oben kurz beschriebenen Perspektive zeigt sich nämlich, dass wir uns in den wesentlichen Antworten vermutlich geirrt haben könnten. Und genau das könnte einer der Gründe dafür sein, weswegen wir Gas geben in dem, was wir in solchen Situationen immer getan haben, nämlich unsere Handlungen immer schneller und immer verzweifelter aufeinander folgen zu lassen, erneut meinend, diesmal wird es wirklich besser.

Die Suche nach Stabilität bzw. das häufige Diagnostizieren einer Instabilität können sehr schnell in die Irre führen, da sie zu selten relevante, offene, präzise und mithin richtige Fragen stellen. Sie urteilen bereits emotionell geladen und dadurch zwingen sie erneut und im bekannten Fahrwasser bleibend, zum sofortigen Handeln. Das war in unserer Geschichte fast immer so. Sehr schnell glaubte man zu wissen, was man alles besser machen kann und tat das auch. In der Regel musste die jeweilige Generation der Macher*innen die Ergebnisse ihrer eigenen Taten selten ausbaden, sodass sie häufig im Bewusstsein, Heldenhaftes geleistet zu haben, sterben konnten. Auch wir haben die Erbschaft angetreten, und zwar nicht nur die unserer Vorfahr*innen, sondern aufgrund der Schnelllebigkeit auch die unserer eigenen Taten. Und wie es bei den Erbschaften so üblich ist, nimmt man sie ganz an oder gar nicht an. Wir haben wohl wirklich keine Wahl und leben mitten in der Erbschaft. Damit müssen wir uns auch um die vielen offenen Rechnungen, um die auf Pump konstruierten Lösungen, Lebensverbesserungsvorschläge und Bessere-Zukunft-Konstrukte kümmern. Viele von uns sehen sich getrieben, noch besser sein zu wollen und steigen ins bekannte, ebenfalls geerbte Rennen ein. Das ist verständlich. Ob es hilfreich ist, ist eine ganz andere Frage.

Gesetzt den Fall nämlich, wir und unsere gesamte Wirklichkeit basieren nicht auf dem, was wir uns gemeinhin und noch bis vor kurzem als stabile Materie vorgestellt haben, sondern können wage als das unerklärliche Wunder der Wechselwirkungen beschrieben, jedoch nicht verstanden werden. Was bedeutet das für uns und unseren Alltag?

Es kann einen kleinen und bescheidenen Neuanfang bedeuten. Dieser aber ist wirklich so neu, dass wir momentan noch nicht wissen können, wie er auszusehen hat. Wüssten wir es, wäre er nicht neu. Und wie geht man das Neue an? Ich weiß es nicht.

11 Aletheia

„Wie ein wüst hingeschütteter Misthaufen ist die schönste, vollkommenste Welt.“

Heraklit (o. J.)

„Unser Leben, womit läßt es sich vergleichen? Mit dem Tautropfen, vom Schnabel eines Wasservogels abgeschüttelt, in dem sich nun das Mondlicht spiegelt.“

Dōgen (o. J.)

Das Altgriechische Wort für „Wahrheit“ heißt „Aletheia“. Unter Wahrheit verstehen wir in der Regel die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit. Aletheia meint aber etwas anderes. Das Wort wird übersetzt mit „Unverborgenheit“ oder mit „Offensichtlichkeit“ (Metzler Lexikon Philosophie: Aletheia o. J.).

Wahr ist demnach nicht das, was mit unserer Aussage oder Erkenntnis übereinstimmt, sondern das, was ist und genauso, wie es ist. Der uns so wichtige Bezugspunkt zu uns, unserem Meinen und Dafürhalten, steht hier zunächst nicht im Vordergrund.

Überhaupt zeigt dieses frühe Wahrheitsverständnis wenig Interesse, etwas in den Vordergrund oder Hintergrund zu stellen. Auch von Richtigkeit oder Falschheit, von Gut oder Böse ist hier kaum etwas zu vernehmen. Es ist. Es ist, weil es offensichtlich ist. Es ist offensichtlich, weil es unverborgen, damit direkt und unmittelbar da ist.

Dieses geheimnisvolle allumfassende „Ist“ ist für unser bisheriges Selbst- und Wirklichkeitsverständnis eine Herausforderung. Wir begegnetem dem „Ist“ mit „Ich bin“ und „Ich mache“. Vielleicht ist unsere bisherige Antwort auf das „Ist“ so eine Art von Kinderkrankheit? Vielleicht ist es offensichtlich und unverborgen anders als wir uns selbst und es bislang meinten zu verstehen?

Was also tun? Nichts. Aber nicht passiv bleiben. Nichts-tun bei voller Wachheit, um genauer zu erfahren wie es ist, wie es sich zeigt, wie es werden will. Wir spielen hier nicht die erste Geige. Auch stehen wir nicht am Dirigentenpult. Schon gar nicht haben wir die Partitur geschrieben. Und doch erklingt offensichtlich eine Melodie. Unverborgen ist die Vielzahl der Instrumente. Noch größer die Zahl der unsichtbaren und vermuteten Musiker*innen.

Sind wir Zuschauer*innen? Eine Note? Vielleicht die Triangel? Oder nichts von all dem? Gleichzeitig doch offensichtlich und unverborgen. Immer noch etwas unerfahren im Auftritt. Aber wer weiß, was Aletheia vorhat. Vielleicht weißt sogar sie selbst es noch nicht. Es ist aber nicht schlimm, denn wüsste sie es, wäre es offensichtlich und nicht frisch und neu. Wir müssen es leben und erleben. Das ist der Preis. Hier gibt es keinen Rabatt. Du lebst es oder du lässt es. Den kleinen Nachgeschmack des Erlebten können wir als Weisheit bezeichnen.

Gibt es, so betrachtet, eine Lösung für unsere Eingangsfragen nach Instabilität?

Nein. Diese gibt es nicht. Warum nicht? Weil es gar kein Problem gibt. Es gibt Schmerz, Trauer und Wut. Es gibt Freude, Lust, Krankheiten und deren Linderungen. Es gibt alles und noch vieles mehr. Es gibt Leben mit allem, was es beinhaltet. Aber all das verdient nicht wirklich, als Problem bezeichnet zu werden, nur damit wir uns als freiwillige Feuerwehr inszenieren und dadurch etwas mehr an Bedeutung gewinnen.

Vielleicht beginnt gerade inmitten unserer Ohnmacht, so etwas wie Dankbarkeit zu keimen und zwar dafür, dass wir, mit einem instabilen Ich-Bewusstsein ausgestattet, einfach ein wenig dabei sein können. Für eine kurze Zeit. Für diesen Augenblick gerade. Jetzt.