Petersen im Karriere-Interview: "Ich war ein Goldfisch im Haifischbecken" - kicker
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Petersen im Karriere-Interview: "Ich war ein Goldfisch im Haifischbecken"

Der Jokerkönig der Bundesliga im großen kicker-Gespräch

Petersen im Karriere-Interview: "Ich war ein Goldfisch im Haifischbecken"

Emotionaler Abschied: Nach 16 Jahren war für Nils Petersen diesen Sommer Schluss.

Emotionaler Abschied: Nach 16 Jahren war für Nils Petersen diesen Sommer Schluss. IMAGO/Beautiful Sports

Es ist ein fast zu kitschiges Ende. In seinem letzten Heimspiel am 19. Mai 2023 sichert Freiburgs Rekordtorjäger Nils Petersen mit seinem einzigen Ligasaisontor einen 2:0-Sieg gegen Wolfsburg - natürlich als Joker. Bis in die Nacht wird er von Fans und Wegbegleitern gefeiert, kostet das Erlebnis bis zum Morgen mit den engsten Freunden in einer Disko aus. "Das war einer der schönsten Abende, die ich je erlebt habe."

Seitdem braucht Petersen Ersatz für Tore und deren Annehmlichkeiten. Um nicht in ein großes Loch zu fallen, sondern Aufgaben zu haben, hat der zweimalige A-Nationalspieler vor eineinhalb Jahren die Arbeit an seinem Buch begonnen. "Bank-Geheimnis - Selbstgespräche eines Fußballprofis" - das Werk über seine Karriere präsentiert Petersen am morgigen Freitag im Europa Park, ab Montag ist es im Handel.

Neben seinen Toren und Rekorden hat der Mann, der als Viereinhalbjähriger in Wernigerode mit dem Kicken anfing, den Profi-Zirkus vor allem durch seine außergewöhnlich offene und freundliche Art bereichert. Der Gesprächstermin mit dem kicker ist sehr speziell. 45 Minuten zuvor starteten die SC-Profis in die Vorbereitung - erstmals seit 2015 ohne Petersen.

Herr Petersen, Sie haben gerade auf dem Handy die Fotos vom Freiburger Vorbereitungsstart angeschaut, während Sie einige Kilometer entfernt zu Hause sitzen. Wie fühlt sich das an?

Für mich ist es noch okay, weil es das erste Training ist und die Vorbereitung nie mein Ding war. Klar, die Jungs und den Staff nicht mehr jeden Tag zu sehen, ist sicher nicht einfach. Ich habe aber noch einige im Urlaub, auf dem Weinfest oder der Geburtstagsparty unseres Athletiktrainers getroffen, mit Chicco (Nicolas Höfler, Anm. d. Red.) bin ich sowieso regelmäßig in Kontakt. Der Job und das Spiel an sich werden mir auch fehlen, aber mehr die Menschen drum herum. Und dann habe ich das Gefühl, ich müsste jeden Moment hinfahren. Ich mache es natürlich nicht. Man muss loslassen. Aber ich weiß, ich werde mir die Bundesligaspiele anschauen und die Jungs weiterhin regelmäßig sehen, das macht es erträglich.

Ich habe mich in diesen Verein verliebt.

Nils Petersen

Haben Sie jetzt eine Dauerkarte?

Ja, neben dem Platz meiner Frau auf der Haupttribüne, bei den Spielern, die verletzt, gesperrt sind oder nicht im Kader stehen.

Die Nähe zur Mannschaft brauchen Sie also noch?

Total, man kennt seine Pappenheimer, ich will aus anderer Perspektive nah dranbleiben. Ich habe mich in diesen Verein verliebt, weil er besonders ist, und kann nun komplett mitfiebern. Wenn ich verletzt war, mussten sie nicht 6:0 mit fünf Stürmertoren gewinnen, mir hat auch ein 1:0 mit einem Verteidigertreffer gereicht (schmunzelt).

Wollen Sie auch auswärts dabei sein?

Wir haben uns zumindest schon mit Freunden verabredet, international mitzureisen. In Turin, Piräus und Baku fand ich es einmal mehr sehr schade, wie wenig man als Fußballer von anderen Städten sieht, obwohl man viel unterwegs ist. Ich freue mich richtig darauf, als Fan kulturell dazuzulernen und auch abends etwas unternehmen zu können.

Sie hadern nicht mit dem Karriereende. Was waren die maßgeblichen Momente, um zu sagen, nun ist Schluss?

Im Elf-gegen-elf im Training war es öfter so, dass ich nicht mehr ganz hinterherkam und das Niveau nicht mehr hatte, um beim Tabellenfünften mithalten zu können. Ich hatte auch in der Saison zuvor schon überlegt aufzuhören. Da kam aber noch mal eine gute Phase mit einigen Toren und drei Startelfeinsätzen in Serie, deshalb habe ich noch ein Jahr drangehängt. In der Saison 2022/23 wurde es dann aber immer fixer in meinem Kopf, als die Einsatzzeiten und Tore ausblieben: Es reicht. Es hat mir auch über manch schwere Phase hinweggeholfen, zu wissen, im Sommer ist es vorbei, weil ich sehr erfolgsverwöhnt war.

Erfolg hätten Sie womöglich in einer anderen Liga mit Ihrer Abschlussstärke noch haben können.

Das war eine Überlegung, aber das Privileg hat überwogen, ein Zuhause zu haben. Eine wirkliche Heimat hat kaum ein Fußballer. Ich wohne und bleibe dort, wo ich aufgehört habe. Das ist ein schönes Gefühl.

Sind Sie der Knochenmühle körperlich gut entkommen?

Ja, weil ich glücklicherweise nie länger als sechs Wochen verletzt war, das ist in 16 Profijahren nicht selbstverständlich. Am Ende hatte ich aber schon meine Wehwehchen, habe immer mal reduziert trainiert, weil das Knie reagiert hatte. Da hatte ich das Privileg, mit unseren Ärzten und Physios einen guten Austausch zu haben. Die wussten, den Petersen brauchen wir nur noch so 15 Minuten, das kriegt er hin, ohne topfit zu sein. Die physische Komponente war der Hauptgrund für den Schlussstrich.

Nur durch die Jokerrolle habe ich eine gewisse Popularität erlangt.

Nils Petersen

Schmerzmittel-Abhängigkeit bei vielen Profis ist eine Art Tabuthema der Branche. Waren Sie betroffen und wie beurteilen Sie dieses Problem?

Ich bin gut davongekommen, weil ich von meiner Mutter so erzogen worden bin, gesund zu leben und so selten wie möglich Medikamente zu nehmen. Ich habe versucht, mich durchzubeißen, oder es ging halt nicht. Ich schätze, in meiner Karriere waren es keine zwölf Schmerztabletten. Allgemein wirst du ruckzuck verdrängt, wenn du nicht funktionierst. Ich kann daher verstehen, dass der eine oder andere mit Schmerzmitteln nachgeholfen hat, um seine Jahre als Profi so erfolgreich wie möglich zu bestreiten. Wenn es aber dann später negative Nach- und Nebenwirkungen im Alltag gibt, würde man sicher anders darüber denken.

Obwohl Sie sich immer mal ärgerten: Sind Sie auch aus physischer Sicht dankbar für Ihre häufige Jokerrolle?

Meine Mutter hat nach jedem Spiel gesagt: Du bist wieder gesund geblieben, ist doch super. Es hat mir schon in die Karten gespielt, nicht Woche für Woche 90 Minuten gehen zu müssen. Die paar Startelfeinsätze 2021/22 waren nicht ohne. Aus gesundheitlicher Sicht bin ich nicht böse, aber so gerne ich auch von Beginn an gespielt habe, weiß ich sehr wohl, dass ich nur durch die Jokerrolle eine gewisse Popularität erlangt habe. Meine 89 Tore sind eher Durchschnitt für einen Stürmer, der so lange Bundesliga spielt.

Erfolgreichste Bundesliga-Joker: Petersen baut Vorsprung aus

Die 34 als Joker sind dafür klarer Topwert in der Bundesliga-Historie.

Klingt immer wieder super. Mit anderen Qualitäten konnte ich auch nicht punkten. Ich war nicht der Größte, der Schnellste oder der Bulligste. In die Jokerrolle bin ich reingewachsen, was auch mit meinen Stärken zu tun hat, geduldig zu sein und einiges aushalten zu können. Zum Glück hat mich diese Qualität an die Spitze irgendeines Rankings gebracht.

Nicht so bescheiden. Rekordtorjäger des SC Freiburg sind Sie auch.

Ja, es macht mich natürlich stolz, etwas hinterlassen zu haben, auch wenn die Rekorde irgendwann geknackt werden.

Ich genieße es auch sehr, so gut wie keinen Hass zu erfahren.

Nils Petersen

Das, was sie hinterlassen und in den 16 Jahren erlebt haben, kann man ab Montag auch in Ihrem Buch nachlesen. Was war eigentlich Ihre Motivation, unter die Autoren zu gehen - neben dem Antrieb, zum Ende und nach der aktiven Zeit etwas zu tun zu haben?

Ich habe mich selbst nie als Autor gesehen. Einer meiner Freunde, Lars Töffling, der zu meiner Cottbusser Zeit Pressesprecher im Verein war, hat immer gesagt, Mensch, wenn du fertig bist, machen wir was zusammen. Ich habe geantwortet, ja klar, es aber nie für realistisch gehalten. Vor eineinhalb Jahren haben wir die Idee vertieft mit dem Ansinnen, ausführlich Danke sagen zu können in Schriftform. Ich wollte es aber auch dann noch nicht wahrhaben, dass es jetzt wirklich Richtung fertiges Buch gehen soll. Als ich es aber einigen Menschen aus meinem Umfeld erzählte und sie alle sagten, mach das, du vertrittst coole Werte, pack das in Zeilen und versuche damit den Leuten was mitzugeben …

… waren Sie endgültig überzeugt?

Genau, mein Ansatz war aber nicht, eine Biografie zu schreiben oder etwas Besonderes machen zu können, was sich von anderen Fußballbüchern unterscheiden muss. Es ist im Gesamtpaket cool geworden und hat im Prozess viel Spaß gemacht. Weil wir uns Zeit genommen haben, alles Revue passieren zu lassen, konnte ich mich auch an Sachen erinnern, die ich verdrängt hatte. Ich hörte auch oft von Leuten, dass sie ein wahnsinnig schlechtes Bild von Fußballprofis haben. Damit versuche ich im Buch auch ein bisschen aufzuräumen. Es ist auf der einen Seite ein großes Privileg, Profifußballer zu sein, der Beruf hat aber auch Schattenseiten mit Verzicht in mehreren Lebensbereichen. Das wissen viele Menschen nicht. Am Ende solle es eine unterhaltsame, vielleicht zweitägige Lektüre für den Urlaub oder Zug sein, wo man danach hoffentlich sagt, das war ein Fußballbuch von jemanden, der weiß, wovon er spricht.

Ich war bei den Bayern oder der Nationalelf nicht ich selbst.

Nils Petersen

Ihr Vater hat mal gesagt, Ihnen fehlen die Ellenbogen, aber mit Ihrer netten und bescheidenen Art hätten Sie es ja weit gebracht. Hätten Sie manchmal doch gerne Ellenbogen gehabt?

Der Vergleich fehlt natürlich, aber ich bin mit meiner Art gut gefahren und würde das auch im Nachhinein nicht ändern. Es ist schön, immer wieder das Feedback zu bekommen, dass ich mit ehrlichem Interesse am Gegenüber kommuniziere und den Leuten mit Respekt begegne. Ich genieße es auch sehr, so gut wie keinen Hass zu erfahren. Das ist schon ein Privileg, gerade, wenn man erfolgreich war und nicht so viele Neider zu haben scheint, wie es sonst leider üblich ist. Mit Ellenbogen hätte ich es in der Karriere auch nicht weitergebracht. Aber mich an manchen Stellen trotzdem anders verhalten.

An was denken Sie?

Ich war bei den Bayern oder der Nationalelf nicht ich selbst. Ich bin ein kommunikativer, humorvoller Mensch, dort habe ich mich aber am falschen Ort gefühlt, mich als qualitativ nicht geeignet angesehen. Mit der aktuellen Erfahrung wäre ich viel entspannter und mit mir im Reinen. Ob ich dann mehr gerissen hätte, steht auf einem anderen Blatt. Aber ich war damals oft zu verkrampft, habe mir zu wenig zugetraut, war im Training zu brav, habe meine Klappe gehalten und mich untergeordnet.

Beim Bayern-Wechsel hatten Sie in einem Interview aber gesagt: "Ich will das Erbe von Miroslav Klose antreten, wenn meine Zeit kommt."

Da habe ich verbal mal übers Ziel hinausgeschossen. Das muss gekünsteltes Selbstbewusstsein gewesen sein. Wie vergangenen Sommer, als ich gesagt habe, ich treffe gerne zweistellig und will mindestens mehr als fünf Bundesligatore schießen. Unterm Strich: Beides habe ich knapp verpasst (lacht).

Bitter, ich gehöre zu den letzten Spielern, die mit Bayern nicht Meister wurden.

Nils Petersen

Was bedeutet Ihnen das Bayern-Jahr, für das Sie sich in Cottbus als Zweitligaschützenkönig empfohlen hatten?

Unfassbar viel. Allein die Länder Indien und Katar durfte ich durch Dienstreisen ein bisschen kennenlernen. Ich kann mich an die vielen Besprechungen im beeindruckenden Kinosaal erinnern, die waren in diesem titellosen Jahr nicht immer erfreulich. Nach der Hinspielniederlage im Champions-League-Achtelfinale in Basel war Weltuntergangsstimmung, und Karl-Heinz Rummenigge hat vier Din-A4-Seiten in diesem Saal über die Werte des FC Bayern vorgelesen. Puh! Für mich war es noch okay, weil ich ja kaum gespielt habe. Ich war da ein Goldfisch im Haifischbecken. Insgesamt war es eine krasse Erfahrung, mit den Besten zusammenzuspielen. Ich musste in jedem Training ans Limit gehen, um bei diesem hohen Niveau nicht negativ aufzufallen. Und einmal standen zwei Busse bei der Abfahrt und Jupp Heynckes hat gesagt: Du kannst bei uns als überzähliger 19. Mann mitfahren oder mit der U23. Ich bin dann bei den Amateuren mitgefahren, weil ich lieber spielen wollte.

15 Profieinsätze und vier Tore waren es für den FCB, der durch das verlorene Finale dahoam aber titellos blieb.

Ja, bitter, ich gehöre zu den letzten Spielern, die mit Bayern nicht Meister wurden. Deshalb habe ich zuletzt auch Dortmund die Daumen gedrückt, damit sich andere bei Bayern auch mal so fühlen (grinst). Ich habe insgesamt nichts gewonnen - außer den Liga-Total-Cup mit Bremen.

Dafür holten Sie 2016 Olympia-Silber in Rio. Welchen Stellenwert hat dieses Turnier trotz des verschossenen Elfers im Finale gegen Brasilien?

Nils Petersen

Enttäuscht nach dem Fehlschuss in Rio: Nils Petersen. imago/Rene Schulz

Am Anfang hatte mich das sehr getroffen, weil ich mich schuldig fühlte, dass wir kein Gold gewonnen haben. Dann habe ich aber schnell gemerkt, dass es kaum Gegenwind gab, Olympia im Fußball nicht den Stellenwert hat wie eine EM oder WM und im Vordergrund der Erfolg stand, dass wir als Außenseiter Silber gewonnen haben. Im Team war die Stimmung sowieso super, die haben mich aufgebaut und es mir leicht gemacht, schnell darüber hinwegzukommen. Ein deutsches Männerteam war davor letztmals 1988 bei Olympia gewesen. Ich hatte das Glück, das olympische Dorf kennenlernen zu dürfen und auch noch eine Medaille zu gewinnen - es war ein unglaubliches Erlebnis.

Sie bezeichnen sich als erfolgsverwöhnt. Zu Karrierebeginn lief aber nicht alles glatt. Wegen eines Erstligaangebots des 1. FC Köln, der sich mit Jena aber nicht auf eine Ablöse einigen konnte, wollten Sie vor dem Zivilgericht aus Ihrem Vertrag. Ein Fehler?

Das ist ein kleiner Fleck auf meiner Saubermannweste. Da wurde aber ein Konflikt auf meinem Rücken ausgetragen. Es wurde gerade die 3. Liga gegründet, und die war im Vertrag nicht explizit genannt, sondern nur die 2. Liga und die Regionalliga. Mein Berater meinte, der Vertrag sei nicht gültig, und wollte mich rausklagen, damit ich ablösefrei wechseln kann. Das klappte nicht, und ich wollte auch nicht der Buhmann sein als 18-Jähriger.

Das war brutal. Ich kam im Winter, wohnte im Hotel, in der Mannschaft wurde kaum Deutsch gesprochen, es war purer Abstiegskampf mit hartem Training.

Nils Petersen

Damals verspielten Sie Sympathien.

Ja, es hat dann auch sportlich nicht mehr funktioniert, weil ich als sensibler Spieler Rückhalt brauchte, der auch durch diesen Gerichtsprozess nicht mehr da war. Es war gut, ein halbes Jahr später wegzukommen, aber ich habe Jena nie etwas Schlechtes gewünscht, habe den Kontakt gehalten und war auch nach meinem Erfolg woanders immer mal wieder vor Ort. Da hat man mir irgendwann verziehen und ich habe dort, glaube ich, bis heute einen recht guten Ruf.

Die folgende Zeit in Cottbus ging aber auch nicht gut los. Trainer Bojan Prasnikar nannte Sie konsequent Jens.

Das war brutal. Ich kam im Winter, wohnte im Hotel, in der Mannschaft wurde kaum Deutsch gesprochen, es war purer Abstiegskampf mit hartem Training. Da gab es kein Feedback, keine menschliche Wärme. Das harte Arbeiten war okay, aber für mich 20-jährigen Hansel eine neue Welt, in der ich mich nicht immer wohlgefühlt habe, die mich aber hat reifen lassen. Diese Kälte, nur zu funktionieren, war eine wichtige Erfahrung, es war aber nicht die coolste Zeit.

Trotz dieser frostigen Phase danken Sie in Ihrem Buch "ausnahmslos allen Mit- und Gegenspielern". Gab es nicht mal einen, mit dem Sie Zoff hatten?

Nein, nicht wirklich. Meinungsverschiedenheiten gab es natürlich, aber keine Auseinandersetzungen. Ich behaupte sogar, einer der nettesten Gegenspieler gewesen zu sein (lacht).

Und welcher Gegenspieler war trotzdem nicht nett zu Ihnen?

Toni Rüdiger in seiner Anfangszeit in Stuttgart war sehr unangenehm, wollte auch verbal verunsichern oder hat mir mal eine mitgegeben, obwohl der Ball ganz woanders war. Dieses Nervige kombiniert mit hartem Verteidigen ist ja auch ein bisschen sein Markenzeichen. Und wenn ich in Bremer Zeiten im Training in den Fängen von Assani Lukimya war, kam ich einfach nicht drum herum. Da bin ich in Zweikämpfen manchmal verzweifelt. Gegen körperlich starke Gegenspieler war es schwer für mich.

Ich habe mich regelmäßig geschont im Training.

Nils Petersen

Das werden die gemerkt haben.

Es war schon witzig und eigentlich nicht gut, dass ich öfter im Training das Gefühl hatte, unsere Verteidiger wollen unbedingt gegen mich spielen. Ich habe eben keinem wehgetan, bin keinem weggerannt, hatte nur immer meine Momente vor dem Tor.

Mit denen Sie es den netten Verteidigern regelmäßig heimzahlen konnten.

Ja, ich konnte mich daran hochziehen, wenn man mich genervt hat. Ich kann mich an ein Abschlusstraining in Freiburg erinnern, da war Nico Schlotterbeck noch ganz jung, stand aber in der A-Mannschaft und sollte am nächsten Tag beginnen. Er war schon damals sehr selbstbewusst und wollte mich bei Standards unbedingt decken. Da habe ich mich besonders konzentriert und direkt zwei Tore gemacht - und Nico war raus aus der Startelf. Das hält er mir immer noch vor, dass ich ihn diesen Einsatz gekostet habe (grinst).

Täuschte der Eindruck, oder haben Sie sich ansonsten im Training auch immer mal wieder geschont?

Ich habe mich regelmäßig geschont im Training (schmunzelt). Gerade, wenn die Aufstellung schon feststand, war man relaxter, weil man wusste, man spielt, oder eben nicht. Ich habe sehr oft mit Auge trainiert. Das hat mich wahrscheinlich auch viele Startelfeinsätze gekostet, weil Christian Streich viel Wert auf Trainingsqualität legt.

Erstaunlich, dass ich achteinhalb Jahre beim SC überlebt habe, weil ich überhaupt nicht der Spielertyp bin, auf den der Trainer steht.

Nils Petersen

Haben Ihnen also vor allem Tempo, Athletik und Härte gefehlt, um ein konstanter Topstürmer zu sein?

Kann man so sehen. Im Nachhinein ist es echt erstaunlich, dass ich achteinhalb Jahre beim SC überlebt habe, weil ich überhaupt nicht der Spielertyp bin, auf den der Trainer steht. Ich weiß nicht, ob er es anders sieht, aber eigentlich liebt er Zweikampfhärte, Kopfballpräsenz, Bälle festmachen, dem Gegner auch mal wehtun - das habe ich alles nicht mitgebracht. Bei den Fähigkeiten außerhalb des Strafraums war ich unterdurchschnittlich. Das war auch der Grund, warum andere vor mir gespielt haben. Hätte ich von all den Attributen zehn Prozent mehr gehabt, wäre mehr Einsatzzeit möglich gewesen, oder ich hätte mich vielleicht bei Bayern und in Bremen länger behaupten können.

Aber natürlich habe ich ihn auch mal verflucht, weil ich dachte, Mensch, ich schieße doch Tore.

Nils Petersen über Christian Streich

Warum hat es trotzdem mit Streich gepasst?

Ich glaube, dass er erkannt hat, dass ich mich in diesen Bereichen verbessern wollte. Ich habe versucht, jeden Kopfball und Zweikampf zu gewinnen. Manchmal habe ich gesehen, wie er sich draußen aufregte, wenn ich ein direktes Duell verloren hatte. Aber ich wollte, war gewiss nicht faul, sondern habe es dann einfach nicht besser hingekriegt. Auf der anderen Seite hat er meine Abschlussqualität auf gewisse Weise geliebt, dass es doch so lange funktioniert hat mit uns. Ich war auch manchmal frustriert, dass der Coach Dinge von mir eingefordert hat, die ich schlicht und ergreifend nicht konnte. Es war speziell zwischen uns.

Das müssen Sie bitte genauer erklären.

Ich wusste immer, wie er denkt. Er wusste, wie ich denke. Ich habe ihm auch manchmal böse Blicke zugeworfen oder mit Lustlosigkeit meine Unzufriedenheit kundgetan. Nicht oft, aber ich habe es mal gemacht und meistens danach bereut, weil es nichts an der Situation geändert hat. Aber natürlich habe ich ihn auch mal verflucht, weil ich dachte, Mensch, ich schieße doch Tore. Dabei war das Auf-die-Bank-setzen gar nicht das große Problem, ich war einfach enttäuscht, dass ich in seinen Gedanken um die beste Startelf keine Rolle gespielt habe. Ich habe erst später kapiert, was dahintersteckt und wie oft Spiele zum Schluss entschieden werden und wie oft ich mit meinen Toren einen Beitrag geleistet habe.

Der Ball war beim Torhüter, er hat das Video angehalten und gesagt: Nils, warum stehst du da?

Nils Petersen

Haben Sie oft miteinander über solche Dinge gesprochen?

Nein, nicht wahnsinnig viel. In den letzten beiden Saisons haben wir uns eher über andere Themen unterhalten, meinen veganen Ernährungsstil oder so was. Aber er kam nicht alle drei Wochen und hat gefragt, wie sieht’s sportlich aus oder um mir seine Einschätzungen mitzuteilen. Ich brauchte das auch nicht unbedingt, dafür hat man ja auch noch Co-Trainer. Ich glaube am Ende war er ein wenig in einer verzwickten Rolle, mich eigentlich spielen lassen zu wollen, aber auch zu merken, es kommt nicht mehr so viel. Das war auch völlig okay. Das habe ich auch in Bremen damals gesagt, als mich Viktor Skripnik aussortiert hat. Die Art der Kommunikation ist in solchen Fällen wichtig für mich. Das hat meistens gepasst.

Was haben Sie Streich zu verdanken?

Er hat mich vor allem taktisch verbessert. Ich hatte vorher nie gelernt, auf meine Positionierung zu achten, wenn der Ball 100 Meter entfernt oder irgendwo im Aus war. Der Ball war beim Torhüter, er hat das Video angehalten und gesagt: Nils, warum stehst du da? Stell dich drei Meter weiter rüber. Er hat mich in meiner defensiven Denkweise, immer wieder hinter den Ball zu kommen, enorm verbessert. Vor allem war er acht Jahre mein Chef und hat mit dafür gesorgt, dass ich jetzt eine Heimat und mich immer wohlgefühlt habe. Wir hatten immer ein gutes, kollegiales Miteinander, wir schätzen uns sehr.

Ich bin ein Spieler, der fällt schnell durchs Raster, wenn es nicht gut läuft, weil ich nur ein reiner Vollstrecker war. Wenn es weniger wird und ich nicht treffe, braucht man mich nicht.

Nils Petersen

Zum angesprochenen Aus in Bremen: Dort fühlten Sie sich auch schnell heimisch. Warum waren es dann doch nur zweieinhalb Jahre bei Werder?

Ich habe gesagt, Bremen ist meine Zukunft, da werde ich alt, da will ich leben, weil ich dort schnell angekommen war, es zwei Jahre gut lief. Werder war für mich damals ein Verein für Platz zehn bis zwölf und ich war ein Spieler für Platz zehn bis zwölf, deshalb hatte es eigentlich gut gepasst. Aber dann kam vieles zusammen, die Qualität ließ insgesamt nach. Im ersten Jahr hatten wir Topspieler mit De Bruyne, Arnautovic, Hunt, Elia und ich dadurch Vorlagengeber ohne Ende. Dann hatte sich mit Di Santo und Selke ein starkes Sturmduo gebildet und ich war ratzfatz zur Nummer drei oder gar vier durchgereicht. Durch die klare Haltung von Trainer Skripnik habe ich mir dann etwas anderes gesucht und in Freiburg mein Glück gefunden.

Erstaunlich ist, dass Sie trotz dieses sportlich unangenehmen Endes im Winter auch zu diesem Klub noch gute Verbindungen pflegen.

Ich war dort, glaube ich, auch auf eine bestimmte Art beliebt, nicht, weil ich dort wahnsinnig viel getroffen habe. Ich kam mit dem Menschenschlag dort im Norden gut klar, habe mich auch in der Kabine wohl gefühlt - aber ich bin eben ein Spieler, der fällt schnell durchs Raster, wenn es nicht gut läuft, weil ich nur ein reiner Vollstrecker war. Wenn es weniger wird und ich nicht treffe, braucht man mich nicht.

Mehr Anerkennung für Joker? "Da sollte ein Umdenken stattfinden."

Da Sie so offen und schonungslos über Ihre Schwächen sprechen, müssen wir Ihre Abschlussstärke mit beiden Füßen würdigen, die Streich Weltklasse nannte. Haben Sie sie bei allem Talent speziell trainiert?

Christian Streich hat spaßeshalber gesagt, das ist Ost-Schule, diese Beidfüßigkeit. Aber es wurde in der ostdeutschen Fußballausbildung tatsächlich viel Wert darauf gelegt, immer wieder den schwachen Fuß zu trainieren. Ich habe in der Jugend auch unfassbar viel Zeit am Kopfballpendel verbracht. Ansonsten habe ich wahnsinnig viele Spiele geschaut und immer bei Chancen darauf geachtet, wie könnte der Ball auf dem einfachsten, nicht auf dem schönsten Weg ins Tor gehen, und wie spekulieren die Torhüter. Nach dem Training habe ich oft Abschlüsse aus allen Winkeln geübt, um zu sehen: Wie komme ich am besten hinter den Ball, wie muss ich mich positionieren und wohin sollte ich schießen. Ich habe viele Tore mit dem ersten Kontakt erzielt, wenn ich aber einen zweiten brauchte, habe ich mir eine sehr hohe Konzentration für den ersten Kontakt antrainiert, damit ein erfolgreicher Abschluss möglich ist. Außerdem habe ich meine Mitspieler und deren Gewohnheiten bei Hereingaben studiert, um in den gefährlichen Räumen aufzukreuzen, und mir eine Wachsamkeit angeeignet, auf Abpraller zu lauern, um die halbe Sekunde vor dem Verteidiger da zu sein.

Spezialtraining für einen Spezialisten also. Müssten solche Rollenspieler im Fußball nicht generell mehr Anerkennung erfahren? Es zählen vor allem die Startelfeinsätze, während im Basketball die fünf Spieler in den entscheidenden Schlussminuten oft wichtiger sind als die fünf, die beginnen.

Absolut. Da sollte ein Umdenken stattfinden, wie es bei mir über die Jahre passiert ist. In wie vielen Spielen von Anfang an habe ich nichts gerissen und dann in 20, 30 Minuten viel mehr hingekriegt, wenn sich Räume geöffnet haben und Gegenspieler etwas müde wurden. Man sollte vielleicht neue Begriffe erfinden.

Im Kartenspiel hat der Joker doch meistens die höchste Wertigkeit.

Stimmt, das sollte auch mal im Fußball ankommen (lacht). In jedem Fall darf die Wertschätzung gegenüber Einwechselspielern gern steigen. Auch innerhalb der Mannschaften.

Wenn ich bei anderen Nationen sehe, wie die Bänke aufspringen und ein Tor der Startelf wie wild feiern, ist es hier oft reservierter. Es wirkt gerade alles ein bisschen verkrampft.

Nils Petersen über die Nationalelf

Wie meinen Sie das?

A- und B-Mannschaft, das ist überholt. Durch fünf Wechsel wird oft die Hälfte der Feldspieler ausgetauscht, es gibt wahnsinnig viel Potenzial für Profile und Impulse der Spieler, die reinkommen. Gerade bei jungen Spielern fehlt oft die Dankbarkeit. Die meckern eher, wenn sie siebenmal nicht starten durften, statt sich über sieben Einwechslungen zu freuen, in denen sie etwas bewegen können.

Über Ausbildungsfehler wird schon lange diskutiert. Was fehlt den jungen, oft sehr selbstbewussten Spielern, teilweise auch in der Nationalelf?

Ein Stück weit Disziplin, Biss und echter Teamgedanke. Es geht oft nur darum: ich will spielen. Es sind viele straighte Typen da, die unfassbar gut kicken können und sagen, sie wären Teamplayer. Aber das wahrhaftig zu leben und zu fühlen, das erkennen die Zuschauer. Das fehlt uns in Deutschland manchmal, auch bei der Nationalmannschaft.

Es geht ausschließlich ums Geld. Ich denke dann, was für ein frustrierendes Leben müssen diese Jungs haben, damit sie meist zum Karriereende dorthin gehen. Diese Spieler vermisse ich dann aber auch nicht. Ich habe noch nicht ein Spiel von Ronaldo gesehen und werde auch keins von Benzema anschauen.

Nils Petersen

Was genau meinen Sie?

Wenn ich bei anderen Nationen sehe, wie die Bänke aufspringen und ein Tor der Startelf wie wild feiern, ist es hier oft reservierter. Es wirkt gerade alles ein bisschen verkrampft. Es wird immer gesagt, wir sind ein Team und mischen uns unter die Leute. Dann gibt es nette Kampagnen, insgesamt viel Hauruck, um irgendwie eine Euphorie vor der EM zu erzwingen. Die kriegst du aber nur hin, wenn du dich als echte Einheit auf dem Platz und daneben präsentierst. Dann werden auch mal Fehler oder ein schlechtes Ergebnis verziehen. Im Moment fehlen zehn bis 15 Prozent, wobei ich gleich dazusage, dass ich selbst nicht der Typ war, der die Ärmel hochgekrempelt, dazwischengehauen und die anderen mitgerissen hat. Ein paar von diesen echten Typen sind aber hilfreich.

An wen denken Sie?

Niclas Füllkrug, Matthias Ginter oder auch Christian Günter sind Spieler, denen man ansieht, dass sie alles geben und unbedingt wollen. Wenn man mit unstrittiger individueller Qualität gerade nicht erfolgreich ist, sind die Basics gefragt.

Nicht nur die Nationalelf fordert einen Fußball-Liebhaber und -Romantiker wie Sie gerade heraus. Wie finden Sie es, dass nun immer mehr europäische Top-Fußballer und -trainer nach Saudi-Arabien wechseln? Ein Land, in dem viele Menschenrechte missachtet werden und das vor allem wegen geopolitischer Interessen massiv in den vermeintlich sauberen und verbindenden Spitzensport investiert?

Es ist enttäuschend und wirft ein schlechtes auf uns Fußballer, weil niemand mit dem Argument kommen kann, es ist so interessant dort, meine Frau will unbedingt dorthin oder meine Familie liebt Saudi-Arabien. Es geht ausschließlich ums Geld. Es ist legitim, wenn jemand sagt, ich bin Kapitalist, nehme das Geld mit und setze mich dann mit 35 und zig Millionen zur Ruhe. Das wäre ehrlich. Ich finde jedoch, wir verdienen sowieso schon so viel Geld und haben ein hoch privilegiertes Leben. Besonders alle die, die gerade dort hinwechseln. Für mich sind eine lebenswerte Umgebung, ein Umfeld mit Familie und Freunden oder eine echte Heimat unbezahlbar. Ich denke dann, was für ein frustrierendes Leben müssen diese Jungs haben, damit sie meist zum Karriereende dorthin gehen. Diese Spieler vermisse ich dann aber auch nicht. Ich habe noch nicht ein Spiel von Ronaldo gesehen und werde auch keins von Benzema anschauen, weil es mich überhaupt nicht interessiert und sie dort auch niemals bis zu ihrem Maximum gefordert werden. Ich kenne auch niemanden, der diese Spiele dort sieht oder sich ein Trikot kaufen möchte.

Neymar, Benzema und vier Deutsche: Die Sommerwechsel nach Saudi-Arabien

Petersen freut sich jetzt auf einen selbstbestimmten Alltag, "weil ich mein Leben lang fremdbestimmt war als Profi". Nach halbjähriger "Konsolidierungsphase" möchte er mit den SC-Verantwortlichen über einen möglichen Anschlussjob sprechen. Anders als Vater Andreas, der in der Regionalliga unter anderem Magdeburg trainierte, sieht Petersen seine Zukunft als Absolvent eines BWL-Fernstudiums im Management. "Ich mag das Geschäftsstellenleben, ich war immer gerne dort oben." Von dort wird künftig anderen zugejubelt.

Interview: Carsten Schröter-Lorenz