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Meinung Niklas Luhmann (1927-1998)

Die Freiheiten des Außenseiters

+honorarpflichtig+++ Der deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Dr. Niklas Luhmann. +honorarpflichtig+++ Der deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Dr. Niklas Luhmann.
Niklas Luhmann (8. Dezember 1927 - 6. November 1998)
Quelle: SZ Photo
Vor 25 Jahren starb Niklas Luhmann, der wohl kreativste deutsche Soziologe der Nachkriegszeit. Hier erinnern Dirk Baecker, Hans Ulrich Gumbrecht, Alexander Kluge, Maren Lehmann und Rudolf Stichweh an ihn und ergründen die Aktualität seines Denkens.

Schönheit des Denkens. Zum Vermächtnis von Niklas Luhmann

von Hans Ulrich Gumbrecht

Für Intellektuelle der jüngeren Generationen ist die Intensität kaum vorstellbar, mit der Niklas Luhmanns Veröffentlichungen, aber auch Luhmann als Figur über das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts begeisterte Zustimmung oder entrüstete Ablehnung provozierten. Jene Aufmerksamkeit setzte ein mit dem berühmt gewordenen Vortrag des Quereinsteigers ins Universitätsleben – Luhmann stammte aus einer Lüneburger Bierbrauer-Familie und war zunächst Verwaltungsjurist – der auf dem Soziologentag 1968 drei zentrale Prämissen des damals im Fach dominierenden Frankfurter Neomarxismus infrage stellte.

An die Stelle der scheinbar unvermeidlichen Auffassung von Gesellschaft als Gruppe aus Individuen stellte er einen universellen Begriff des „Systems“, der Gesellschaften wie Individuen umfasste und definiert war durch die Verarbeitung von Herausforderungen in der jeweiligen Systemumwelt; die Strukturen der Systeme sollten nicht aus Handlungen hervorgehen, sondern aus ihrer auf die Umwelt reagierende „Selbstorganisation“; und als Ziel der System-Analyse trat anstelle politischer Veränderung eine „höhere Komplexität“ der geleisteten Beschreibung.

Was an dieser Position vor allem Empörung wie Zustimmung aktivierte, war der Verfremdungseffekt eines philosophischen Entwurfs, der auf ein Konzept des Menschen als Ausgangspunkt verzichtete. Der Effekt konvergierte mit vielleicht ironisch gemeinten, aber von Antagonisten wie Anhängern durchaus ernst genommenen Formen der Selbstpräsentation Luhmanns, der etwa auf Kombinations-Möglichkeiten eines Zettelkastens und nicht auf das eigene Bewusstsein als Energiezentrum seiner geistigen Produktivität verwies.

In dem Maß, wie Luhmann konsequent jene elementaren Intuitionen in Richtung auf ein philosophisches System aller Systeme mit dem Fluchtpunkt ebenso kohärenter wie allumfassender Welterklärung weiterführte, schwanden die Kontroversen. Das intellektuelle Deutschland folgte seinen Essays und Büchern wie den Kapiteln eines Fortsetzungsromans und entwickelte Sympathie für den gelassenen Autor ihrer eleganten Prosa. Mit Luhmanns Tod kam der Prozess zu einem abrupten Ende. Die prognostizierte internationale Rezeption war ausgeblieben. Die Produktivität des zum Mythos aufgestiegenen Zettelkastens hat selbstredend seinen Besitzer nicht überlebt. Und selbst der Wikipedia-Verweis auf Luhmann als „Klassiker der Soziologie“ wirkt inzwischen wie ein Echo aus ferner akademischer Vergangenheit.

Ob Soziologie und Philosophie mit einer fortgesetzten Konzentration auf sein Werk gut beraten gewesen wären, ist eine Frage für die Fachgeschichten. Mit Luhmanns Vermächtnis hat sie wenig zu tun. Eher zeigt der Rückblick auf die Zeit seiner singulären Faszination, welche Kraft die Schönheit des Denkens entfalten kann, Schönheit nach Immanuel Kant als Eindruck einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck.“ Genau in diesem Sinn löste Luhmanns Denken Hoffnungen auf eine praktische Relevanz aus, an der ihm selbst wenig lag. Aus der Perspektive ästhetischer Wertschätzung gehört er also gewiss zu den großen Denkern der deutschen Tradition – wie Hegel oder Marx, ohne deren Gegen-Impulse er vielleicht Verwaltungsjurist geblieben wäre.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature Emeritus an der Stanford University und Presidential Professor of Romance Literatures an der Hebrew University in Jerusalem. Zuletzt erschien von ihm „Das Ende von allem. Neun Betrachtungen und ein Essay“ (Reclam)
Hans Ulrich Gumbrecht ist Professor in Literature Emeritus in Stanford und Presidential Professor of Romance Literatures in Jerusalem. Zuletzt erschien „Das Ende von allem“
Quelle: picture alliance/Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Der Distanzvirtuose

von Maren Lehmann

In seinem Bemühen um Distanz lässt sich womöglich kein unzeitgemäßerer Autor denken. Luhmann braucht Abstand, und Luhmann schafft auch Abstand. In beidem erweist er sich als Soziologe par excellence – eine auf Distanz verzichtende Wissenschaft wäre zu Beobachtungen erster Ordnung verdammt, zu simplen Feststellungen, sie würde an ihrem Gegenstand kleben, sie hätte nie Fragen, wäre nie beunruhigt, nie kritisch. Sie wäre Bescheidwisserei und Rechthaberei, aber Soziologie wäre sie nicht.

In Luhmanns Arbeit gibt es keinerlei Anzeichen und schon gar keine Präferenz für solche autoritäre Klebrigkeit. Seit seinen frühesten, als intellektuelle Provokationen in scherzendem Duktus vorgetragenen Texten versteht er die Freiheiten des Außenseiters auszuspielen. Da zeigt sich ein geradezu enttäuschungsaffiner Beobachtungs- und Erwartungsstil, den er selbst »kognitiv« genannt und zeitlebens geschärft hat: lernfähiges, ja geradezu lernlustiges Denken.

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Luhmanns Stil ist unerschrocken und konziliant zugleich, nie vertraulich, nie anmaßend, immer offen – in einer durch nichts zu entmutigenden Präzision. Nicht das geringste Bedürfnis nach Bestätigung oder nach Zugehörigkeit ist zu erkennen, auch keinerlei Spekulation auf Sympathie oder Nähe. Vor jeder Hoffnung auf wärmende Aspekte von Sozialität warnt Luhmann sogar, weil sie als Vorwand für Vertraulichkeiten dienen und deren Zurückweisung entmutigen könnte – und weil sie zu einer Ideologisierung der Binnensicht führen könnte, zu Fremdheitsaversion und Fremdenfeindlichkeit, zu ängstlicher Eitelkeit habituellen Untersichseins.

Diese Warnungen häufen und verdichten sich in seinen späteren Texten. Das anachronistische Drama der zugehörigkeits- und herkunftsfixierten „Einschränkung von Freiheitsgraden“ scheint ein immer breiteres Publikum anzuziehen, während die „Symphonie der Intransparenz“ als ungenießbarer Lärm empfunden und diskreditiert wird. In dieser entscheidenden Frage lehrt Luhmann Gehörbildung, durch ein einziges unspektakuläres Instrument, ein einziges elegantes Stilmittel: durch Abstraktion, die sachliche Schwester sozialer Distanz. Sie wird mit dem Schrecken der Unverständlichkeit verbunden und als Geste der Arroganz geschmäht; aber sie lüftet jede Enge. Was, wenn nicht das, ist zeitgemäß.

Maren Lehmann ist Professorin für Soziologische Theorie in Friedrichshafen. 2011 veröffentlichte sie „Theorie in Skizzen“, zuletzt den Aufsatz „Lose Kopplung“ in „Soziale Systeme“.
Maren Lehmann ist Professorin für Soziologische Theorie in Friedrichshafen. 2011 veröffentlichte sie „Theorie in Skizzen“, zuletzt den Aufsatz „Lose Kopplung“ in „Soziale Systeme“.
Quelle: Maren Lehmann/Lorenz Widmaier
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Lernfähigkeit

von Rudolf Stichweh

In einem Seminar Luhmanns, an dem ich teilnahm, tauchte die leicht provozierend gemeinte Frage auf, wie er über Gentechnologie denke. Luhmann dachte nach, wie so oft mit einer Spur von Theatralik, und sagte dann „Wenn die Lernfähigkeit erhalten bleibt …!“. In nuce war in diesem Austausch der ganze Luhmann präsent: Der Technologieverdacht, die moralisch zugespitzte Alternative, ein Luhmannsches Ausweichmanöver, ironische Distanz in einer nicht zu antizipierenden Antwort.

Aber es war ernst gemeint. Luhmann war von Lernfähigkeit zutiefst überzeugt. Sie war eine Eigenschaft des Menschen, die nicht verbessert werden konnte. Sie war eine Bedingung der Bewältigung doppelter Kontingenz. Nur sie erlaube es, die Komplexität, „die mit der Existenz eines freien alter ego in die Welt kommt“ zu meistern. Lernfähigkeit ist die präferierte Seite in einer von Luhmanns originellsten Unterscheidungen, der von normativen und kognitiven Erwartungen, die Luhmann im Sinn eines Primats kognitiver, lernbereiter Erwartungen in der weltgesellschaftlichen Moderne las.

Und das gilt für alle Funktionssysteme: Sie müssen sich auf normative Grundlagen umstellen, die dem freien Spiel kognitiven Lernens Raum bieten. Positives Recht und hypothetische Wahrheitsansprüche der Wissenschaft sind treffende Beispiele dafür. Einmal spricht Luhmann in einem für ihn ungewöhnlichen Duktus vom „obersten Gebot aller Wissenschaften“: „Keine Einschränkung der Lernfähigkeit akzeptieren!“ Daran hat er sich gehalten.

Kritik wurde neugierig aufgenommen. Die selbstgewisse Attitüde des bedeutenden Denkers war ihm völlig fremd. Das berühmte, „Man kann alles ändern, wenn auch nicht alles auf einmal“, das programmatisch seine Version der soziologischen Aufklärung einleitete, galt gerade auch für die eigene Theorie. Und Inter- und Multidisziplinarität, die wichtigsten Garanten der Lernfähigkeit der modernen Wissenschaft, waren für ihn tägliche Praxis, bei gleichzeitigem Bewusstsein und Beharren, dass es in diesen Lernprozessen immer um Variationen in der Soziologie ging.

Rudolf Stichweh ist Seniorprofessor für Soziologie am Forum Internationale Wissenschaft und am ‚Bonn Center for Dependency and Slavery Studies‘ der Universität Bonn. Von ihm erschien zuletzt „Democratic and Authoritarian Political Systems in 21st Century World Society“ (mit A.L Ahlers, D. Krichewsky, E. Moser) im Bielefelder Transcript Verlag
Rudolf Stichweh ist Seniorprofessor für Soziologie am Forum Internationale Wissenschaft und am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies der Universität Bonn
Quelle: ANDREAS ENDERMANN/Rudolf Stichweh

Theorie unzuverlässiger Systeme

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von Dirk Baecker

25 Jahre nach dem Tod von Niklas Luhmann wüsste man nicht nur gerne, wie sich seine Theorie weiterentwickelt hätte, sondern auch, wie er die Weltlage kommentieren würde. Während des Jugoslawienkriegs entließ er die Zuhörerinnen seiner Vorlesung mit dem Wunsch in die Weihnachtsferien, sie mögen einen ruhigen Ort finden, von dem aus sich die Geschehnisse in der Welt beobachten ließen. Kurz nach der Wende empfahl er in einem Feuilletonartikel, Bebra als Eisenbahnknotenpunkt (Güterverkehr) mitten in Deutschland zur neuen Hauptstadt zu machen. Wer weiß, welche Selbstüberschätzung der Politik und der Stadt Berlin erspart geblieben wäre!

Luhmann hat sein dreißigjähriges Projekt der Entwicklung einer Gesellschaftstheorie mit der Publikation von Die Gesellschaft der Gesellschaft ein Jahr vor seinem Tod abschließen können. Aber er ist nicht fertig geworden. Sein letztes Buch ist der Auftakt zu einer weiteren Phase in der Entwicklung einer Theorie, die wir heute dringend benötigen. Der Beginn war in den 1960er-Jahren mit Edmund Husserl ein Interesse an Komplexitätsreduktion durch Selbstreferenz, an einer Selbstreferenz im Übrigen, die nicht Rückzug, sondern Verantwortung implizierte. Es folgten die 1970er-Jahre mit einem an Talcott Parsons geschulten Interesse an der funktionalen Äquivalenz, also Austauschbarkeit, von Strukturen, und die 1980er-Jahre mit einem von Humberto Maturana und Heinz von Foerster angeregten Interesse an der begrenzten strukturellen Kopplung geschlossener Systeme an ihre Umwelt.

Das Buch über die Gesellschaft der Gesellschaft schließlich ist der vorläufige Höhepunkt der Rezeption des Formkalküls von George Spencer-Brown in den 1990er-Jahren. Jetzt rückt die Zweiseitenform der Unterscheidung in den Mittelpunkt der Theoriearchitektur. Wie funktioniert die Kontrolle einer Intransparenz, die selbstreferentielle Systeme erzeugen, um sie kontrollieren zu können? Nach wie vor ist die Paradoxie der verlässlichste Leitfaden. Die Gesellschaft besteht nicht aus in sich ruhenden Elementen, seien sie Menschen, Handlungen oder Kommunikation. Sie ist unruhig, unvollständig und unzuverlässig.

Wie sähe der Formkalkül einer Gesellschaft aus, die mit der Klimakatastrophe, mit Kriegen, mit Migration, mit Algorithmen, mit ihrer patriarchalen und kolonialen Vergangenheit und Gegenwart nicht nur umgehen muss, sondern für jedes dieser Phänomene selbst verantwortlich ist? Wie dysfunktional sind ihre Funktionen, wie funktional ihre Dysfunktionen? Erleben wir das Veralten einer in Funktionssysteme differenzierten Moderne? Was kommt dann? An seinem analog mit mehrwertigen Unterscheidungen arbeitenden Zettelkasten hätte Luhmann vermutlich festgehalten. Werden wir irgendwann über eine Intelligenz verfügen, die der Arbeit Luhmanns mit und in seinem Zettelkasten das Wasser reichen kann?

Dirk Baecker ist Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Zuletzt veröffentlichte er „Wozu Universität?“ im Metropolis Verlag
Dirk Baecker, Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Zuletzt erschien „Wozu Universität?“ im Metropolis Verlag
Quelle: NICOLAS BUEHRINGER/Zeppelin Universität

Ein Teufel des präzisen Gedankens

Niklas Luhmann. Gruß an einen Toten, der für mich noch immer sehr lebendig ist. Ich widme ihm die Beschreibung einer Szene in Frankfurt am Main

von Alexander Kluge

Luhmann vertrat im Wintersemester 1988 Th. W. Adorno, der ein Freisemester hatte, in dessen Seminar. Eines Abends trafen sich Th. W. Adorno und Niklas Luhmann außerdienstlich in einer Gastwirtschaft.

Vereinbart war ein gemeinsames Abendessen im Weinlokal „Rheingold“ gegenüber dem Bühneneingang der Oper. Luhmann hielt die Einladung für eine Höflichkeitsgeste Adornos; wenn er ihn schon in diesem Semester vertrat, konnte man nicht gut darauf verzichten, sich zu sehen. Es erwies sich aber, dass Luhmann irrte. Adorno hatte nicht aus Gefälligkeit, sondern in einer Situation der Lebensnot diesen Kontakt gesucht.

Luhmann bestellte rheinischen Sauerbraten. Adorno, der darum gebeten hatte, die Zeche zu zahlen, wählte eine Flasche Pfälzer Wein und ein Rumpsteak à la Voltaire. Luhmann hielt die Bestellung dieses Gerichts für philosophisch und nicht durch den Appetit begründet. Er prüfte später die Weinkarte und sah, dass Adorno auch in der Wahl des Weines vom Gedanken und nicht von der Zunge sich hatte leiten lassen. Er hatte den teuersten Wein bestellt, um den Wert der Begegnung zu verdeutlichen. So schilderte Luhmann später seinen Eindruck.

Die Geliebte habe ihn verlassen. Jedem, der es anzuhören bereit war, berichtete Adorno in diesen Tagen sein Erlebnis. Er habe die Absicht, erläuterte er Luhmann, noch vor Abschluss seiner ÄSTHETISCHEN THEORIE, vor Inangriffnahme der Vorbereitung für das (Horkheimer und den Studenten versprochene) Seminar zum Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“ im Wintersemester 1969 und auch noch vor Niederlegung der Notizen zur DIALEKTIK VON SUBJEKT UND OBJEKT BEI HEGEL eine GENEALOGIE DER TREUE IN LIEBESANGELEGENHEITEN zu schreiben. Er könne das parallel zu Luhmanns SOZIOLOGIE DER LIEBE tun. Luhmann wandte ein, das Seminar heiße inzwischen LIEBE ALS PASSION. EINE ÜBUNG. Umso besser erwiderte Adorno, dann könne man seine und Luhmanns Arbeit gemeinsam publizieren und so – in Gegenbewegung zum studentischen Zeitgeist, nämlich auf das Wesentliche konzentriert, sozusagen als Beispiel GROSSER KOOPERATION – ein doppeltes Semesterergebnis vorlegen, ein öffentliches Zeichen setzen.

Man könne aber nicht seine persönlichen Liebesgeschichten öffentlich ausbreiten, meinte Luhmann. Wie solle er sich denn praktisch verhalten, fragte Adorno zurück. Ohne die Geliebte werde er es im Leben nicht aushalten. Die Wiederherstellung (restitutio in integrum) der Beziehung sei auch deshalb erforderlich, um den grauenvollen Gedanken abzumildern, dass es mit ihm zu Ende gehe, gleich ob physisch oder geistig. Luhmann ließ sich den Sachverhalt schildern.

Es war offensichtlich, dass die Geliebte, die in einer anderen Stadt lebte, sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand. Sie hatte sich extrem beleidigend geäußert, weil ihr die Trennung von Adorno wohl schwerfiel. Oder aber sie war eine Natur, die mit Entscheidungen und Trennungen nicht vertraut war und schon deshalb zu einem falschen Ton in dieser Situation neigte. Luhmann riet zum Angebot einer Apanage, einer großzügigen wirtschaftlichen Ausstattung der Freundin. Dann könne über eine Periode der Freundschaft hinweg die frühere Intimität erneut gesucht werden. Die Apanage sei nicht in einem Verhältnis von Leistung und Gegenleistung darzustellen, sondern als eine Äußerung der Treue, die Generosität gegen Beleidigung setze und auch Treue der anderen Seite verlange.

Luhmanns dunkle, schnelle Augen bewegten sich „einfühlend“, geschützt hinter der schmalen Hornbrille, einer Augenbekleidung, wie sie in den frühen Vierzigerjahren aufgekommen und inzwischen in eine moderne Façon gebracht worden war; sie gab dem schmalen „römischen“ Gesicht des Gelehrten einen „reservierten“ Ausdruck. Die Augen Adornos waren ohne solchen Schutz. Sie blickten ruhig und konzentriert mit erstaunlich wenigen Bewegungen auf sein Gegenüber.

Alexander Kluge lebt als Schriftsteller und Filmemacher in München. Zuletzt erschien von ihm „Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit – Gespräche und Projekte“ (mit Stefan Aust)
Alexander Kluge lebt als Schriftsteller und Filmemacher in München. Zuletzt erschien: „Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit“ (mit Stefan Aust)
Quelle: picture alliance/dpa/Jens Kalaene

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