„Nichts zu verlieren“ (BR, ORF / Royal Pony Film, Lieblingsfilm) handelt von einer Trauerreise, die aus den Fugen ger�t, als zwei verzweifelte Ganoven auf der Flucht den altert�mlichen Bus kapern. Regisseur Wolfgang Murnberger und Autorin Ruth Toma gelingt dabei das Kunstst�ck, eine im Grunde traurige Geschichte konsequent als Kom�die zu erz�hlen. Im Verlauf der Fahrt gew�hren alle Teilnehmer inklusive der Gangster tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Der Film erz�hlt eine Geschichte mit hohem Identifikations-Potenzial, schlie�lich hat so gut wie jeder schon mal einen geliebten Menschen verloren, und in der Tat gibt es Augenblicke, die zu Herzen gehen. Trotzdem wird „Nichts zu verlieren“ auch dank der relaxten Musik nie zum Befindlichkeitsdrama. Daf�r sorgt nicht zuletzt Georg Friedrich, der als Wortf�hrer der Kriminellen die mit Abstand bissigsten Dialoge hat.
Dieser Film ist eine wahre Freude f�r alle Zuschauer, die �berzeugt sind, jede Geschichte sei schon mal erz�hlt worden. Es mag gewisse Parallelen zu den Verfilmungen von Monika Peetz’ Romanen �ber die „Dienstagsfrauen“ geben, aber Ruth Toma bereichert die Rahmenhandlung in ihrem von Regisseur Wolfgang Murnberger bearbeiteten Drehbuch um eine ganz entscheidende Komponente: „Nichts zu verlieren“ orientiert sich zwar �hnlich wie die „Dienstagsfrauen“-Trilogie an der Dramaturgie eines Pilgerfilms, doch zu den Teilnehmern im Reisebus gesellen sich ein schwerverletzter �sterreichischer Krimineller und sein Komplize. Die beiden haben soeben den Tresor eines ber�hmten K�nstlers geleert und sind nun auf der Flucht. Diese kleine Abweichung vom Schema gen�gt, um das Subgenre gegen den Strich zu b�rsten, weil die typische Selbstfindungsthematik nun in ganz anderem Licht erscheint.
Foto: BRTrauertherapeutin Irma (Lisa Wagner) hat schon gen�gend eigene Probleme. Dann die Trauermienen der Reisenden und jetzt auch noch dieser impertinente �sterreicher (Georg Friedrich), der den Bus mit seinem Halbbruder kapert... Was f�r ein Tag!
Und noch einen Unterschied gibt es. Als sich die Menschen im Bus gegenseitig vorstellen („Harry, sieben Monate“), klingt das zun�chst r�tselhaft: als w�rden sie die Zeit bemessen, die ihnen noch bleibt. F�r Todkranke sehen sie aber viel zu gesund aus. Es dauert eine Weile, bis� das Geheimnis gel�ftet wird: Die Fahrg�ste befinden sich auf einer Trauerreise. Sie haben einen geliebten Weggef�hrten verloren und wollen mit Hilfe von Trauertherapeutin Irma (Lisa Wagner) �ber den Verlust hinwegkommen. Deshalb hat die Fahrt auch kein konkretes Ziel. Der Weg ist das Ziel. Das Gef�hrt ist vierzig Jahre alt und zuckelt zur Verzweiflung der beiden Verbrecher nur im Schneckentempo durchs bayerische Voralpenland Richtung �sterreich. W�hrend der beschaulichen Tour erz�hlen die Mitreisenden ihre Geschichten, was zu einigen �berraschungen f�hrt. Zwar trauern alle um einen Lebensgef�hrten, aber das muss nicht immer der Mann oder die Frau gewesen sein. Mit gro�er Kunstfertigkeit f�gt Murnberger die entsprechenden Schl�sselszenen als R�ckblenden ein, und auch auf dieser Ebene beantwortet der Film nicht alle Fragen sofort; die in Schwarz gekleidete k�hle Hilde (Susanne Wolff) zum Beispiel war anscheinend eine Geliebte, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wie behutsam der �sterreichische Regisseur den Film inszeniert hat, zeigt ein weiteres Detail: Die Teilnehmer sitzen allein auf einem Zweierplatz. Der Sitz neben ihnen bleibt leer, weil der Partner nach wie vor eine gro�e Rolle in ihrem Leben spielt und sie imagin�r begleitet; die Toten fahren gratis mit. Ganz kurz tauchen die Verstorbenen tats�chlich auf, aber Murnberger integriert diese Momente derart beil�ufig in den Erz�hlfluss, dass man schon zweimal hinschauen muss.
Foto: BRDie Gruppe w�chst zusammen: Aus einzelnen Trauernden wird eine Gemeinschaft. Mit lebenskluger Leichtigkeit gehen Murnberger & Toma das Schwere an. Reise zum guten Endzweck: Der Weg ist das Ziel. Gastdorf, Sch�tz, Merki, Cox & Wolff
„Es gibt sie wirklich, diese Trauerreisen, in denen es darum geht, den Verlust eines geliebten Menschen zu bew�ltigen. Und damit man sich in der Trauer nicht so allein f�hlt, macht man mit anderen Trauernden eine gemeinsame Busreise mit einer Trauertherapeutin. Und Trauer, ob man will oder nicht, geht jeden was an. Denn sie ist die Tante des Todes und mit dem Tod sind wir ja auch alle eng verwandt. Kann man �ber Tod und Trauer einen kom�diantischen Film drehen? Man muss. Wenn man sich zwischen den beiden Strategien, Lachen oder Beten, die es zu deren Bew�ltigung gibt, entscheiden muss, entscheide ich mich lieber f�r das Lachen, solang ich noch kann!" (Wolfgang Murnberger, Filmemacher)
Foto: BRichischen Koproduktionen kein Fernsehwienerisch reden muss, weil der ausgepr�gte Dialekt Teil seines Markenzeichens ist.Eine Klasse f�r sich: Georg Friedrich ("�ber uns das All" / "Wild" / "Wilde Maus"), der einzige �sterreicher, der in deutsch-�sterreichischen Koproduktionen kein TV-Wienerisch reden muss, weil der ausgepr�gte Dialekt Teil seines Markenzeichens ist.eser Artikel stammt von http://www.tittelbach.tv/programm/fernsehfilm/artikel-5007.html
Im Grunde ist „Nichts zu verlieren“ also ein Drama mit hohem Identifikationspotenzial, schlie�lich hat so gut wie jeder schon mal einen geliebten Menschen verloren. In der Tat gibt es Augenblicke, die zu Herzen gehen, aber Toma und Murnberger erz�hlen die Geschichte in erster Linie als Kom�die. Das ist schon deshalb ein Kunstst�ck, weil s�mtliche Einzelteile der Handlung Trag�dien sind. Auch die zu einer gewissen Tantenhaftigkeit neigende Therapeutin Irma – „Ordnung ist ein Haltegriff im Chaos des Lebens“ – ist nicht nur Reiseleiterin, sondern selbst betroffen; und w�hrend sich der Bus durch die Serpentinen windet, verblutet Richy, der Wortf�hrer der beiden Kriminellen. Gespielt wird er von Georg Friedrich, dem einzigen �sterreicher, der in deutsch-�sterreichischen Koproduktionen kein Fernsehwienerisch reden muss, weil der ausgepr�gte Dialekt Teil seines Markenzeichens ist. Richy ist au�erdem ein gutes Beispiel daf�r, wie sorgsam Toma und Murnberger die Rollen entwickelt haben. Weil der Ensemblefilm auf eine zentrale Identifikationsfigur verzichtet, bleiben die Reisenden anfangs auf Distanz. Ihre Schicksale sorgen zwar f�r eine gewisse Anteilnahme, aber Sympathien entwickeln sich erst, als aus den Individuen eine Gemeinschaft wird, zu der schlie�lich auch Richy geh�rt; auf diese Weise kommt sogar der Verbrecher in den Genuss von Mitgef�hl. Tom (Christopher Sch�rf), Richys Halbbruder, hat da l�ngst die Seiten gewechselt, weil sich Miriam (Emily Cox), deren Mann bei einem Motorradunfall gestorben ist, zu ihm hingezogen f�hlt. In dieser Szene verliert der Film kurz seine souver�ne Eleganz, als Helmut (Bernhard Sch�tz), seit sieben Jahren Witwer, angesichts der beiden Turteltauben vom „Helsinki-Syndrom“ spricht und Christa (Johanna Gastdorf) ihn nicht nur korrigieren, sondern auch erl�utern muss, was es mit dem Stockholm-Syndrom auf sich hat. Das ist aber der einzige Stolperer in einer ansonsten wunderbar schl�ssig und fl�ssig komponierten Tragikom�die, in der Buch und Regie immer wieder die Erwartungen konterkarieren. Richys Verletzung zum Beispiel stammt nicht etwa aus einem Schusswechsel. Beim Raub gab es einen dritten Mann, Charly (Marcel Mohab). Der ist bei der Flucht gestolpert, dabei hat sich ein Schuss gel�st. Als Richy und Tom den defekten Fluchtwagen stehen lassen und an einer Tankstelle den Bus kapern, werden sie fortan gleich doppelt verfolgt: Charly will seinen Anteil an der Beute, Irmas Mann Peter (Aurel Manthei), der Veranstalter der Reise, will den Bus stoppen, denn Fahrer Rolf (Michael Grimm) hat an der Tankstelle die H�lfte der Teilnehmer „vergessen“. Witzig wird diese Ebene, weil sich Charly kurzerhand in Peters Kofferraum versteckt und nun Zeuge wird, wie Irmas Mann angesichts der grotesken Situation permanent vor sich hin lamentiert. Dass sich selbst der zun�chst �u�erst unsympathische Peter gegen Ende wandeln darf, beweist die gro�e Zuneigung des Films zu all seinen Figuren.
Foto: BRVon wegen nur Stockholm-Syndrom: Miriam (Emily Cox) und Tom (Christopher Sch�rf) w�nscht man alles Gl�ck der Welt. Mit der Zeit sympathisiert der Zuschauer nicht nur mit den Trauernden, auch der Dieb und sein Fahrer ernten Mitgef�hl.
Soundtrack:
Eric Clapton („Tears in Heaven“), The Police („Every Breath You Take”)
Murnberger ist bekannt daf�r, ernsten Geschichten eine heitere Anmutung zu geben (etwa in den „Sp�tz�nder“-Kom�dien oder in „K�stner und der kleine Dienstag“). Wie gut ihm der Film als Gesamtkunstwerk gelungen ist, zeigt nicht zuletzt die Verwendung von „Tears in Heaven“. Das Lied ist ein Trauerklassiker, Eric Clapton hat es anl�sslich des Todes seines kleinen Sohnes geschrieben, aber selbst in dieser Szene versinkt „Nichts zu verlieren“ nicht im Sentiment. Au�erdem sorgt die entspannte Musik mit ihren Bottleneck- und Blues-Elementen (Alexander Maschke, Dominik Giesriegl) f�r ein heiteres Vorzeichen. Viele Filme Murnbergers basieren auf Drehb�chern von Uli Br�e, der wom�glich noch bissigere Dialoge geschrieben h�tte, aber gerade Friedrich („So eine Trauerreise w�rde ich nicht mal als Toter aushalten“) hat eine ganze Reihe trocken vorgetragener Einzeiler. Der Filmtitel ist angesichts der lebensm�den Schicksalsergebenheit der Reisegemeinschaft ohnehin genial, sodass Richy schlie�lich resigniert res�miert: „Keinen Respekt mehr, die Geiseln heutzutage.“
Foto: BRVorz�gliche Balance zwischen Trauer und Komik. Trotz vieler am�santer Momente – die Figuren werden in ihrer Trauer nie l�cherlich gemacht. Gastdorf & Sch�tz
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.