1 Einleitung – Rechtsextremismus als ein Endpunkt von Radikalisierung?

Will man Prozesse der Radikalisierung untersuchen, dann eröffnet der Rechtsextremismus ein dankbares Feld. Immer wieder wird auf eine Zunahme an rechtsextremen Straftaten und eine rechte Mobilisierung verwiesen, immer wieder sind gegen die Demokratie und politische Gegner gerichtete rechtsextreme Übergriffe zu registrieren (u. a. Quendt 2019). Diese Wahrnehmungen werden von Sicherheitsbehörden aufmerksam begleitet. Denn Rechtsextremismus und rechtsextreme Einstellungen sind seit einigen Jahrzehnten das Musterbeispiel für eine antidemokratische Radikalität.Footnote 1 Nicht nur sind Rechtsextremist:innen zentrale Gegner:innen der Demokratie, sondern sie sind auch die zentralen Träger:innen von rassistischer Diskriminierung, von Vorstellungen von Ungleichwertigkeit und Akteur:innen in gewaltvollen Übergriffen auf Minderheiten. Wenig überraschend liegen zu der Konstitution, sowie den Auswirkungen und Gründen des Rechtsextremismus verschiedene Studien und Publikationen vor (u. a. Arzheimer 2008; Backes 1989, 2020; Kailitz 2004; Minkenberg 2003, 2011; Mudde 2019; Norris 2005; Quent 2019; Rydgren 2018; Virchow et al. 2016). Diese Erforschung trifft, in etwas geringerem Umfang, auch auf Studien zu rechtsextremen Einstellungen zu (Decker und Brähler 2018, 2020; Zick und Küpper 2021). Aus Sicht der Radikalisierungsforschung interessant ist, dass seit den Erfolgen der als rechtspopulistisch bezeichneten Parteien, rechtsextreme Gruppierungen wieder Aufwind zu erfahren scheinen. So ist in den letzten Jahrzehnten ein Wiederaufleben rechtsextremer Rhetorik und Sichtbarkeit festzustellen. Hier stellt sich die Frage, ob der sogenannte Rechtspopulismus, der – je nach Lesart – als eigenständiges Phänomen, öffentlichkeitstaugliche Form des Rechtsradikalismus verstanden werden kann, so etwas wie ein Ausgangspunkt neuer Radikalisierung auf der rechten Seite des politischen Spektrums ist (Arzheimer 2019; Lewandowsky 2022).

In Reaktion auf entsprechende Beobachtungen beschloss im Herbst 2020 die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung und Prävention von Rechtsextremismus und Rassismus (Gomolla et al. 2018). Die dabei herstellte – und oft kritisierte – Verbindung zwischen Rechtsextremismus und Rassismus lenkt den Blick auf eine Art Bindeglied zwischen den Rechtsextremist:innen, die ja als radikalisierte Gruppe eher am Rande der Gesellschaft angesiedelt sind, und Personen in der Mitte der Gesellschaft – Vorurteile und Rassismus. Blickt man tiefer in die gerade zitierten Beschlüsse des Bundestages, so wird diese Beobachtung bestätigt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen inkludieren z. B. die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommissionen zu Muslimfeindlichkeit und die Etablierung von Antisemitismusbeauftragten. Dieser Einbezug liegt nahe, werden doch seitens rechtsextremer und rechtspopulistischer Akteur:innen „der Islam“ oder „die Muslime“ als zentrale Ursache von Konflikten in den europäischen Gesellschaften und als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ausgemacht (G. Pickel und S. Pickel 2018b; G. Pickel et al. 2020a, S. 230–244). Die Wertvorstellungen „des Islam“ und eine ihm zugeschriebene Lebensweise werden als mit christlichen bzw. westlichen Werten genauso unvereinbar eingestuft, wie seine „Kultur“ (Shooman 2014). Die Konsequenz für Personen im rechten Spektrum ist, sich strikt gegen die Einwanderung von Muslim:innen zu positionieren (G. Pickel und Yendell 2016; Schönfeld 2018; Zick et al. 2019). Die Nutzung von Verschwörungserzählungen, wie dem der „großen Umvolkung“ passen sich dabei gut in das rechtsextreme Weltbild ein (z. B. Butter 2018, S. 167–169).Footnote 2 Sie kombinieren die noch existierenden antisemitischen Ressentiments mit dem Feindbild Islam (Pickel und Öztürk 2022, S. 324–332).

Interessant ist die große Reichweite der Mobilisierung durch antimuslimische Propaganda. Sie kann auf eine nicht geringe Verbreitung antimuslimischer Vorurteile wie auch antimuslimischen Rassismus zurückgreifen. Dieses breite Mobilisierungsspektrum gibt hinsichtlich einer potentiellen Radikalisierung entlang antimuslimischen Rassismus Anlass zur Sorge.Footnote 3 So könnte im Sinne der einen Seite der in der Einleitung des Buches vorgestellten Radikalisierungsspirale, eine Mobilisierung und Radikalisierung über eine antimuslimische gesellschaftliche Atmosphäre stattfinden (siehe Einleitung; Schneider et al. 2020, S. 2–4). Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt ist: Inwieweit stellt ein in der Bevölkerung vorherrschender antimuslimischer Rassismen und seine Bestärkung durch Parteien und Politiker:innen des extrem rechten Spektrums so etwas wie ein „Booster“, wie auch Brücke hin zu einer rechten Radikalisierung dar – und wie weit reicht dies (Wahl rechtspopulistischer Parteien, rechtsextreme Überzeugungen, Gewaltbereitschaft)?

Diese Betrachtung einer Seite der Radikalisierungsspirale findet mit Umfragedaten der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 in Kombination mit einem seitens der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) finanzierten Befragungsteil zu „Kirchenmitgliedschaft und politischer Kultur“ statt (Decker und Brähler 2020; EKD 2022; G. Pickel et al. 2022).Footnote 4 Beide Umfragen in Kombination eröffnen ein breites Spektrum an prüfbaren Indikatoren und Konzepten. Dies ist dahingehend relevant, geht es doch im vorliegenden Aufsatz darum die Verbindung zwischen den Haltungen zum Islam und Muslim:innen als einen möglicherweise befördernden Faktor rechter Radikalisierung zu untersuchen. Nicht das man den gewählten Zugang falsch versteht. Es geht nicht darum die Anwesenheit von Muslim:innen oder die Fluchtbewegungen von 2015 als Auslöser für rechtsextreme Einstellungen zu deuten. Es geht darum die Konstruktionen von auf Muslim:innen gerichtete Fremd- und Feindbildern als ein Element rechter Ideologie auszumachen. Noch dazu ein in Teilen der Gesellschaft anschlussfähiges Element, welches besonders erfolgreich ist. Damit bewegen wir uns auf dem Feld der Einstellungsforschung. Unsere These ist: In beachtlichen Teilen der Bevölkerung existente antimuslimische Einstellungen und antimuslimischer Rassismus ermöglicht rechten Akteur:innen die Förderung einer (aus rechter Sicht gewünschten) Radikalisierung in Teilen der Bevölkerung.

2 Konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis von Rechtsextremismus und Radikalisierung

2.1 Rechtsextreme Einstellungen

Für den Begriff und das Phänomen Rechtsextremismus gibt es gleich ein ganzes Bündel an unterschiedlichen Definitionen (Neureiter 1996, S. 12–21; Salzborn 2015, S. 14–19; Virchow 2016, S. 13–20). Dabei wird schnell deutlich, dass die verschiedenen Definitionsversuche in der Bezeichnung von Rechtsextremismus als einem Syndrom oder Sammelphänomen verschiedener Elemente mündet (Pfahl-Traughber 2019, S. 29–42). Für den Blick auf die Verbindung von Radikalisierung, Rechtsextremismus und antimuslimischen Rassismus hilfreich ist die Definition von Hans-Gerd Jaschke (2001). Er versteht unter Rechtsextremismus „die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen.“ (Jaschke 2001, S. 30). Durch dem Fokus auf die im Rechtsextremismus dominante Ideologie der Ungleichwertigkeit wird eine Beziehung zu rassistischem und von Vorurteilen geprägten Denken erkennbar. Dies öffnet den Weg zum Verständnis von rechtsextremen Einstellungen. Sie werden nicht nur als ideologisches Element rechtsextremistischer Kader, sondern als in der Gesellschaft deutlich breiter gestreute Ideologie angesehen, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Anschließend an Decker (Decker et al. 2020, S. 32) verstehen wir „rechtsextreme Einstellungen als Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen“.Footnote 5

Rechtsextreme Einstellungen sind nun nicht direkt rechtsextremistisch motivierte Taten. Sie legen die Grundlage für diese Taten, können aber wesentlich weiter verbreitet sein. Rechtsextreme Einstellungen beschreiben die Haltungen der Bevölkerung zu verschiedenen Kernvorstellungen rechter Ideologie – und eröffnen ein Blick auf das Mobilisierungspotential dieser Ideologien über überzeugte Rechtsextremist:innen hinaus. Annahmen der Ungleichwertigkeit von sozialen Gruppen stellen eine Basis dieses Denkens dar. Die als ungleichwertig angesehenen Gruppen werden unterschiedlich konstruiert. Die deutlichste Abgrenzung, ist die gegenüber kulturell oder identitär als fremd angesehenen Gruppen – mit anderen Worten eine rassistische Abgrenzung (Lavorano 2019). Der Rechtsextremismus ist eng mit nationalistischen und national-chauvinistischen Überzeugungen verbunden. Diese ethnozentristische Vorstellung bringt Rechtsextremist:innen in einen Gegensatz zu allen Entwicklungen der Pluralisierung und der Pluralität einer liberalen Demokratie (auch Falter 1994, S. 138; Pfahl-Traughber 2019; S. Pickel und G. Pickel 2022).Footnote 6

In Kombination mit einer Vorliebe für eine starke Führungspersönlichkeit sowie einem ausgeprägten Antisemitismus wie Rassismus schließen rechtsextreme Einstellungen, gelegentlich in expliziten Äußerungen, an die Ideologie des Nationalsozialismus und des Faschismus an (Beyer und Schnabel 2019, S. 12). Rassistische Elemente, die Zuschreibung von Ungleichwertigkeit auf andere sozialen Gruppen, Vorurteile gegenüber von der eigenen homogenen Norm abweichenden sozialen Gruppen sowie ein antipluralistischer, antidemokratischer und ethnozentristischer Nationalismus kennzeichnen ein rechtsextremes Weltbild. Hinzu tritt die massive Verteidigung eines hierarchisch geprägten Rollenbildes der Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen sowie Antifeminismus (Hoecker et al. 2020).

Aufbauend auf diesen Beobachtungen und einer längeren Periode von je nach Forscher:in variierenden Messungen von rechtsextremen Einstellungen, erarbeitete eine sogenannte Konsensgruppe eine vergleichbare Messung rechtsextremer Einstellungen. Das Syndrom rechtsextremer Einstellungen wurde als „sozial geteilte Ideologien im Sinne eines generalisierten Einstellungsmusters“ verstanden. Das vorgeschlagene Messinstrument enthält neben der Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, den nationalistischen Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus sowie die generelle Ungleichwertigkeitsvorstellung des Sozialdarwinismus (Decker und Brähler 2006, S. 20–21; Zick und Küpper 2016, S. 90–92). Diese Vorstellungen finden sich als Wirtsideologie auch im heutigen Rechtspopulismus. Überhaupt sind die Grenzen zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus fließend (Neureiter 1996, S. 22–24; Mudde 2019, S. 7–8; Priester 2012, S. 164, 185; Virchow 2016, S. 19). Rechtsextremist:innen unterschieden sich von Rechtspopulist:innen oder Rechtsradikalen allein noch durch ihren explizit ausgedrückten Wunsch des Sturzes der Demokratie und ihre Verfassungsfeindlichkeit. In fast allen anderen Aspekten steht man sich sehr nahe. Dies liegt möglicherweise an einer überschneidenden Zusammengehörigkeit zur extremen Rechten (Mudde 2019) oder zum Rechtsradikalismus.

Erst in den 1970er Jahren löste der Begriff Rechtsextremismus in den Überlegungen des Verfassungsschutzes den des Rechtsradikalismus ab, der ebenfalls eine grundlegende Positionierung gegen den Staat und die herrschende Ordnung beschrieb (G. Pickel und Decker 2016, S. 10–14). Der Rechtspopulismus als Bezeichnung erfuhr in den letzten Jahrzehnten, nach einer frühen Genese in den 1920er Jahren in den USA und einem folgenden Zwischenhoch in Lateinamerika, einen Aufschwung (Jörke und Selk 2017, S. 17–31). Er kann sowohl als Politikstil mit dem Ziel des Machterwerbs oder als Ideologie einer Spaltung zwischen „Volk und Eliten“ verstanden werden (Priester 2012, S. 40–44; Mudde und Rovira Kaltwasser 2017, S. 1–20; Taggart 2000, S. 10–23; Urbinati 2019). Der Rechtspopulismus wird oft als noch verfassungsgerechte Variante rechter Positionen angesehen, auch wenn gelegentlich die Grenze hin zu rechtsextremen Positionen überschritten wird. Vorurteile und Rassismen finden sich bei Rechtspopulist:innen nur wenig anders als bei Rechtsextremist:innen. So ist der Weg von einer rechtspopulistisch-radikalen Position zum Rechtsextremismus nicht sehr weit (Priester 2007).Footnote 7 Dies eröffnet Raum für Radikalisierungsprozesse. Rechtspopulistische Einstellungen sind allerdings aufgrund ihrer Fluidität schwieriger zu verorten als rechtsextreme Einstellungen. Konzentriert man sich auf die Differenz zwischen „Volk“ und „Eliten“ so findet man zu hohe Zustimmungswerte, als dass sie wirklich einen ideologischen Gehalt fassen können. Anders sieht es mit der Nähe zur rechten Wirtsideologie und in der Haltung zu anderen sozialen Gruppen aus. In gewisser Hinsicht stellen Rechtspopulist:innen und ihre Anhänger:innen eine Übergangsform zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus mit Radikalisierungspotential dar.

Zur Erklärung des Aufkommens oder Florierens des Rechtsextremismus existiert eine ganze Bandbreite an Erklärungsansätzen (Neureiter 1996, S. 138–272). Startend mit der Wahrnehmung des Rechtsextremismus als „normaler Pathologie“ moderner Industriegesellschaften (Scheuch und Klingemann 1967, S. 12; auch Salzborn 2015, S. 94–95) seien hier nur die Ansätze der Autoritarismustheorie (auf die wir später noch einmal zurückkommen werden) und die Thesen der Modernisierungsverlierer:innen, der politischen Deprivation oder des „Extremismus der Mitte“ genannt (Decker und Brähler 2006; Gurr 1973; Lipset 1981; Spier 2010).

2.2 Radikalisierung als Prozess und die potentielle Rolle von Vorurteilen

Nun ist rechtsextrem zu sein oder ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild zu besitzen, quasi schon als das ideologische Endprodukt der Radikalisierung anzusehen. Weiter reicht allein die rechtsextreme Ideologie durch Gewalt durchzusetzen. Den Prozesscharakter der Radikalisierung kann man nur versuchen über Stufen nachzuzeichnen. Doch was ist für uns Radikalisierung? Unter Radikalisierung verstehen wir den Prozess einer zunehmenden Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel, bis hin zur Anwendung von Gewalt, zu befürworten, zu unterstützen oder einzusetzen (BKA 2022; Dienstbühl 2019). Es wird deutlich Extremismus ist der Zielpunkt von Radikalisierung oder ein Ausdruck von Radikalität. Zudem gibt es unterschiedliche Stadien von Radikalität und damit auch unterschiedliche Prozessebenen der Radikalisierung (McDonald 2018; Milbradt et al. 2022; Khosrokhavar 2016; Kruglanski et al. 2019). Eine mögliche Unterscheidung ist die zwischen Radikalisierung ohne Gewalt, Radikalisierung in die Gewalt und Radikalisierung in der Gewalt (Daase, Deitelhoff und Junk 2021, S. 23–33). Kann man sich die Radikalisierung in der Gewalt als eine Steigerung hin zu terroristischen Akten vorstellen, ist die Überschreitung hin zur Gewalt besonders für Sicherheitsbehörden interessant (Moskalenko und McCauley 2020; Fadil et al. 2019). In beiden Fällen handelt es sich um kleine bis sehr kleine Gruppen, die eher im Zuge von teilnehmender Beobachtung und anderer Zugänge erforscht werden (z. B. Ebner 2017a, b), muss eine quantitativ-empirisch angelegte Forschung ihren Schwerpunkt auf die Potentiale der Radikalisierung ohne Gewalt legen. Diese weist allerdings den Vorteil auf, besonders früh gesellschaftliche Triebkräfte bzw. Ermöglichungsumstände der Radikalisierung aufspüren zu können.

Folgt man der von uns konzipierten Radikalisierungsspirale, dann spielen für die Radikalisierung Gruppenabgrenzungen eine zentrale Rolle (Kruglanski 2018; Schneider et al. 2020). Besonders Ansätze der Sozialpsychologie, wie Gruppenbedrohungstheorien (Group Threat Theories; Blumer 1958) oder die Social Identity Theory bieten sich hier als Hilfstheorien an (Taijfel 1982). Die Social Identity Theory geht davon aus, dass die subjektive, „gefühlte“ Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen für das eigene Selbstwertgefühl bedeutsam sei. Sie sieht die Entscheidung eines Individuums, einer Gruppe beizutreten und sich ihr zugehörig zu fühlen, als Akt der Sicherung der eigenen Identität und der Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls an. Für die Steigerung des Selbstwertgefühls ist eine gute oder erhöhte Position der Gruppe in der Gesellschaft Voraussetzung. Diese Position kann sie durch (gemeinsame) Leistung oder aber durch die Abwertung anderer Gruppen und die damit verbundene relationale Erhöhung der eigenen Gruppe erreichen. Dazu benötigt wird eine imaginäre (Fremd-)Gruppenkonstruktion, die eine Adresse von Kategorisierung und damit oft verbunden von Abwertung ist. Die zugeschriebenen (abwertenden) Vorurteile werden von den Gruppenmitgliedern der In-Group verinnerlicht – und Gruppenmitglieder, die dieser gemeinsamen Bewertung widersprechen, sanktioniert. Die Mitglieder der Referenzgruppe werden zum Ziel der Zuweisung von Stereotypen, Kategorisierungen und Abwertungen. Entsprechende Kategorisierungen können die abgelehnte Referenzgruppe als gefährlich erscheinen lassen, was die Ablehnung verstärkt und verschärft. Hier schließt die Integrated Threat Theory an die Social Identity Theory an: Sie postuliert eine Steigerung gruppenbezogener Vorurteile unter Bedrohungszuschreibungen (Stephan und Renfro 2002, S. 203–204). Zudem unterscheidet sie symbolische und realistische Bedrohungen (Stephan et al. 2000). Während symbolische Bedrohungen häufig auf kulturelle Ablehnungen fokussieren, greifen realistische Bedrohungen konkrete Ereignisse und Bezüge auf.

Eine Alternative ist die „Theorie der Gruppenbedrohung“. Diese Deprivationstheorie führt fremdenfeindliche Vorurteile auf die Zuwanderung von Minderheiten bei gleichzeitig schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen zurück (Blumer 1958; Blalock 1967; Quillian 1995). Xenophobe Einstellungsmuster sind dementsprechend eine Reaktion der dominanten Gruppe auf eine wahrgenommene Bedrohung ihrer Gruppenposition durch eine untergeordnete Minderheit. Je größer die Bedrohung angesehen wird, umso wahrscheinlicher wird die Minderheit abgewertet (Quillian 1995, S. 588). Die Wahrnehmung der Bedrohung hängt von der Größe der Minderheitengruppe im Verhältnis zur Größe der Mehrheitsgruppe und der aktuellen wirtschaftlichen Lage ab. Eine ungünstige Wirtschaftslage fördert Bedrohungsgefühle und die Suche nach „Sündenböcken“, die für die ökonomische Misere verantwortlich gemacht werden können.Footnote 8 Beyer und Schnabel (2019, S. 8) kamen vor kurzem zum Schluss, dass Gruppendifferenzierungen und ein „Wir versus die Anderen“ neben politischen durchaus auf religiösen Weltanschauungen beruhen können. Andere Ergebnisse legen nahe, dass gruppenbezogene Vorurteile und Ressentiments eine Brücke für eine Annäherung zwischen religiösen Menschen und rechtsextremen Einstellungen werden können (Billiet 1995; Billiet et al. 1995; Fulton et al. 1999; Huber und Yendell 2020; Johnson et al. 2011; Lienesch 1982; Middelton 1973; Moghaddam und Vuksanovic 1990; G. Pickel et al. 2020b; Roof 1974; Strabac und Listhaug 2007).Footnote 9 Das sichtbarste Verbindungsmerkmal ist dabei immer noch der in der rechtsextremistischen Ideologie angelegte Antisemitismus.

Es existieren auch Ansätze, die eine Reduktion von Vorurteilen und damit potentieller Voraussetzungen für Radikalisierung fokussieren. Zu nennen ist vor allem die Kontakthypothese, wonach Kontakte zu Mitgliedern der Out-Group zum Abbau von Vorurteilen beitragen (Allport 1971; Pettigrew 1998; Pettigrew und Tropp 2006). Kontakte zu Mitgliedern anderer sozialer Gruppen wirken vorurteilsreduzierend – und entziehen so mittelfristig rechtsextremen, völkischen und auf Ungleichwertigkeit zielenden Einstellungen ihre Basis. Pettigrew und Tropp (2006) gelang dabei in einer über 100 Studien integrierende Meta-Studie die Tragfähigkeit dieser Annahme zu belegen und so die immer wieder aufflackernde Kritik an der Kontakthypothese zurückzuweisen.

2.3 Radikalisierung zum Rechtsextremismus – die Rolle von antimuslimischen Rassismus

Diese sozialpsychologischen Zugänge eröffnen uns jetzt Möglichkeiten Einflussfaktoren auf Radikalisierung und Radikalität zu untersuchen. Für das Projekt „Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ sind Prozesse der Radikalisierung und Co-Radikalisierung von großer Bedeutung. Für den vorliegenden Aufsatz liegt der Fokus auf den gesellschaftlichen, sich in Einstellungen abbildenden, Einfluss des Blicks auf Muslim:innen, muslimische Immigration und Ängsten vor „dem Islam“ (Öztürk und G. Pickel 2021). Und dieser Fokus liegt durchaus nahe. So konnte man in den letzten Jahren den Eindruck gewinnen, dass vor allem die Abgrenzung gegenüber Muslim:innen und „dem Islam“ zum Markenzeichen rechtsextremer und rechtsradikaler Bildsprache geworden ist (Marzouki et al. 2016; Yendell 2014). Zumindest konzentrieren sich rechte Kampagnen und Rechtspopulist:innen in der Öffentlichkeit verstärkt auf dieses Feindbild. Studien konnten zeigen, dass die Ablehnung des Islam und antimuslimische Einstellungen ein wichtiges Mobilisierungsmerkmal für die Wahl rechtspopulistischer Parteien sind (u. a. S. Pickel 2019a, b; G. Pickel und S. Pickel 2018b; G. Pickel und Öztürk 2022; Rippl und Seipel 2018). Dabei werden mehrere Aspekte rechtsextremer Einstellungen angesprochen. Zum einen die für rechtsextreme Einstellungen konstitutive Fremdenfeindlichkeit, die man durchaus auch als rassistisch motivierte Ablehnung verstehen kann. Zum anderen harmoniert das Narrativ der „Verteidigung des Abendlandes“ gut mit einem völkisch-nationalen Rechtsextremismus und Chauvinismus. Selbst sozialdarwinistische Überzeugungen kommen in der Abwertung von Muslim:innen und antimuslimischen Einstellungen zum Ausdruck.

Da die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in den letzten Jahren, getragen von antimuslimischen Antimigrationskampagnen, unzweifelhaft sind, liegt die Vermutung nahe, dass in den Bevölkerungen verbreitete antimuslimische Einstellungen, bis hin zu einem verfestigten antimuslimischen Rassismus, sich als Brückenkonstrukt für eine Radikalisierung in Richtung einer überzeugten rechtsextremen Position deuten lassen. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein in der Öffentlichkeit kursierendes Bild von gefährlichen und fremden Muslim:innen bedeutende Radikalisierungsfähigkeit aufweist. Damit kommen wir zu der bereits in der Einleitung aufgestellten These dieses Beitrages: Ein in beachtlichen Teilen der Bevölkerung existenter antimuslimischer Rassismus und antimuslimischer Einstellungen ermöglicht rechten Akteur:innen die Förderung einer (aus rechter Sicht gewünschten) Radikalisierung in Teilen der Bevölkerung.Footnote 10 Diese müsste sich in einer Beziehung zwischen höheren Anteilen an rechtsextremen Einstellungen und muslimfeindlichen Einstellungen, sowie zwischen Elementen rechtsextremer Einstellungen und muslimfeindlichen Einstellungen niederschlagen. Dies wollen wir in der Folge empirisch untersuchen.

3 Die Messung rechtsextremer Einstellungen – und ihre Probleme

Um die Beziehungen zwischen rechtsextremen Einstellungen und antimuslimischen Vorurteilen in den Blick nehmen zu können, ist es notwendig, das Phänomen rechtsextremer Einstellungen und ihrer Messung zu bestimmen. Erst relativ spät einigten sich Rechtsextremismusforscher:innen auf einheitliche Messkonstrukte zu rechtsextremen Einstellungen. Die bereits angesprochene „Konsensgruppe“ legte 2001 eine Konsensdefinition eines Messinstrumentes rechtsextreme Einstellungen vor, die aus sechs Unterdimensionen besteht (Kiess et al. 2015; Decker et al. 2013, S. 198–199). Dafür relevant ist das Verständnis vom Rechtsextremismus als einer Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, die mit einer Akzeptanz von Gewaltanwendung und dem Sturz des demokratischen politischen Systems einhergeht. Die Ungleichwertigkeitsvorstellungen äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich münden sie in antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen. (Decker und Brähler 2006, S. 20). Rechtsextreme Einstellungen verbinden somit verschiedene Aspekte miteinander und konstituieren eine hinter den einzelnen Aspekten liegende latente Dimension rechtsextremer Einstellungen. Folgende Dimensionen gelten als Bestandteile rechtsextremer Einstellungen:

  1. (1)

    Affinität zu Diktatur als Staatsform

  2. (2)

    Nationaler Chauvinismus

  3. (3)

    Verharmlosung des Nationalsozialismus

  4. (4)

    Antisemitismus

  5. (5)

    Fremdenfeindlichkeit

  6. (6)

    Sozialdarwinismus

Diese Dimensionen werden in Umfragen in jeweils in ein Bündel an Statements umgesetzt. Sie dienen als Reize, die auf indirektem Weg versuchen, die Positionierung der Befragten zu einem Phänomen herauszuarbeiten (Decker und Brähler 2020, S. 34–36; G. Pickel und S. Pickel 2018a, S. 182–191; Schneider et al. 2021, S. 569). In den Leipziger Autoritarismus-Studien (vormals Leipziger „Mitte“-Studien) werden diese sechs Dimensionen seit 2002 mit jeweils drei Items und fünf Antwortmöglichkeiten (1 = lehne völlig ab, 2 = lehne überwiegend ab, 3 = stimme teils zu, teils nicht zu, 4 = stimme überwiegend zu, 5 = stimme voll und ganz zu) gemessen (Decker et al. 2013; 199–202; Decker et al. 2020, S. 34–37). Um den Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild zu ermitteln, verwenden die Autor:innen einen Indexwert, der diejenigen Befragten als Anhänger:innen eines solchen Weltbildes definiert, die in ihren Antworten über alle Dimensionen hinweg einen Wert von mehr als 63 (von insgesamt maximal 90 Punkten) aufweisen (Decker et al. 2020: 50). Darunter fallen Befragte, die bei den Einzelaussagen durchschnittlich auf einen Wert von mindestens 3,5 kommen, womit sie im Durchschnitt allen 18 Items manifest zustimmen. Gleichzeitig kann man über dieses breite Erhebungsinstrument auch Nuancen der Zustimmung abbilden. Dies gelingt, wenn man die Summierung aller Antworten im Kontinuum verwendet. Dann erfasst man Grade der Annäherung an ein rechtsextremes Weltbild. Für unsere Fragestellung gibt es allerdings ein statistisches Problem: Antimuslimische Einstellungen liegen durch die starke Verzahnung mit dem unpräzisen Konstrukt „Fremdenfeindlichkeit“ aus der Konstruktionslogik der Skala heraus nahe an den Grundelementen des Rechtsextremismus. Diesem Problem versuchen wir durch den Einbezug von unabhängigen Teilskalen ohne „Fremdenfeindlichkeit“ zu begegnen.

Für die folgenden Darstellungen und Analysen greifen wir auf Datenmaterial der Leipziger Autoritarismus-Studien (2002–2020) zurück. Kern sind Analysen mit den Daten der 2020er-Studie, inklusive ihrer Erweiterung durch die Studie „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ (EKD 2022; Pickel et al. 2022). Diese Kombination bietet den Vorzug einer weit reichenden und gut durch Kontrollvariablen abgesicherten Überprüfung der Verbindungen zwischen antimuslimischen Einstellungen, rechtsextremen Haltungen und rechtsextremer Radikalität. Um eine Art Steigerung der Radikalität festzuhalten, wird zwischen einer Zuneigung zu rechtspopulistischen Parteien, die ja noch im demokratischen Prozess agieren, rechtsextremen Einstellungen als Kontinuum, einer geschlossenen rechtsextremen Anschauung sowie rechtsextremen Einstellungen verbunden mit Gewaltbereitschaft differenziert und deren Bezüge zu antimuslimischen Einstellungen untersucht. Um die Tragfähigkeit der These, dass antimuslimischer Rassismus ein „Radikalisierungsbooster“ ist, prüfen zu können, werden alternative Vorurteile und übergreifende Konzepte (Autoritarismus, soziale Dominanzorientierung, relative Deprivation) mit in die empirische Analyse einbezogen.

Zur Messung von antimuslimischen Einstellungen existiert ein ganzes Bündel an Variablen. In der verwendeten Studie wurden antimuslimischer Einstellungen mit vier Variablen erhoben: (1) Muslimen stehen in Deutschland die gleichen Rechte zu wie allen anderen, (2) durch die vielen Muslime fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land; (3) Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden, (4) Muslime neigen zu Kriminalität.Footnote 11 Die Indikatoren 2 und 3 werden in den Leipziger Autoritarismus Studien bereits seit 2006 erhoben. Die beiden anderen Indikatoren wurden in der Studie „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ erhoben: Indikator 4 ist ein Vergleichsindikator zu einem Indikator zur Analyse von Antiziganismus. Indikator 1 versucht den Gedanken der Gleichwertigkeit von Muslim:innen in der Bevölkerung abzuprüfen. Alle vier Indikatoren bilden statistisch eine Dimension, die man als antimuslimischen Rassismus interpretieren kann.Footnote 12 So sind die Verweigerung von gleichen Rechten, wie auch der Wunsch nach Untersagung der Zuwanderung aufgrund ihrer kulturellen Begründung klar rassistisch zu interpretieren, die zugeschriebene Neigung zu Kriminalität als klassisches Vorurteil. Gleichwohl finden sich alle in einer Dimension antimuslimischer Einstellungen wider, was in Richtung einer rassistischen Prägung des ganzen Konstruktes deutet.

4 Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland seit 2002

Betrachten wir zum Eingang den Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild im Zeitverlauf (Abb. 1). Der Anteil an Deutschen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild liegt seit einigen Jahren bei ca. fünf Prozent. Dieser Anteil ist für Gesamtdeutschland sowie für Westdeutschland seit 2002 leicht rückläufig und zwischen 2018 und 2020 nochmals gesunken. In Ostdeutschland ist dagegen der Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild seit 2006, insbesondere nach der Finanzkrise 2008, angestiegen. Nach einem kurzen Absinken 2014 nimmt die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Ostdeutschland seit 2016 wieder kontinuierlich zu. Insgesamt teilen heute mehr Ostdeutsche ein geschlossen rechtsextremes Weltbild als zu Beginn der Messungen 2002 – und signifikant häufiger als in Westdeutschland.Footnote 13

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Leipziger „Mitte“-Studien/Leipziger Autoritarismus-Studien 2002–2020 (Decker et al. 2020, S. 51); = 2500 Befragte)

Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild 2002–2020 (in %).

Die Interpretation des Ergebnisses kann in viele Richtungen gehen: So kann man den Wert von fünf Prozent als geringe Verbreitung eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes in Deutschland auslegen. Allerdings ist die Existenz von fast zehn Prozent überzeugter Rechtsextremer in Ostdeutschland in ihren antidemokratischen Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Dies gilt vor allem, wenn man sich vor Augen führt, dass die Zustimmungsraten zu bestimmten Unterdimensionen des Rechtsextremismus deutlich höher ausfallen. In Abb. 2 sind z. B. die manifeste Zustimmung („stimme voll und ganz zu“ und „stimme überwiegend zu“) sowie die latente Zustimmung („stimme teils zu, teils nicht zu“) zu den Aussagen der Dimensionen „Ausländerfeindlichkeit“ sowie „Chauvinismus“ dargestellt.Footnote 14 Dort wird deutlich, dass fremdenfeindliche und chauvinistische Ansichten in der Bevölkerung in beachtlicher Weise verbreitet sind: So finden sich knapp 30 % Bundesbürger:innen, die der Aussage „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ und „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ explizit zustimmen.Footnote 15 Etwas weniger, ca. jede:r Fünfte, würde „Ausländer:innen“ bei knappen Arbeitsplätzen nach Hause schicken. Diese doch mit einer Abwertung und Höherwertung der eigenen politischen Gemeinschaft verbundene Aussage gibt einen Hinweise auf geforderte politische Konsequenzen und die breitere Streuung von Elementen rechtsextremer Einstellungen.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020; n = 2503; Angaben in Prozent; Chau = Chauvinismus; Af = Ausländerfeindlichkeit; manifest = Zustimmung (sehr, eher); latent = keine Ablehnung (weder noch) (Decker et al. 2020, S. 42–43))

Manifeste und latente Zustimmung zu Aussagen der Dimensionen „Ausländerfeindlichkeit“ und „Chauvinismus“.

Alle drei Aussagen erreichen noch 20 und 30 % latente Zustimmung, interpretiert man das Fehlen einer expliziten Positionierung in diesem Sinne. Bei der Unterdimension Chauvinismus, stimmen sogar über 30 % der Aussage „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“ zu – und noch einmal so viele lehnen sie nicht explizit ab. Die beiden anderen chauvinistischen Aussagen werden zwar weniger stark vertreten (ca. 20 % manifeste Zustimmung), aber zusammen mit der latenten Zustimmung von jeweils ca. 30 % fallen auch hier die Zustimmungswerte in der Bevölkerung beachtlich aus. Anders als diese beiden Dimensionen wird der Befürwortung einer rechtautoritären Diktatur, dem Sozialdarwinismus, der Verharmlosung des Nationalsozialismus und dem tradierten Antisemitismus, als weiteren Unterdimensionen der Messung von rechtsextremen Einstellungen, deutlich seltener zugestimmt (Abb. 3). Beim Sozialdarwinismus findet die Aussage „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“ mit etwas über 10 % noch die höchste manifeste Zustimmung (bei knapp 20 % latenter Zustimmung). Bei NS-Verharmlosung ist es die Aussage „Ohne Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen“ mit knapp 10 % manifester Zustimmung (bei gut 15 % latenter Zustimmung). Beide Aussagen verweisen auf ein undemokratisches und menschenverachtendes Einstellungsgebäude, das eigentlich auf grundsätzliche Ablehnung stoßen sollte. Auch primärer oder traditioneller Antisemitismus trifft (nur) auf etwa zehn Prozent manifester Zustimmung. Die 20 und 25 % latenter Zustimmung zeigen allerdings den Graubereich antisemitischer Ressentiments, haben doch bei der Abfrage von primären Antisemitismus die Befragten gelernt, die mit den Fragen verbundene Intension zu erkennen und der sozialen Erwünschtheit zu folgen (Schönbach 1961).Footnote 16 Vor dem Hintergrund der historischen Schuld Deutschlands sollte eigentlich bei Fragen zum (primären) Antisemitismus das Antwortverhalten der Befragten in einer einhelligen Ablehnung bestehen. Dies ist zwar mehrheitlich, aber nicht bei allen deutschen Staatsbürger:innen der Fall.

Abb. 3
figure 3

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020; n = 2503; Angaben in Prozent; Einzelaussagen aus jeweils drei abgefragten Aussagen: Dik = rechtsautoritäre Diktatur; AS = tradierter Antisemitismus; VN = Verharmlosung des Nationalsozialismus; SD = Sozialdarwinismus; manifest = Zustimmung (sehr, eher); latent = keine Ablehnung (weder noch) (Decker et al. 2020, S. 36–41)

Manifeste und latente Zustimmung zu einzelnen Aussagen der Dimensionen.

Zusammengefasst, gibt es bei der Messung rechtsextremer Einstellungen „harte“ und „weiche“ Items der Messung. Der Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild liegt eher niedrig, die Zustimmung zu einzelnen Dimensionen rechtsextremer Einstellungen fällt allerdings wesentlich höher aus. Zudem findet sich eine beachtliche Latenz rechtsextremer Einstellungen in Form einer nicht expliziten Ablehnung von Dimensionen des Rechtsextremismus. Dieser Graubereich eröffnet Anschlussfähigkeiten und Mobilisierungspotenzial für rechte Akteur:innen und Rechtspopulist:innen um Radikalisierungsprozesse zu bestärken oder anzuregen. Dass es sich bei rechtsextremen Haltungen um eine radikale Haltung handelt, kann einerseits aus der klaren antidemokratischen Positionierung, andererseits aus einer positiven Beziehung zur eigenen Nutzung von Gewalt und Befürwortung von Gewalt geschlossen werden. So finden sich zwischen rechtsextremen Einstellungen und Gewaltbereitschaft, bzw. -befürwortung signifikante Beziehungen. Menschen mit rechtsextremen Einstellungen sind sichtbar eher gewaltbereit als Menschen ohne diese Überzeugungen (Tab. 1). Zudem zeigt sich auf der Ebene jenseits eines geschlossenen Weltbildes, eine Entwicklung hin zu einer höheren Akzeptanz von Gewalt.Footnote 17 Diese höhere Bereitschaft zu Gewaltnutzung und Gewaltakzeptanz findet sich auch bei Wähler:innen der AfD: So steigt der Anteil derer, die „schon mal die Fäuste sprechen lassen würden“ unter AfD-Wähler:innen auf 20 % (Bundesschnitt: 10 %) und bei der Gewaltakzeptanz auf 39 % (Bundesschnitt 17 %)(Decker et al. 2020, S. 69).

Tab. 1 Radikalisierung: Rechtsextremisus, Demokratieablehnung, Gewaltbereitschaft

Als Beleg für die antidemokratische Haltung rechtsextremer Einstellungen dient ihre Beziehung zu zentralen Indikatoren der politischen Kulturforschung (S. Pickel und G. Pickel 2006). Vor allem die stetige Variable zur Messung rechtsextremer Einstellungen steht in einem klar negativen Zusammenhang mit diesen Indikatoren (Tab. 1; G. Pickel, S. Pickel und Yendell 2020d, S. 105). Neben dem technischen Aspekt einer höheren Streuung dieser Variable gegenüber den dichotomen Indikatoren zur Bestimmung eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes und der Wahl der AfD, deutet dies auf eine nicht sprunghafte, sondern stetige antidemokratische Radikalisierung hin. Jede Form der Radikalisierung auf der Einstellungsebene, zumindest auf der Seite rechter Einstellungen, erhöht die Distanz zur Demokratie. Am äußeren Ende steht deren Ablehnung.

5 Antimuslimischer Rassismus und Vorurteile gegenüber Muslim:innen

Welche Bedeutung spielen antimuslimische Einstellungen, Vorurteile und Rassismus für diese Radikalisierung? Spätestens seit 2015 entwickelten sich in Deutschland und anderen Ländern Europas stark muslim- und fremdenfeindliche rechtspopulistische Bewegungen (z. B. PEGIDA in Dresden und anderenorts).Footnote 18 Einerseits sind sie als Reaktion auf die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Fluchtbewegungen aus dem arabischen Raum zu sehen, andererseits als Belebung eines bereits bestehenden antimuslimischen Rassismus. Seit diesem Zeitpunkt sind immer wieder Prozesse der Radikalisierung auf den verschiedenen Ebenen der Radikalisierung zu erkennen, wobei diese Prozesse in der Bevölkerung durch rechte Akteure gezielt befördert werden und wiederum islamistische Radikalisierung als Begründung eingesetzt wird (Fadil et al. 2019). Um das Radikalisierungspotential in der Bevölkerung näher zu beleuchten, werfen wir nun einen Blick auf die Haltung der deutschen Bürger:innen zum Islam und zu Muslim:innen.

Ablehnende Haltungen gegenüber Muslim:innen und „dem Islam“ sind spätestens seit dem 11. September 2001 in der deutschen Bevölkerung verbreitet und haben mit den Fluchtbewegungen nach Europa 2015 verstärkt an Visibilität gewonnen (G. Pickel 2019a, b; Diekmann 2017; Haynes 2020, S. 14). Die Spannbreite der Abwehr und gruppenbezogenen Vorurteile ist dabei beachtlich (Abb. 4). Zwar will nur eine Minderheit die Einreise von Muslim:innen nach Deutschland unterbinden, aber die soziale Distanz im Alltagsleben ist beachtlich.Footnote 19 Mehr als ein Viertel der Deutschen besitzen eine eher oder sehr negative Einstellung gegenüber Muslim:innen und fast die Hälfte der Deutschen würde Muslim:innen ungern als Nachbarn haben. Damit werden klare Kategorisierungen aufgestellt, die, wie z. B. bei der Einordnung als kriminell, mit Stereotypen versehen werden. Dies finden wir bei ca. einem Drittel der deutschen Bevölkerung. Erschreckend häufig wurde 2016 bei Nachfrage sogar eine Beschränkung der muslimischen Glaubenspraxis durch eine systematische Beobachtung befürwortet. Solche Praktiken stehen im Gegensatz zu Religionsfreiheit und Grundgesetz, deuten allerdings auf die Existenz von Stereotypen hin, die Muslim:innen als gefährlich einordnen (Pollack et al. 2014, S. 22–23). Da ist es dann nicht überraschend, wenn unter den Religionsgemeinschaften die soziale Distanz gegenüber Muslim:innen am höchsten ausfällt (G. Pickel 2019a, b, S. 78; Daten des Bertelsmann Religionsmonitor).

Abb. 4
figure 4

(Quelle: Eigene Berechnungen, unterschiedliche Datenquellen; Leipziger Autoritarismus Studie (LAS) 2020 (Decker et al. 2020, S. 65); Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2016, 2018; Religionsmonitor 2017 (G. Pickel 2019a, b, S. 78–79))

Zustimmung zu muslimfeindlichen und rassistischen Aussagen (in %).

Berücksichtigt man den Radius von einem eher diffusen unangenehmen Gefühl („Fühle mich fremd im Land aufgrund der vielen Muslime“) bis hin zur (harten) Ablehnung spezifisch muslimischer Zuwanderung, dann entfaltet sich ein Kontinuum von Vorurteil, oder aber auch Rassismus. Implizit enthalten ist die Sorge vor „Überfremdung“, die man ja auch als Schritt in Richtung des Verschwörungsmythos des „großen Austausches deuten kann, und die Markierung kultureller Fremdheit (Shooman 2014). Dieses „Othering“ über die zugewiesene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verzahnt sich seit 2015 mit der Einstufung muslimischer Geflüchteter (G. Pickel und S. Pickel 2019a, b, S. @). Dabei werden Migrant:innen oder Geflüchtete, die als muslimisch identifiziert werden, ethnisiert und in gewisser Hinsicht auch politisiert. Antimuslimischer Rassismus trifft daher nicht ausschließlich Muslim:innen, sondern kann darüber hinaus auch Migrant:innen nichtmuslimischen Glaubens sowie säkulare Muslim:innen treffen (Spielhaus 2018, S. 140).

Wie kommt es nun zu diesen Entwicklungen. Will man zumindest einen kurzen Hinweis geben, dann bietet sich der Einbezug sozialpsychologischer Theorien an. Verschiedene Befunde zeigen Prozesse, wie sie in der Social Identity Theory beschrieben werden (u. a. G. Pickel 2019a, b; G. Pickel und Öztürk 2019; Öztürk und G. Pickel 2020, 2021; Strabac und Listhaug 2007; Tajfel 1982). Allerdings macht eine besondere Komponente die Abwertung von Muslim:innen aus. Sie erwecken, auch nachdem man sie in entsprechenden Prozessen immer als gefährlich konstruiert hat, Angst und Sorge unter den Bürger:innen. Die Integration von Terroranschlägen oder Bildern und Informationen über den IS haben sich als ein prägender Faktor des Bildes von „dem Islam“ und damit „den Muslim:innen“ bei vielen Bürger:innen festgesetzt. Hier eignet sich die bereits erwähnte Integrated Threat Theory, die an die Social Identity Theory anschließt, als Erklärungsansatz. „Der Islam“ und „die Muslim:innen“ werden sowohl als realistische Bedrohung (Terroranschläge), als auch als symbolische Bedrohung (Sichtbarkeit im Alltag, Kopftuch, Moscheen, etc.) eingestuft.

Abb. 5 belegt diese spezifische Angst vor Muslim:innen im Vergleich zu anderen Referenzgruppen recht deutlich. Nur als Links- oder Rechtsextreme klassifizierte Personen und Gruppen werden mehr gefürchtet. Ansonsten halten sich diejenigen, welche Muslim:innen als bedrohlich einschätzen ungefähr die Waage mit denen, welche eine solche Einschätzung ablehnen. Gleiches lässt sich mit Daten des Bertelsmann Religionsmonitors auf ähnlichem Niveau für den Islam als Religionsgemeinschaft feststellen (G. Pickel 2019a, b, S. 80). Wie erwartet, ist die gefühlte Bedrohung durch Geflüchtete und durch Muslim:innen stark miteinander verzahnt (Pearsons r Produkt Moment Korrelationen = .63). Dies belegt noch einmal die enge Verknüpfung zwischen den beiden Kategorisierungen in den Augen der nichtmuslimischen Bürger:innen.

Abb. 5
figure 5

(Quelle: Leipziger Autoritarismus Studie 2020: Für wie bedrohlich halten Sie folgende soziale Gruppen? Anteil sehr bedrohlich/eher bedrohlich; n = 2503)

Bedrohungswahrnehmungen gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen.

In den Daten ebenfalls zu sehen ist eine Differenz zwischen West- und Ostdeutschland. Sowohl alle antimuslimischen Einstellungsitems als auch das Bedrohungsgefühl gegenüber Muslim:innen fallen in Ostdeutschland immer etwas stärker aus als in Westdeutschland. Da in Ostdeutschland der Anteil der Muslim:innen erheblich niedriger als in Westdeutschland liegt, könnte man nun die Kontakthypothese zur Geltung bringen. Da Kontakte erwiesenermaßen soziale Distanz und Ablehnung sozialer Gruppen reduzieren können, erweist sich die Situation in Ostdeutschland als ungünstig (Öztürk 2021). Kontakte wirken vor allem in Westdeutschland gegen Vorurteile und Bedrohungsängste. In Ostdeutschland greifen öfter parasoziale Kontakte, also die Wahrnehmung von Muslim:innen und „dem Islam“ im Fernsehen oder über soziale Medien. Diese Wahrnehmung fällt mit Blick auf die bereits genannten Ereignisse eher ungünstig aus und befördern Vorurteile gegenüber Muslim:innen (G. Pickel und Yendell 2016; Pollack et al. 2014).

6 Antimuslimischer Rassismus, rechtsextreme Überzeugungen und Radikalisierung

Wie gezeigt, sind muslimische Religionsgemeinschaften und deren Mitglieder Ziel von gruppenbezogenen Vorurteilen, Abwertung, Ungleichwertigkeitsvorstellungen und sozialer Distanz. In welchem Verhältnis stehen diese Vorurteile nun aber zu rechtsextremen Einstellungen? In einer bivariaten Korrelationsanalyse wird deutlich: Rechtsextreme Einstellungen stehen in einer signifikanten Beziehung zu antimuslimischen Einstellungen. Antimuslimische Vorurteile, Rassismus bzw. Angst vor dem Islam dient Rechtsextrem:istinnen – wie man es entsprechenden Kampagnen ablesen kann – als wichtiger (G. Pickel 2018a, b; P. Pickel und Öztürk 2022; Öztürk und G. Pickel 2019a, b, 2021; Rebenstorf 2018) (Tab. 2).

Tab. 2 Zusammenhänge zwischen rechtsextremen Einstellungen und Muslimfeindlichkeit

Die Ergebnisse variieren entlang der Säulen der Rechtsextremismusskala. Wie eingangs dargestellt besteht die stärkste Verschränkung mi der „Fremdenfeindlichkeit“. Eindeutig ist: Antimuslimischer Rassismus befördert ein rechtsextremes Weltbild oder rechtsextreme Teilüberzeugungen. Antimuslimischer Rassismus wird zur Brücke zum Rechtsextremismus. Ebenfalls interessant an ist die gemessene Steigerung entlang der gemessenen Kontinuen: Einfach gesagt, ein mittleres Ausmaß an antimuslimischen Einstellungen, tendiert oft zu Elementen rechtsextremer Einstellungen. Steigert sich aber die soziale Distanz gegenüber Muslim:innen zu einem abwertenden Rassismus, dann wird das rechtsextreme Einstellungsgebäude immer geschlossener. Nun lässt sich für die Korrelationen keine eindeutige Kausalbeziehung aufstellen. Gleichwohl liegt der Schluss nahe, dass die Ablehnung und Abwertung von Muslim:innen zu einer rechten Gesinnung oder einer Öffnung für rechte Angebote beiträgt. Damit sind wir auf dem Feld der Radikalisierung.

Ein weiteres Merkmal auf dem Weg zu einer rechten Weltanschauung, ist die Wahl rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien. Dabei kann man zweifelsohne darüber streiten, ob die Bezeichnung als rechtspopulistisch nicht verharmlosend ist und eine potentielle rechtsextreme Ausrichtung mehr verdeckt als analytisch hilfreich ist. Unter der Wählerschaft der AfD scheint zumindest einiges an rechtsextremen Gedanken präsent. Dies zeigen Korrelationen zwischen der Wahl der AfD und der Gesamtskala rechtsextreme Einstellungen (r = ,35) oder mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild (r = ,24). Diese Ergebnisse bedeuten auch: Nicht jede:r Wähler:in der AfD ist rechtsextrem, aber es ist eindeutig häufiger der Fall als in anderen Parteien oder bei Nichtwähler:innen. Immerhin ein Fünftel der AfD-Wähler:innen weisen 2020 ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild auf (sonstige Werte: 3.9 % CDU/CSU und 0 % Bündnis 90/Die Grünen). Hinsichtlich der Relevanz von antimuslimischen Rassismus für die Parteienwahl sind die Erwartungen ebenfalls leicht zu skizzieren: Aufgrund der starken Ausrichtung auf gegen muslimische Migrant:innen gerichtete Kampagnen, dürften sich in der Wählerschaft der AfD mit Abstand die meisten Menschen mit muslimfeindlichen Vorstellungen und Vorurteilen wiederfinden lassen (Rippl und Seipel 2018; S. Pickel 2019a, b).

Und die Daten sprechen eine klare Sprache (Abb. 6). Die Wähler:innen der AfD wählen ihre Partei vermutlich vor allem aufgrund ihrer Ablehnung von Muslim:innen (G. Pickel und Yendell 2018). Diejenigen, die sich von einem solchen antimuslimischen Rassismus distanzieren, wissen im Prinzip auch, wem sie ihre Stimme geben sollten – Bündnis90/Die Grünen. In allen anderen Parteien ist die Wählerschaft gespalten, was Bedrohungsängste durch Muslim:innen, Vorurteile, wie die Annahme alle Muslim:innen seien eher kriminell oder aber Ablehnung der Zuwanderung im Sinne von Ausgrenzung betrifft. Dabei finden sich trotz eines einheitlichen Gesamtbildes immer wieder Nuancen zwischen Bedrohlichkeit, dem Wunsch nach einen Zuwanderungsstopp oder dem Vorurteil der Kriminalität.

Abb. 6
figure 6

(Quelle: Leipziger Autoritarismus Studie 2020; n = 2503; Angaben in Prozent der Zustimmung nach Wahlabsicht für eine Partei)

Antimuslimische Vorurteile und Bedrohungsängste nach Parteienwahl.

Nun ist es schwierig aus bivariaten Korrelationen und Vergleichen zwischen Häufigkeiten, noch dazu ohne Nutzung wichtiger konzeptioneller wie empirischer Erklärungsmuster als Referenz, entsprechende inhaltliche Aussagen zu treffen. Um dies tun zu können ist es notwendig multivariate Analysen durchzuführen. Dabei greifen wir neben dem antimuslimischen Rassismus auf alternative Erklärungsfaktoren und Säulen der Konstitution rechtsextremer Einstellungen und der Wahl rechtsradikaler Parteien zurück. Zu nennen ist Autoritarismus als dynamische Struktur der Gesellschaft, soziale Dominanzorientierung als Abbildung des Schutzes von Machtbeziehungen und Hierarchien, eine Verschwörungsmentalität, weitere Vorurteile und rassistische Abwertungen, die Wahrnehmung relativer Deprivation und auch sozialstrukturelle Variablen (Tab. 3).

Tab. 3 Regressionsanalyse auf rechtextreme Einstellungen (LAS 2020)

Um die Wirkung des antimuslimischen Rassismus gut bestimmen zu können werden in drei Modellen schrittweise lineare Regression durchgeführt. Sie zeigen den jeweiligen Einfluss von Variablen, und inwieweit dieser durch übergeordnete oder eng verwandte Konstrukte aufgehoben, bzw. übernommen wird. Im ersten Modell, welches Indikatoren zur Deprivation und verschiedenen politischen Konzepten eingesetzt werden, wird zweierlei deutlich, rechtsextreme Radikalisierung ist nur begrenzt durch eine Unzufriedenheit mit Politiker:innen und deren fehlenden Responsivität für die Bürger:innen zu erklären. Auch die wirtschaftliche Lage oder sozialstrukturelle Faktoren helfen wenig rechtsextreme Einstellungen zu erklären Die dominante Erklärungsvariable sind antimuslimische Einstellungen. Soziales Vertrauen und eine formal hohe Bildung wirken etwas entgegen.

Fügt man in einem zweiten Schritt (Modell 2) weitere Vorurteile hinzu, dann erhöht sich die schon im ersten Modell hohe Erklärungskraft des Gesamtmodells (R-Quarat) noch einmal deutlich. Zwar singt der Einfluss der antimuslimischen Einstellungen ab, aber sie bleiben immer noch die stärkste Erklärungsvariable unter allen vorgestellten Indikatoren. Dies gilt übrigens auch, bei einer Hinzunahme der Ablehnung von Geflüchteten. Auf diese wird aber in den vorgestellten Modellen aufgrund der sehr hohen Interkorrelationen zwischen antimuslimischen Vorurteilen und Ablehnung von Geflüchteten und der daraus das Modell gefährdenden Multikollinearität verzichtet. Wie bereits angenommen, erweist sich der Antifeminismus als zweite starke Säule von Überzeugungen, die rechtsextreme Einstellungen bestärkt (Höcker et al. 2020). Das darin geborgene antimodernistische Weltbild findet so seinen Ausdruck. Auch der Antiziganismus weist eine Erklärungskraft auf und deutet auf generellen Rassismus als Bestandteil rechtsextremer Gesinnung und Einstellungen hin.

Dies stützt auch das dritte Modell, welches übergreifende sozialpsychologische Konstrukte berücksichtigt. Wie der Theorie nach zu erwarten sind autoritäre Überzeugungen eine wichtige Triebkraft für rechtsextreme Einstellungen (Adorno 1973; Decker und Brähler 2018, 2020). Bemerkenswert sind fast deckungsgleiche Wirkungen der Offenheit für Verschwörungsnarrative (Verschwörungsmentalität) und dem Hang zu sozialer Dominanz. Da gleichlaufende Wirkungen dieser Trias in der linearen Regressionsanalyse herauspartialisiert werden, ist dies ein beachtliches Ergebnis. Eine Verschwörungsmentalität kombiniert sich mit einem gesellschaftlich und sozialisatorisch erfahrenen Autoritarismus und grundsätzlichen rassistischen Überzeugungen, welche die soziale Dominanzorientierung faktisch erfasst. Gerade der zuletzt genannte Faktor reduziert mit dieser Blickrichtung auf Rassismus den Einfluss von antimuslimischen Einstellungen und Antiziganismus. Gleichwohl verbleibt immer noch eine beachtliche Resterklärungskraft durch die antimuslimischen Einstellungen. Somit ist es eine Mischung aus spezifisch gegen Muslim:innen gerichteten Vorurteilen und Abwertung, dem Versuch Machtbeziehungen und Hierarchien zu bewahren (soziale Dominanz – Rassismus, Klassismus, Sexismus), einem ausgeprägten Verschwörungsglauben und einem autoritären Syndrom., welches zu rechtsextremen Einstellungen führt.

7 Fazit – Rechtsextreme Radikalisierung über antimuslimische Vorurteile und Rassismus

Rechtsextremistische Einstellungen sind zweifelsohne sowohl Ausdruck einer bereits hohen Radikalität, als auch ein Kontinuum der Radikalisierung. Sie enthalten rassistische, antidemokratische und menschenfeindliche Komponenten. Diese aber in unterschiedlicher Stärke. Während Menschen mit einer geschlossenen rechtsextremen Einstellung bereits jetzt als radikal und für die Demokratie gefährlich anzusehen sind, unterliegen Menschen mit teilweise rechtsextremen Einstellungen, aber noch keinem geschlossenen Weltbild, immer der Gefahr einer Radikalisierung. Antimuslimischer Rassismus und Vorurteile gegenüber Muslim:innen erweisen sich als eine wichtige Mobilisierungsressource für rechte Agitator:innen. Sie lassen sich gut mit der rechtsextremen Ideologie der Ungleichwertigkeit verbinden und ermöglichen über die beachtlichen Ängste und Vorurteile gegenüber Muslim:innen und „dem Islam“ eine Mobilisierung bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Überzeugte Rassist:innen finden so den Weg zu einer weitreichenderen rechtsextremen Haltung, Menschen, die nur teilweise mit Vorurteilen belastet sind eröffnen ein Potential für rechtsextreme Ansprache, noch mehr, wenn diese in der verharmlosten Form des „Rechtspopulismus“ daher kommt.

Damit erweist sich antimuslimischer Rassismus und die Existenz von Vorurteilen gegenüber Muslim:innen, wenn es in der Gesellschaft große Ausbreitung und Akzeptanz findet, als ein Gift, welches letztendlich die Demokratie in Gefahr bringt – oder besser noch, ihre Grundwerte. Eine Verbreitung, Stärkung oder Ignoranz antimuslimischen Rassismus und schon einfacher antimuslimischer Vorurteile bedeutet damit, eine Basis für spätere Radikalisierung zu legen, die sich zu besonderen Ereignissen oder bei überraschenden Geschehnissen schnell zuspitzen kann. Antimuslimischer Rassismus und das Fehlen seiner Bekämpfung muss damit als Radikalisierungsfaktor im rechten Spektrum angesehen werden. Es ermöglich bereits rechten Ideologien nicht abgeneigten Personen, sich noch weiter nach rechts, hin zu einer extremistischen Position zu entwickeln. Entsprechend betreibt ein politisches System, welches antimuslimische Rassismus unterbindet und antimuslimischen Vorurteilen widerspricht, nichts anderes als Selbstschutz. Ein Blick in andere Länder Europas zeigt, was passieren kann, wenn man dies nicht tut (Frankreich, Ungarn, Polen, …). Dies sollte man im Sinne der Demokratie verhindern.