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Balkan-Pop, die vorerst letzte Utopie der Popkultur

Redakteur Feuilleton
Der Balkan-Pop, worunter auch der Gypsy-Punk fällt, wird immer beliebter: Mit ihm beschäftigen sich nicht nur Rick Rubin und Madonna.

Slavoj Zizek sagt: "Der Balkan ist im Traum gefangen, den Europa von ihm träumt." Mit dieser Weisheit schenkt der Philosoph aus Ljubljana dem grassierenden Balkan-Pop den fälligen Überbau. Seit die Fanfare Ciocarlia aus Rumänien mit ihren verbeulten Blechblasinstrumenten durch Europa reist, haben die Sehnsüchte des Westens ihren Soundtrack. Und seit "Underground", dem Film des Serben Emir Kusturica, sieht der Balkan wie ein Traum aus: Haarige Partisanen hausen unter Tage, ohne zu bemerken, dass die wilde Zeit vorüber ist.

Über der Erde geht bereits die Postmoderne ihren Gang. Die Höhlenmenschen haben schadhafte Gebisse, dafür aber bessere Laune. Umso eifriger und ernster schaut der Westen nun seit 15 Jahren nach Osten, und der Balkan grinst zurück. Es ist ein fairer Handel: funktionierende Geschäftsstrukturen, Geld und Gutmenschen gegen Geschichte und Geschichten. Dass der Balkan sich dadurch vom Brandenburger Tor bis nach Sibirien erstreckt, ist konsequent. Die vielleicht letzte Utopie der Popkultur heißt "Balkan".

Kaminer: "Die beste Musik entsteht aus der Not"

Das hat Eugene Hütz zuletzt erfahren dürfen, als sogar Rick Rubin sich über den Gypsy-Punk beugte, den Hütz mit seiner Band Gogol Bordello anrichtet. Bereits Madonna hatte Hütz gebucht und einen Film mit ihm gedreht. Rubin gilt als einflussreichster Mann im US-Musikgeschäft. Er riet dem Flüchtling aus der Ukraine, weniger Unsinn anzustellen und vernünftigere Songs zu singen. Was Gogol Bordello auf "Trans-Continental Hustle", ihrem aktuellen Album, ebenso befolgen wie die Balkan Beat Box aus New York mit ihrer Platte "Blue Eyes, Black Boy". Zur Enttäuschung vieler Balkanfreunde.

Dafür machen sich die eingeborenen Musikanten zunehmend über sich selbst lustig. Aus St. Petersburg stammt Markscheider Kunst , ein Ensemble ehemaliger Vermessungsingenieure. Ihre neue Platte nennen sie "Utopia", und weil Balkan heute ein globales Phänomen ist, pflegen sie eine verwirrend tropische Musik aus Ska und Samba. "Wir haben zu wenig Sonne, Licht und Wärme", sagt ihr Sänger Sergej Ewremenko. "Drogen sind auf Dauer keine Lösung, Musik schon."

Oder die Weißrussen Lyapis Trubetskoy mit ihrem Album "Agitpop", mit ihren windschiefen Tattoos und Fallschirmspringer-Hemden: Ihre Stücke heißen "Gojko Mitic", "Capital" und "Manifest". Die Ostalgie des Westens wird zur Farce erklärt. Wladimir Kaminer, Berlins beliebtester Russe, schreibt im Klappentext der vierten "Russendisko" -Sammlung "Revolution Disco": "Die beste Musik entsteht aus der Not. Man denke nur an die schwarzen Sklaven, die Juden und Zigeuner. Man denke an die Russen, die schon immer unterdrückt worden waren und deshalb so viele Lieder auswendig konnten. Die Deutschen waren auch lange Zeit unterdrückt und hätten davon ein langes Lied singen können, haben aber nach 1945 alle Texte vergessen."

Je romantischer der Westen auf den Osten glotzt, umso skurriler die Schwejkiaden. Dreißig Jahre lang konnten sich die Slowenen von der Gruppe Laibach stramm das Lachen verkneifen. Nun ist es ihr Landsmann Robert "Magnifico" Pesut , der so musiziert und aussieht, wie man sich das vorstellt. Ein Schlawiner im zerknautschten Anzug, der über die fröhlichen Zigeuner singt und es in seinen Stücken mit dem geistigen Eigentum nicht so genau nimmt. Während er "Magnification" feiert, seine neunte Platte, möchte Nicolas Sarkozy, der Präsident mit ungarischen Wurzeln, keine lagernden Roma mehr in Frankreich haben. Damit zurück zum Philosophen: "Der Balkan ist das Unbewusste Europas. Europa erkennt im Balkan all seine schmutzigen Geheimnisse", sagt Zizek. Vielleicht ist die Wahrheit weniger lustig als die Lieder - und Europa nur ein Traum.

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