Es läuft rund für Mona Neubaur. So wie am Dienstag vergangener Woche. An dem Tag hat der DGB die Spitzenkandidaten zur Landtagswahl ins Düsseldorfer Kongresscenter geladen. An Stehtischchen sollen sie sich duellieren. Zunächst tritt die DGB-Landesvorsitzende Anja Weber ans Pult und gibt den Ton vor: Durch den Ukraine-Krieg sei Energieversorgung zu einem „so zentralen Thema für NRW“ geworden, beteuert sie. „Vor allem der Ausbau erneuerbarer Energien“, die große „Transformation“ müsse endlich vorangetrieben werden, ruft Weber aus. Und zitiert noch ein paar Punkte des grünen Programms. Die grüne Spitzenkandidatin Mona Neubaur lauscht, nickt artig und muss die Worte später nur wiederholen, um sich des Applauses sicher zu sein.
So ergeht es Neubaur derzeit fast überall, erzählt sie im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Ob bei Arbeitnehmer- oder Arbeitgeber-Treffs, beim Elternverein oder in der Fußgängerzone – urgrüne Themen beherrschten die Debatte: der Ruf nach Erneuerbaren, Energiesparen und schnellstmöglicher Energiewende. Natürlich um des Klimas willen. Nun aber auch, um sich aus Putins Abhängigkeit zu befreien.
Nur: Wieso stehen die NRW-Grünen in Umfragen dann bei 15 bis 18 und nicht bei mindestens 20 Prozent wie 2020? Zumal Neubaur mit ihrem maßvollen Auftreten Menschen weit jenseits der Milieugrenze erreichen kann. Selbst FDP-Chef Joachim Stamp billigt ihr das Prädikat „sympathisch bürgerlich“ zu. Auch ihre Agentur TBWA bestätigte dieser Zeitung, dass sie genau darauf setze: auf Neubaurs „Art, Menschen zu gewinnen, die vorher niemals dachten, dass man die gleichen Interessen verfolgt“.
Der 1000-Meter-Streit
Auch kann sie für ihre Partei reklamieren, länger und energischer als ihre Mitbewerber für Energieeffizienz und forcierten Ausbau der Erneuerbaren zu kämpfen. Was insbesondere für die Windenergie gilt – ein Thema, von dem Neubaur sich Wählermobilisierung erhofft. Denn hier bietet die schwarz-gelbe Landesregierung Angriffsfläche. Ob Schwarz-Gelb das selbstgesetzte Ziel erreicht, die Windenergieproduktion bis 2030 zu verdoppeln, gilt Experten als zweifelhaft. Dazu hat die Koalition vor allem durch eine Entscheidung beigetragen: durch ihre „Einführung der 1000-Meter-Abstandsregel für neue Windenergieanlagen zu Wohnsiedlungen“, wie der Landesverband Erneuerbarer Energien (LEE NRW) beklagt.
Zwar kam Schwarz-Gelb den Windkraftfreunden entgegen und dekretierte, Kommunen dürften die 1000 Meter Abstand unterschreiten, wenn eine Ratsmehrheit dies beschließe. Doch von der Möglichkeit hat fast keine Kommune Gebrauch gemacht. Sogar grüne Kommunalpolitiker räumen ein, sie fürchteten den Widerstand ihrer Bürger. Weshalb die Grünen die 1000-Meter-Regel streichen und die Kommunen von solchen Kämpfen entlasten wollen. CDU und FDP halten dagegen, der Windkraftausbau werde aber „nicht ohne Akzeptanz der Bevölkerung gelingen“ (CDU-Generalsekretär Josef Hovenjürgen). Was Neubaur nicht beirrt. Sie argumentiert, die Energiewende werde „von einer großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger getragen“. Nun gehe „es darum, den Aufbau von Windkraft vor Ort attraktiver zu gestalten, zum Beispiel, indem Kommunen an den Einnahmen der Windkraftproduktion beteiligt werden. Dann kann die neue Kita mit dem neuen Windrad finanziert werden“. Doch auch CDU und FDP sehen im Windkraftstreit eine Mobilisierungschance. Und nutzen diese, um vor einem zu rabiaten Klimaschutz-Kurs zu warnen. FDP-Chef Stamp etwa lobt zwar Neubaurs bürgerlichen Auftritt, mahnt aber zugleich, „dahinter“ stehe „eine stramm linksorientierte Landespartei“. Zumindest eins stimmt: Neubaur wirbt für manche klimaschutzpolitische Reform, die selbst in manch sozialdemokratischem Ohr brachial klingt. Etwa für einen „Klimacheck“: Jedes Gesetz soll darauf geprüft werden, ob es mit den Vorgaben der Pariser Klimaschutzziele vereinbar ist. Mit einem ähnlichen Vorhaben scheiterten die Grünen im Bund bei den Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP. In beiden Parteien fürchtete man, ein solcher Check laufe auf eine Generalermächtigung grüner Kabinettsmitglieder hinaus, jedes Gesetz umzuschreiben. Neubaur freilich betont das Maßvolle ihrer energiepolitischen Pläne: Wie dem grünen Bundeswirtschaftsminister Habeck im Bund, so gehe es auch ihr in NRW um „pragmatische Zwischenschritte auf dem Weg zu 100 Prozent Erneuerbaren“. Wie zum Beweis wagt sie sich an eine der für jede echte Grüne unerträglichsten Forderungen überhaupt heran: an eine Sicherheitsreserve durch Kohlekraftwerke. „Auch in NRW“, so räumt sie ein, müsse „man vorbereiten, dass einzelne Kohlekraftwerke als Reserve bereitstehen, um sie im Fall dramatischer Energieengpässe vorübergehend zu reaktivieren“.
Moderat oder maßlos – dieser Streit wird auch rund um den zweiten Pfeiler der grünen Transformation ausgefochten: bei der Mobilitätswende. CDU und FDP warnen, die grünen Pläne seien maßlos und würden „Fantastillionen“ kosten. In der Tat verkündet Neubaur sehr große Ziele, betont dabei aber stets das behutsame Vorgehen. Konkret geht es vor allem um die geplante „Mobilitätsgarantie“: Von 5 Uhr 30 bis 22 Uhr 30 soll jede Bus- und Bahn-Station im Land mindestens halbstündig angefahren werden. Der ÖPNV soll nicht nur Dorf und Stadt, sondern auch die Vielzahl kleiner Dörfer miteinander verbinden. Etwa 600 Millionen Euro pro Jahr müssten dafür in ein flächendeckendes Schnellbus-Netz, in die Sanierung von Bahnhöfen und dafür nötiges Personal fließen. Ab 2030 soll die Mobilitätsgarantie nach den grünen Plänen gelten.
„Aus Fehlern gelernt“
Ihre Verheißung der Mobilitätswende verbinden die Grünen mit einem beruhigenden Versprechen: All das werde rücksichtsvoll umgesetzt. Anders als 2017 propagieren Neubaur und Co. ein Zug-um-Zug-Vorgehen. Erst in dem Maße, wie der ÖPNV ausgebaut worden ist, wollen sie zum Beispiel systematisch Straßen für Pkw sperren oder das Parken in Innenstädten noch deutlicher verteuern. Neubaurs Vorbild ist Uwe Schneidewind, grüner Oberbürgermeister Wuppertals. Der wollte die autofreie Innenstadt im Eilverfahren durchboxen, bis viele Bürger ihm schilderten, wie dringend sie ihr Auto bräuchten. Die autofreie Innenstadt gab er bis auf Weiteres auf, weil er verstand, „wie berechtigt viele Sorgen derzeit noch“ seien. Auch Neubaur räumt ein, die Partei habe „nach der Wahl 2017 aus Fehlern gelernt. Wir setzen jetzt stärker auf Zwischenschritte und die richtige Reihenfolge bei der Verkehrswende“.
Es gibt allerdings einen Haken an der Mobilitätsgarantie: Sie könnte an den Wünschen der Bürger vorbeigehen. Laut Umfragen würden 75 Prozent der Bundesbürger gerne weniger das Auto und mehr den ÖPNV nutzen, wären Bus und Bahn besser ausgebaut. Über 90 Prozent würden aber auch dann nicht komplett aufs Auto verzichten. Und dafür bräuchten sie weiterhin eine gute Infrastruktur für Autos. Genau die wird aber unter den grünen Plänen leiden, wie Neubaur einräumt, fordert sie doch, „mehr Geld in den ÖPNV und weniger in den Ausbau der Umgehungsstraße zu investieren“. Sind 15 bis 18 Prozent in Umfragen da ein schlechtes Ergebnis?