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Dieses Serbien ist kein Stabilitätsanker auf dem Balkan

Ihr gemeinsames Ziel ist ein „Großserbien“: Milorad Dodik (l.) und Aleksandar Vucic Ihr gemeinsames Ziel ist ein „Großserbien“: Milorad Dodik (l.) und Aleksandar Vucic
Ihr gemeinsames Ziel ist eine „Serbische Welt“: Milorad Dodik (l.) und Aleksandar Vucic
Quelle: picture alliance / AA/Milos Miskov
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Westliche Politiker sehen in Serbien einen Stabilitätsanker. Doch das ist eine gefährliche Fehleinschätzung, meint unser Gastautor, ein Westbalkan-Experte. Damit ein dauerhafter Frieden in der Region gelingen kann, muss sich die EU vor allem von einer Illusion verabschieden.

Dauerhafter und stabiler Frieden auf dem Westbalkan scheint für viele Akteure der internationalen Politik ein Buch mit sieben Siegeln zu sein. Dabei legte die Clinton-Administration vor genau 30 Jahren die Grundlagen für einen Frieden. Das Desinteresse des Westens der letzten Jahre und die aggressive Politik Belgrads und dessen Statthalter in den Nachbarländern hat, mit Moskaus Unterstützung, dieses Fundament erodieren lassen. Wie kann der Westen dem entgegensteuern, um den Westbalkan zu stabilisieren und Russlands wachsenden Einfluss zu begrenzen?

Die Aussagen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zum „Einfrieren“ des Ukraine-Kriegs teilte Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht: „Es würde am Ende nur Putin helfen … ein Einfrieren, bei dem Putin am Ende gestärkt herausgeht und den Konflikt fortsetzt, wann immer es ihm beliebt.“ Diese weitblickende Analyse des Ministers spiegelt genau die Lehren wider, die aus den Erfahrungen des serbischen Angriffskrieges gegen Kroatien von 1991 bis 1995 gezogen werden können.

Nachdem der damalige serbische Präsident Slobodan Milosevic in den ersten sechs Kriegsmonaten über 30 Prozent des kroatischen Territoriums erobert hatte, wurde der Konflikt durch eine UN-Schutztruppe bis 1995 eingefroren. Alle Pläne zur Reintegration der serbischen Besatzungsgebiete scheiterten, Hunderttausende Kroaten wurden vertrieben, Tausende ermordet. Ähnlich wie in den russisch-besetzen Gebieten in der Ukraine.

Moskau hätte bei einem „Einfrier-Szenario“ genauso wenig Anreiz, die mit exorbitanten Verlusten eroberten Territorien abzugeben, wie Belgrad damals. Ein weiterer zeithistorischer Vergleich hierzu: Die Eroberung der ukrainischen Kleinstadt Awdijiwka kostete mehr russischen Soldaten das Leben als während des gesamten Krieges der UdSSR in Afghanistan von 1979 bis 1989 fielen. Afghanistan wirkte sich auf den Zerfall der Sowjetunion wie ein Brandbeschleuniger aus.

Pistorius hat mit seiner Ablehnung des „Konflikt-Einfrierens“ eine realistische Erkenntnis zum Ausdruck gebracht. Auch sparte er bei seinem kürzlichen Besuch in Belgrad nicht mit Kritik, fand deutliche, wenn auch diplomatische Worte an die Adresse des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic: „Wir müssen gemeinsam verhindern, dass es zu einer Eskalationsspirale kommt, von wem auch immer gesteuert (...) Gewalt und Drohungen sind kein Mittel der politischen Auseinandersetzung.“

Dies ist wichtig, denn es gibt immer wieder Politiker, die trotz der destruktiven Rolle Belgrads in Kosovo und Bosnien immer wieder versuchen, Serbien als „Stabilitätsanker“ darzustellen. Jüngstes Beispiel war der Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder in Belgrad, der versuchte, das zu reanimieren, womit Washington vor einem halben Jahr gescheitert war: Belgrad auf die Seite des Westens zu ziehen. Dafür bekam er vom Autokraten Vucic, einem der engsten Verbündeten des russischen Präsidenten, einen serbischen Orden verliehen.

Sowohl Vucic als auch sein Statthalter im benachbarten Bosnien, der ultranationalistische Serbenführer Milorad Dodik, hatten ihre Orden bereits an Wladimir Putin verliehen. Thomas Hacker, der europapolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, kritisierte Söders Umgang mit Vucic in Belgrad: „Es ist irritierend, dass der bayerische Ministerpräsident den serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic hofiert.“

Nur wenige Tage nach Söders Besuch in Belgrad warnte Vucic den Westen: Dieser müsse sich zwischen Kosovo und Serbien entscheiden. Würde sich der Westen für Kosovo entscheiden, würde Serbien auf den bestmöglichen Zeitpunkt warten und die „Gelegenheit nutzen“. Dies zeigt einmal mehr, dass Beschwichtigungspolitik Autokraten zu Radikalität ermuntert. Dodik wiederum wurde über ein Dutzend Mal im Kreml empfangen.

Belgrader und Moskauer Regierungsvertreter sind regelmäßige Gäste auf verfassungswidrigen Paramilitärparaden, die Dodik in seiner Hochburg Banja Luka organisiert. Dort ist, allerdings auf niedrigerem Niveau, eine Aufrüstung und Militarisierung zu beobachten. Aber Serbien allein verfügt mittlerweile über mehr moderne Waffensysteme als alle anderen Westbalkan-Staaten zusammen, ohne dass es eine erkennbare Bedrohungslage für das größte Westbalkan-Land gäbe.

Der Plan von einer „Serbischen Welt“

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Auffällig ist, wie geschichtsvergessen einige westliche Politiker sind: Vucic und sein derzeitiger Außenminister Ivica Dacic waren die Hauptpropagandisten Milosevics. Vucic drohte während einer Parlamentssitzung der serbischen Skupstina am 20. Juli 1995, also während des serbischen Srebrenica-Genozids an über 8300 Bosniaken, an dem auch Belgrader Spezialeinheiten, die Skorpione des serbischen Innenministeriums, partizipierten, dass man für jeden von der Nato getöteten Serben 100 Muslime umbringen werden.

Dies war die von den Nazis festgelegte Quote während der deutschen Besatzung Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg, nämlich 100 jugoslawische Zivilisten für jeden getöteten Wehrmachtssoldaten zu ermorden. Vucic und seine Gefolgsleute verfolgen den Plan einer „Serbischen Welt“ (Srpski svet), einer adaptierten Neuauflage von Milosevics Großserbien, sprich des Anschlusses der hauptsächlich serbisch-besiedelten Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens an Serbien. Diese umfassen insbesondere die Hälfte Bosniens und den Norden Kosovos. Diese Blut-und-Boden-Ideologie deckt sich mit der der „Russischen Welt“ (Ruski mir) Moskaus.

Vor 30 Jahren gab es auf dem Höhepunkt des Bosnien-Krieges serbisch-kroatische Pläne zur Aufteilung des Landes, wie sie einige Politiker wieder vertreten, zuvorderst Dodik. Damals griffen die USA ein und zwangen Zagreb, den Krieg gegen Sarajevo zu beenden. Im März 1994 wurde in Washington das gleichnamige Abkommen zwischen Kroatien und Bosnien unterzeichnet, was zum Wendepunkt des Krieges wurde.

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Die nun wieder gemeinsam agierenden kroatischen und bosnischen Streitkräfte drängten die serbischen Aggressoren sukzessive zurück. Als dann die kroatische Armee mit US-Unterstützung das serbisch-besetzte Drittel Kroatiens im August 1995 befreite und die Nato serbische Stellungen in Bosnien bombardierte, änderte sich das Kräfteverhältnis fundamental. In der Defensive war die serbische Seite bereit, über einen Friedensschluss zu verhandeln. Eine Kräftebalance war die Voraussetzung für einen Frieden auf dem Balkan. Heute existiert diese Balance nicht mehr.

Die monatelangen Versuche der Biden-Administration, Belgrad „ins Boot zu holen“ sind gescheitert. Der ehemalige hochrangige US-Diplomat Daniel Serwer nannte dies „Fantasie-Diplomatie“, die zum Scheitern verurteilt sei. Nach Angriffen serbischer Nationalisten im Mai 2023 auf die Nato-Schutztruppe in Kosovo (Kfor), bei der 90 Soldaten verletzt wurden, und dem Angriff exzellent ausgerüsteter serbischer Paramilitärs auf Kosovo-Sicherheitskräfte im September, begann Washington, diese „Fantasie-Diplomatie“ zu revidieren.

Deshalb sollten Washington und Berlin, wie vor 30 Jahren, eine Koalition zwischen Zagreb und Sarajevo schmieden, unter Einbeziehung Pristinas. Die Bevölkerung Kroatiens, Bosniens und Kosovos ist überwiegend proeuropäisch. Leider ist bei der Mehrheit der Serben das Gegenteil der Fall, denn viele favorisieren zunehmend Russland gegenüber dem Westen.

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An diesem Punkt sollte der Westen eine Grenze ziehen, denn alles andere hat sich als Quadratur des Kreises erwiesen und wird von den serbischen Politikern als „Appeasement“ und somit westliche Schwäche interpretiert. Wenn Belgrad tatsächlich einen 180-Grad-Politikwechsel vollzöge, dann sollte der Westen Serbien willkommen heißen. Genau wie Söder dies tat. Doch das Umdenken muss zuerst vor Ort beginnen und verifizierbar sein.

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Vor einer Illusion sollte sich die EU verabschieden: Nationalistische Autokraten wie Vucic und Dodik sind nicht käuflich und in dieser Hinsicht prinzipienfest. Auch wenn sie Brüssels Geld annehmen, werden sie unsere westlichen Werte weiterhin ablehnen, wie es die serbische Hass-Propaganda tagtäglich in den Medien verbreitet. Vucic und Dodik haben in den letzten Jahren, insbesondere seit dem zweiten russischen Überfall auf die Ukraine, deutlich gemacht, dass sie aufseiten Moskaus stehen. Wir sollten sie beim Wort nehmen und uns keinem Wunschdenken hingeben.

Alexander Rhotert ist Diplom-Politikwissenschaftler, spezialisiert auf den Westbalkan und US-Außenpolitik. Von 1996 bis 2016 arbeitete er in verschiedenen Funktionen für die UN, die Nato, die OSZE, die EU und das Büro des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina (OHR).

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