In Rom gab es, zumindest für gebildete und kunstverständige Menschen, an jenem Montag nur ein Ziel: die Sixtinische Kapelle. „Als sein Werk aufgedeckt wurde, strömte alle Welt herbei, um es in Augenschein zu nehmen, und alle erstaunten und verstummten“, beschrieb der Maler und vielleicht erste echte Kunsthistoriker Giorgio Vasari 1568 in seinen „Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance“ die Sensation des 1. November 1512. Und fuhr fort: „Der Papst aber, vollkommen befriedigt und zu größeren Unternehmungen ermutigt, belohnte Michelangelo mit Geld und reichen Geschenken.“
Denn nach gut vier Jahren Arbeit (der Vertrag war am 8. Mai 1508 geschlossen worden) hatte Michelangelo Buonarroti, eigentlich Bildhauer, sein erstes malerisches Hauptwerk vollendet; das zweite, das Wandgemälde hinter dem Altar in derselben Kapelle zum Thema „Das Jüngste Gericht“ folgte erst knapp 30 Jahre später. Die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle zählen inzwischen seit mehr als einem halben Jahrtausend zu den berühmtesten Kunstwerken der Welt.
Michelangelo, geboren 1475 in dem toskanischen Dorf Caprese, hatte den Auftrag eigentlich ablehnen wollen. Er war bereits der berühmteste Bildhauer seiner Zeit, bekannt für zeitlose Schöpfungen wie die Pietà, die noch im alten, konstantinischen Petersdom aufgestellt wurde, oder die kolossale Statue des David neben dem Palazzo Vecchio in Florenz. Vielmehr wollte er sich dem Grabmal des amtierenden Papstes Julius II. widmen, das monumental werden sollte.
Doch der Stellvertreter Christi auf Erden hatte inzwischen andere Pläne: Er wollte sein Grabmal nicht in den alten Petersdom integriert sehen, sondern einen völlig neuen Dom errichten lassen, als „Lobpreisung Gottes“ und – so sah er es zumindest selbst – seiner eigenen Genialität. Trotzdem versuchte der tatkräftige Adlige aus dem Geschlecht der della Rovere, Michelangelo unbedingt an sich binden – und machte ihm den Vorschlag, die Decke der Sixtina zu gestalten, der wichtigsten Kapelle des Apostolischen Palastes.
Dort hatte bisher lediglich der 30 Jahre ältere Pier Matteo d‘Amelia Sterne auf blauem Hintergrund gemalt. Julius II. wollte aber mehr: Er stellte sich die Sixtina als eine Art Thronsaal für sich sowie seine leitenden Beamten vor und wollte daher die Porträts der Zwölf Apostel Jesu Christi sehen.
Michelangelo hingegen wünschte sich, das bereits konzipierte Grabmal für den Papst zu vollenden. Außerdem erschien ihm die Decke der Kapelle eine so große und schwierige Arbeit zu sein, gerade für ihn, der lieber zeichnete als malte. Er schlug Julius II. daher für die Decke den etwas jüngeren Maler Raffael vor, einen Vertrauten des Architekten und Konkurrenten Bramante.
„Je mehr sich Michelangelo indes weigerte, desto mehr stieg des Papstes Verlangen“, beschrieb Vasari die folgenden Auseinandersetzungen am päpstlichen Hof. Denn Julius II. war „in allen seinen Unternehmungen ungestüm und wurde hier noch durch Michelangelos Nebenbuhler, vornehmlich durch Bramante, gereizt und angetrieben, sodass er sich, heftig wie er war, fast wieder mit Michelangelo erzürnt hätte“.
Als der Künstler sah, wie beharrlich der Papst auf seinem Wunsch bestand, entschloss er sich, die Arbeit zu übernehmen. Bramante, hauptsächlich verantwortlich für den Neubau des Petersdoms direkt neben der Sixtina, erhielt den Auftrag, das notwendige Gerüst in der Kapelle aufzurichten. Er entwarf eine an Seilen aufgehängte Konstruktion und ließ dafür Löcher in die Decke schlagen.
Michelangelo fragte daraufhin, wie denn, wenn er mit dem Malen fertig sei, die Löcher ausgefüllt werden sollten? Bramante erwiderte: „Das wird sich finden, anders kann es nicht gemacht werden!“ Daraufhin setzte Michelangelo durch, dass Bramantes Konstruktion abgerissen und durch eine aufgeständerte Malplattform nach seinem eigenen Entwurf ersetzt wurde. Nun konnte er in Ruhe und weitgehend eigenhändig das Bildprogramm mit 115 überlebensgroßen Figuren (und zahlreichen weiteren kleineren) auf einer Länge von etwa 35 Metern und einer Breite von etwa 14 Metern schaffen.
Er begann am westlichen Ende mit der „Trunkenheit Noahs“ und arbeitete sich rückwärts durch die Erzählung zunächst bis zur „Erschaffung Evas“ genau in der Mitte des Gewölbes, die im September 1510 fertiggestellt wurde. Diese erste Hälfte der Deckenmalerei wurde bis zum 14. August 1511 entrüstet und dem Papst einen Tag später präsentiert.
Eine Pause folgte, bis ein neues Gerüst fertig war. Die zweite Hälfte der Fresken, beginnend mit dem bekanntesten Motiv, der „Belebung Adams“, stellte Michelangelo schnell fertig. Die vollständige Arbeit war erstmals am 1. November 1512, eben an Allerheiligen, zu sehen.
Ihrem Schöpfer trug diese Arbeit den Beinamen „Il Divino“ ein „der Göttliche“. Fortan galt er in Rom als unbestritten größter Künstler der Renaissance, hatte also Bramante, Raffael und andere ausgestochen. Konsequenterweise war es auch Michelangelo, dem der nun amtierende Medici-Papst Clemens kurz vor seinem Tod 1534 den Auftrag für das gewaltige Wandgemälde über dem Altar der Sixtina erteilte. Die Fertigstellung dauerte bis 1541.
Da der zweite Nachfolger Bramantes als Baumeister des neuen Petersdoms, Antonio da Sangallo der Jüngere, in fast 27 Jahren nicht sehr weit gekommen war, übertrug Papst Paul III. 1547 auch diese größte künstlerische Aufgabe des Abendlandes an Michelangelo. Er gestaltete die Kuppel und prägte den gesamten westlichen Teil des Doms; das Langschiff hin zum Petersplatz wurde erst von seinen Nachfolgern zu seinen Plänen ergänzt.
1564 starb Michelangelo im ungewöhnlich hohen Alter von fast 89 Jahren in Rom. Als gleichermaßen begnadeter Bildhauer, Maler und Architekt ist er in die Kunstgeschichte eingegangen. Ähnlich wie er fasziniert heute aus der Renaissance nur noch das Universalgenie Leonardo da Vinci.
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