Michel Friedman im Interview: „Geht es so weiter, versinkt Deutschland in Bedeutungslosigkeit“

Michel Friedman: „Geht es so weiter, versinkt Deutschland in Bedeutungslosigkeit“

Zur Freiheit gehört Verantwortung, sagt der Jurist und Philosoph Michel Friedman. Ein Gespräch über die Verletzlichkeit der Demokratie und die mangelnde Solidarität mit den Juden.

Michel Friedman auf der Frankfurter Buchmesse 2023
Michel Friedman auf der Frankfurter Buchmesse 2023imago images

Von der „Angst vor einer neuen Zeit“ handelt das neue Buch von Michel Friedman „Schlaraffenland abgebrannt“ laut Untertitel. Eine neue Zeit scheint schon angebrochen, so nervös ist die Gesellschaft. Wir sprachen mit Michel Friedman über den Zustand der Demokratie, sein eigenes Sicherheitsgefühl und sein Buch „Fremd“, das jetzt in Berlin auf die Bühne kommt.

Herr Friedman, „Schlaraffenland abgebrannt“ ist eine essayistische Bestandsaufnahme: Sie führen zusammen, dass die Gesellschaft zu satt und zu wenig wachsam gegenüber den Feinden der Demokratie geworden ist. Wenn man die Reaktionen in Deutschland auf den Terror der Hamas gegen Israel sieht, sieht, dass jüdische Einrichtungen angegriffen werden, wirkt das geradezu prognostisch. Wie geht es Ihnen damit, mit Ihrer Diagnose recht zu haben?

Es schmerzt, und es ist enttäuschend. Und doch muss man die Antwort differenzieren. Die Reaktion der Bundesregierung und der demokratischen Parteien ist eindeutig. Es ist gut, dass Bundeskanzler Scholz als erster Regierungschef nach Israel gereist ist. Auch die Außenministerin macht beeindruckend und engagiert ihre Arbeit. Anders Teile der Bevölkerung. Es gab kaum größere Solidaritätsdemonstrationen in den Städten. Nach über zehn Tagen rief ein Bündnis aller demokratischen Parteien, der Gewerkschaften und der Religionsgemeinschaften zu einer großen Demonstration auf, bei der Bundespräsident Steinmeier eine Rede hielt.

Zehntausend Menschen kamen zum Brandenburger Tor, das ist nicht so viel.

Beschämend wenig. Jedem und jeder, die hingegangen sind, ein Dankeschön. Aber es bleibt dabei: viel zu wenig, wenn man weiß, dass bei anderen Themen bis zu 100.000 Menschen demonstriert haben. Eine weitere Veränderung wächst Tag für Tag. Hieß es in den ersten Tagen: „Ja, ich bin entsetzt und solidarisch“, heißt es nun immer öfter: „Ja, aber …“ Viel zu schnell kommt dieses Aber. Der Zivilisationsbruch, der stattgefunden hat, die barbarische Gewalt, die wir erleben mussten, ist ein Massaker, in dem Empathie und Menschlichkeit keinen Platz hatten. Kann man nicht ein paar Wochen einfach nur trauern, Mitgefühl zeigen, Empathie entwickeln für das Leid der Opfer, die erleben mussten, wozu Menschen fähig sind, und sich auf die Seite der Opfer stellen? Das Aber wird sowieso bald im Vordergrund stehen. Der Terrorakt muss allerdings dekontextualisiert werden: Der brutale terroristische Mord ist an sich ein Ereignis, das nicht vergessen werden soll.

Es scheint keinen gemeinschaftlichen Reflex zu geben, die Demokratie zu verteidigen – was ja auch bedeuten würde, sich gemeinschaftlich auf die Seite der angegriffenen jüdischen Bürger zu stellen. Wann sind wir falsch abgebogen?

Es ist schon sehr lange her, dass wir falsch abgebogen sind. Demokratie braucht Demokrat:innen, die immer wieder verhandeln, was dieser Begriff für sie bedeutet. Sie sind der Sauerstoff, den es braucht, damit die Demokratie eine Zukunft hat. Wer aber etwas für selbstverständlich hält, verliert die Wertschätzung und vergisst, sich zu engagieren. Dafür haben sich die Gegner der Demokratie umso mehr engagiert. Mit großer Leidenschaft und Zähigkeit haben sie ihr schmutziges Geschäft Jahr für Jahr weiterbetrieben, und weil die Demokraten ihre tägliche Arbeit nicht mit einer genauso großen Leidenschaft gemacht haben, aus Faulheit, aus Selbstgewissheit oder aus Gleichgültigkeit, steht unsere Gesellschaft vor einer Zerrreißprobe.

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Berlin Verlag
Zu Person und Buch
Michel Friedman, geb. 1956 in Paris, seit 1965 in Deutschland lebend, ist sowohl promovierter Jurist als auch Philosoph. Er arbeitete und arbeitet als Rechtsanwalt, Publizist und Moderator. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine sowie von 2001 bis 2003 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses.

Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit. Berlin Verlag, Berlin 2023. 224 Seiten, 24 Euro

Inszenierte Lesung mit Sibel Kekilli von „Fremd“ von Michel Friedman,  Regie: Max Lindemann,  Premiere am 26.10., 20 Uhr, Berliner Ensemble, Neues Haus. Nächste Vorstellungen: 7., 8., 14.12. jeweils 20 Uhr

Auf der Frankfurter Buchmesse mussten Sie mit Polizeischutz unterwegs sein. Im Buch erwähnen Sie eingangs: „Meine Lebensgeschichte ist auch die Geschichte der Angst“. Würden Sie sagen, wie es Ihnen im Moment geht?

Ich bin traurig. Mein Sicherheitsgefühl ist, wie bei allen anderen, schlechter geworden. Wer mich kennt, weiß aber, dass ich mich nicht einschüchtern lasse von Menschen, die hassen und die gegen Menschen Gewalt ausüben. Spätestens jetzt muss sich jeder und jede engagieren. Das gilt für mich und für andere. Und es ist schön, sich in einer Demokratie für die Demokratie engagieren zu können. Es ist ein Geschenk, in Freiheit über Freiheit verhandeln zu können. Es ist ein großes Glück, in einem Land, in dem die Würde des Menschen grundgesetzlich als unantastbar definiert wird, gegen die zu kämpfen, die glauben, dass die Würde des Menschen antastbar ist.

Sie schreiben: „Seit Jahrzehnten entwickeln wir uns in Freiheit, definieren Freiheit als das größte Menschenrecht. Wenn Freiheit aber da ist, überfordert sie uns.“ Sie nehmen einen Zwillingsbegriff dazu, die Verantwortung. Wie kommt es, dass Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen keine Selbstverständlichkeit ist?

Vieles, was die persönliche Verantwortung angeht, ist über Jahrzehnte an die staatlichen Institutionen abgetreten worden. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns weit mehr auf unser Wohlbefinden, unseren Wohlstand konzentriert und wollten von Politik und eigenem politischen Engagement wenig wissen. Wir überwiesen Milliarden, wo immer auch eine Störung sichtbar wurde, und hingen das Do-not-disturb-Schild an die Tür zum Schlaraffenland. Wahrscheinlich schon mit den Menschen, die zwischen 2015 und 2017 zu uns geflüchtet sind, spätestens aber mit Covid und dem Krieg in Europa war das Problem, dass wir zwar das Schild in der Hand hielten, aber die Tür nicht mehr da war, um es aufzuhängen. Was uns nun erschüttert, ist in den letzten dreißig Jahren passiert. Der zerstörerische Rechtsextremismus, der in allen Parlamenten angekommen ist, die internationalen Konflikte und Kriege, aber auch der Neoliberalismus, der viele Deutsche zu Ich-Egoisten gemacht hat, die strukturellen Defizite der digitalen Welt, der Schulen, das Fehlen einer geopolitischen Konzeption und das Zerbröseln des Engagements für Demokratie sollten uns spätestens jetzt klarmachen, so wird es nicht weitergehen, oder das Land wird in Bedeutungslosigkeit versinken.

„Sehr ernst muss man die Frage stellen, ob ein Teil der Eliten versagt hat“, schreiben Sie. Mittelmäßige hätten Posten besetzt, Überdurchschnittliche blieben draußen. Liegt das daran, dass kaum jemand Elite sein will?

Das wäre eine Möglichkeit, es gibt noch mehrere andere. Das Ergebnis allerdings ist dasselbe. Natürlich haben nicht wenige, die Verantwortung tragen, diese in Ernsthaftigkeit und mit viel Engagement umgesetzt. Zu viele aber haben es sich leicht gemacht, zu viele sind dazu gerufen worden, obwohl ihre persönlichen Leistungsqualifikationen das nicht hätten erlauben dürfen. Solange aber die Wirtschaft funktioniert, und damit der Alltag der Bürger:innen, fiel das nicht besonders auf. In Krisenzeiten wie jetzt wird es besonders sichtbar. Auch das ist eine strukturelle Schwäche dieses Landes.

Sie lehnen das Wort Einwanderungsgesellschaft ab, weil es Integration im Sinne der Anpassung verlangt. Wie könnte man das Ideal bezeichnen, wenn Zuwanderung mit echtem Willkommen verbunden wäre?

Wenn jemand kommt, dann gilt für ihn, was für alle anderen gelten muss: Respekt. Die höchste Form des Humanismus ist nicht die Assimilation oder gar Integration, sondern die Emanzipation von Menschen. Das gilt für die, die schon da sind; genauso für die, die kommen. Zu Recht verlangen wir von allen, das Grundgesetz zu akzeptieren und zu respektieren. Dazu gehört konstitutiv, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. In diesem Sinne haben wir uns verhalten, wenn Menschen zu uns kommen, mit ihrer Unsicherheit, aber auch mit ihrer eigenen Kultur. Das Einzige, was sie wiederum akzeptieren müssen, ist, dass jeder jemand ist, wie George Tabori das formuliert hat. Alles andere muss, kann und darf verhandelt werden.

Im vergangenen Jahr haben Sie Ihr berührendes Buch „Fremd“ veröffentlicht, Sie haben in hochverdichteter, lyrischer Sprache sich selbst befragt. Wie war es, die eigenen Gefühle einmal so offenzulegen?

„Fremd“ ist beides. Persönlich und analytisch. Emotional und reflektiert. Das Kind erlebt schmerzhaft, dass es nicht dazugehört, wie so viele Millionen Menschen auch. Es kann tun, was es will; selbst wenn es sich anpasst, gehört es nie zu irgendeinem Wir. Es weiß von der Bestialität des Menschen, es weiß von der berechtigten Furcht, die man als Minderheit immer empfindet, es weiß aber auch von der Liebe und den wenigen, die sich anders verhalten als die vielen. Oskar Schindler ist Retter der Eltern und Vorbild für das Kind. Die Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, sie ist bis heute dieselbe. Vorurteile sind hartnäckig, der Hass ist hungrig, wie heute enthemmter und offener zu beobachten denn je.

Die Schauspielerin Sibel Kekilli wird das Buch im Berliner Ensemble als Monolog auf der Bühne vortragen. Was bedeutet es Ihnen, diesen Text in die Interpretation anderer zu geben?

Es wird eine inszenierte Lesung. Ich habe mir Sibel Kekilli gewünscht und bin glücklich, dass sie diese Herausforderung annimmt. Sie ist eine großartige Schauspielerin. Im Dezember wird es eine Uraufführung im Schauspiel Hannover geben, in der Regie von Stephan Kimmig, im Februar wird es auch im Maxim-Gorki-Theater eine Inszenierung geben. Fiel es mir leicht, den Text loszulassen? Ja. Weil ich weiß, dass er in guten Händen ist, und weil ich neugierig bin, wie es im Theater sein wird. Und weil ich hoffe, dass die Zuschauer:innen von den Aufführungen berührt werden und das Kind zum Anlass nehmen werden, ihre eigenen Gefühle zu reflektieren. Und ganz ehrlich bin ich ein bisschen stolz, dass drei deutsche angesehene Theater meinen Text für würdig halten, ihn auf der Bühne zu zeigen.