Manchmal sind Journalisten fast so etwas wie Propheten: „Bei wenigen bedeutenden Politikern ist so ungewiss, wie ihre Leistung von der Geschichte bewertet werden wird, wie bei Michail Sergejewitsch Gorbatschow“, schrieb WELT AM SONNTAG am 21. Oktober 1990. Sechs Tage zuvor, am 15. Oktober, hatte das Friedensnobelpreis-Komitee in Oslo verkündet, die wichtigste internationale Auszeichnung für die Förderung von Frieden und Verständigung dem Staats- und Parteichef der Sowjetunion zu verliehen.
In der Begründung hieß es, Gorbatschow habe wesentlich mitgewirkt, dass „die Konfrontation der Blöcke durch Verhandlungen ersetzt“ wurde, dass „alte europäische Nationalstaaten ihre Freiheit wiedergewonnen“ hätten und „mehrere regionale Konflikte gelöst worden oder einer Lösung nähergekommen“ seien. Ferner könnten die Vereinten Nationen nun die Rolle spielen, die ihnen „in einer vom Recht beherrschten internationalen Gemeinschaft zugedacht“ sei.
Die ersten Reaktionen waren fast einhellig begeistert ausgefallen. In der „Tagesschau“ geriet Moskau-Korrespondent Gerd Ruge ins Schwärmen: „Gorbatschow hat den Weg zu einer friedlichen Zusammenarbeit in Europa freigemacht.“ Die „Bild“-Zeitung, die wie WELT bei Axel Springer erscheint, befand unter der Überschrift „Bravo“ knackig: „Endlich wieder mal eine gute Entscheidung des Nobel-Komitees.“
Der Wiener „Kurier“ sah es ähnlich: „Hat Michail Gorbatschow dem Frieden gedient? Die Antwort lautet schlicht ja.“ Auch die wichtigste Zeitung der Niederlande, der „Telegraaf“ aus Amsterdam, urteilte: „Wenn jemand ein Anrecht hatte auf den Nobelpreis für Frieden 1990, dann ist es der Präsident der Sowjetunion.“ Die „Washington Post“, eines der beiden einflussreichsten US-Blätter, schrieb: „Michail Gorbatschow hat den Friedensnobelpreis auf die alte Art bekommen – indem er bedeutende, konkrete Schritte zum Frieden hin unternahm.“
Doch in die Euphorie mischte bald sich Skepsis. Das Stockholmer „Svenska Dagbladet“ kommentierte: „Diesem Mann den Friedensnobelpreis zu geben und ihm damit eine Art moralische Legitimation für seine Taten und seine Haltung zu verleihen ist kurzsichtig. Die Zukunft kann uns zu der Feststellung zwingen, dass es tragisch war.“ Und „La Repubblica“ aus Rom warnte: „Die sowjetische Bevölkerung empfindet es wie eine Provokation, als ob das norwegische Nobel-Komitee Gorbatschow ungeachtet der Leiden der sowjetischen Verbraucher ehren wollte, für die ihn der Mann auf der Straße verantwortlich macht.“
Die Skepsis kam rasch auch im gerade mit Gorbatschows Hilfe wiedervereinigten Deutschland an. Nicht nur in WELT AM SONNTAG, sondern auch beispielsweise im „Spiegel“. Herausgeber Rudolf Augstein kommentierte am 22. Oktober 1990: „Der Friedensnobelpreis, der vom norwegischen Komitee in Oslo verliehen wird, hatte schon häufig die Funktion, den Geehrten demonstrativ in einer für ihn gefährlichen Lage zu unterstützen, ihn durch die Auszeichnung gewissermaßen unantastbar zu machen.“
In der „New York Times“ schrieb Bill Keller, der Leiter des Büros Moskau: „Der Sowjetführer wird überall als Held verehrt – außer in seinem eigenen Land.“ Die Reaktion auf die Preisverleihung seit „ambivalent, indifferent, bitter“.
Die innenpolitischen Schwierigkeiten verhinderten, dass Gorbatschow wie geplant selbst am 10. Dezember 1990 nach Oslo kam, um die Auszeichnung entgegenzunehmen. Stattdessen reiste mit dem ersten stellvertretenden Außenminister der Sowjetunion Anatoli Kowaljow ein zwar ranghoher Diplomat an, aber eben kein persönlicher Abgesandter.
Verleihungen in Abwesenheit hatte es schon vorher gegeben. Doch zum Beispiel der polnische Bürgerrechtler Lech Walesa hatte 1983 seine Frau und den gemeinsamen Sohn geschickt. Nun allerdings musste zum ersten Mal ein amtierendes Staatsoberhaupt auf die Reise in Norwegens Hauptstadt verzichten, weil seine Abwesenheit daheim zum Sturz des Preisträgers hätte führen können.
Mit solchen Problemen hatte das Nobelpreis-Komitee gerechnet: „Wir hoffen, dass der Preis ihn bei seiner weiteren Arbeit zur Schaffung einer neuen Weltordnung stärken wird“, hatte die Vorsitzende Gidske Anderson vorausschauend gesagt.
Nicht erwartet hatte das Gremium in Oslo hingegen die Verschärfung, die nur einen Monat später folgte. Im Januar 1991 nämlich unterstützte der frisch gebackene, wenn auch in Abwesenheit geehrte Friedensnobelpreisträger einen Putschversuch Moskau-treuer sowjetischer Militärs gegen die seit zehn Monaten von Litauen beanspruchte Unabhängigkeit des baltischen Landes.
Bei Kämpfen in Vilnius kamen am „Blutsonntag“, dem 13. Januar, 14 Zivilisten ums Leben; sowjetische Spezialkräfte gingen rücksichtslos vor. Erst als die USA vertraulich die dringende Aufforderung an Moskau schickten, jede weitere Eskalation zu unterlassen, entzog Gorbatschow den Putschisten seine Unterstützung. Das war keine neue Friedens-, sondern klassische Machtpolitik.
Musste Gorbatschow so gegen die Prinzipien der Auszeichnung handeln, mit dem er gerade erst geehrt worden war? Das ist schwer zu entscheiden. Hätte er sich anders verhalten, wäre es vielleicht schon im Januar auch in Moskau zu dem Putsch gekommen, der dann im August 1991 erfolgte. Fest steht jedenfalls, dass die Leistung des Friedensnobelpreisträgers Michail Sergejewitsch Gorbatschow damals und bis heute umstritten ist.
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