1 Einleitung

Michail Gorbatschow war zuletzt ein Herr ohne Land und ohne politische Unterstützung, der Präsident einer Union, die sich aufgelöst hatte. Eine tragische Figur, der das außerordentliche Verdienst zugekommen war, das Land nach außen zu öffnen und im Inneren erste Schritte in Richtung Demokratie zu tun (Mommsen 2009, S. 169).

Im 20. Jahrhundert hat wohl kein politisches Staatsoberhaupt weltweit so polarisiert wie Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Dies wird auch an der Äußerung von Mommsen deutlich: Das ehemalige sowjetische Staatsoberhaupt erfreut sich bis heute in weiten Teilen der westlichen Welt großer Beliebtheit und genießt Anerkennung für seine Lebensleistung. In seinem Heimatland Russland hingegen wird der Staatsmann aber verdammt und geradezu verteufelt. Aber selbst wenn man sich dieser Einteilung nicht anschließen möchte, gibt es wohl kaum jemanden, der keine Meinung zum Leben und besonders zum Wirken von Michail Gorbatschow besitzt.

Die Autoren versuchen daher zu analysieren, wie ein Staatsmann in unterschiedlichen Regionen der Welt so konträre Emotionen und politische Meinungen auslösen kann. Der Westen verdankt dem ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) eine zuvor nie da gewesene progressive Öffnungs- und Entspannungspolitik, die in der Überwindung des Eisernen Vorhangs mündete und zur sowjetischen Zustimmung zur Deutschen Einheit führte. Der Aufsatz versucht herauszuarbeiten, warum speziell Michail Gorbatschow zu diesen enormen, zuvor nie da gewesenen innen- und außenpolitischen Kraftanstrengungen in der Lage war. Welche Charaktereigenschaften unterscheiden Gorbatschow möglicherweise grundlegend von anderen sowjetischen Machthabern und inwieweit haben diese unterschiedlichen Eigenschaften Gorbatschows einen tiefer gehenden Wandel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgelöst? Die Autoren befassen sich mit diesen Fragen und analysieren abschließend den Einfluss der Persönlichkeit Gorbatschows auf die Deutsche Einheit im Jahr 1990.

Mit dem Niedergang der Sowjetunion veränderte sich auch die Weltordnung in den 1990er-Jahren nachhaltig: Die USA stiegen zur unangefochtenen globalen Supermacht auf, während Russland unter Gorbatschow und seinem Nachfolger Boris Jelzin zunächst deutlich an internationalem Prestige und Ansehen verlor – gut 40 Jahre des Kalten Krieges und des Gleichgewichts zwischen USA und Sowjetunion waren schlagartig vorbei. Schon allein aufgrund dieser Entwicklungen hin zu einer unipolaren Weltordnung ist das Fallbeispiel der Deutschen Einheit aufgrund seiner herausragenden Bedeutung ausgewählt worden. Ein Großteil der russischen Bevölkerung macht bis heute eine einzige Person für den Niedergang der Weltmacht Sowjetunion verantwortlich: Michail Gorbatschow. Besonders offensichtlich wurde diese tief empfundene Ablehnung der russischen Gesellschaft bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1996: Gorbatschow trat an und schied mit 0,51 % (vgl. Schneider 1999, S. 62) im ersten Wahlgang aus. Doch welche großartigen anderen Handlungsoptionen hatte das ehemalige Staatsoberhaupt der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), um den drohenden wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Sowjetunion abzuwenden und die dynamischen Prozesse um die deutsche Wiedervereinigung aufzuhalten? Auch diesem Fragenkomplex werden die Autoren nachgehen.

Der Aufsatz konzentriert sich zunächst auf den Charakter und die Persönlichkeitsentwicklung Gorbatschows. Ein erster Analyseschwerpunkt liegt auf seiner Sozialisation während der Kindheit und Jugend. Anschließend beleuchten die Autoren den Beginn seiner politischen Karriere und verknüpfen die prägnantesten Charaktermerkmale mit den wichtigsten Etappen seines Werdegangs bis hin zu seiner Berufung ins Moskauer Politbüro. Hier wird der Weg Gorbatschows vom einfachen Mitglied der KPdSU bis an die Spitze der Sowjetunion dargestellt. Nachfolgend wird untersucht, welche speziellen, unverkennbaren und individuellen Charaktereigenschaften ihn als Staatsoberhaupt der Sowjetunion im Vergleich zu seinen Vorgängern kennzeichnen. Beginnend mit der Analyse seiner zwei maßgeblichen Reformanstrengungen Glasnost und Perestroika, soll eine Verbindung von seiner Person und den innenpolitischen Veränderungen der Sowjetunion hin zum Fallbeispiel „Deutsche Einheit“ hergestellt werden. Hier steht nicht die Chronologie der Ereignisse im Vordergrund, sondern der Einfluss des sowjetischen Staatsoberhauptes auf den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und die deutsche Wiedervereinigung im darauffolgenden Jahr. Im Hinblick auf die vorzunehmende Analyse der Persönlichkeit Gorbatschows endet dieser Teil des Aufsatzes mit dem 10. Februar 1990, da Gorbatschow an diesem Tag seine finale Zustimmung zur Deutschen Einheit gab. Die Untersuchung legt den Schwerpunkt auf die Frage, inwieweit die herauszuarbeitenden spezifischen Persönlichkeitseigenschaften Gorbatschows den Prozess der Wiedervereinigung unterstützt haben. Dazu untersuchen die Autoren zunächst die relevanten strategischen (außen-)politischen Entscheidungen Gorbatschows und schaffen somit den Rahmen für die nachfolgende Analyse. Welche (anderen) Optionen hätte Gorbatschow noch besessen, aufgrund welcher Persönlichkeitsmerkmale entschied sich Gorbatschow für diesen Weg und wäre die Deutsche Einheit mit einer anderen Person an der Spitze der Sowjetunion heute Realität? Die Autoren möchten darlegen, dass zwar die Handlungsoptionen eines sowjetischen Staatsoberhauptes durch die staatlichen Strukturen qua Amt mehrheitlich vorgegeben und limitiert waren, jedoch die immensen Einflüsse Gorbatschows politischer Entscheidungen auf die geopolitischen Strukturen in Europa bis heute sichtbar sind und diese nicht zuletzt unter Bezug auf seine spezifischen Persönlichkeitsmerkmale erklärt werden können.

2 Persönlichkeit

Im Gegensatz zu seinen politischen Vorgängern im Amt des sowjetischen Staatsoberhauptes war Michail Sergejewitsch Gorbatschow ein Kind des sowjetischen Systems (vgl. Brown 2000, S. 59). Seine Generation brachte einige Politiker hervor, deren politische Sozialisation erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und deren Ziel es war, das Sowjetsystem zu reformieren und zu modernisieren. Der Ursprung bzw. die Motivation dieser Bemühungen waren die persönlichen Erfahrungen und Entwicklungen dieser Generation sowie innere und äußere Faktoren wie der Ost-West-Konflikt und die wirtschaftliche Stagnation (vgl. Geiss et al. 1995, S. 60). Die Persönlichkeit Gorbatschows, die maßgeblich durch seine Sozialisation während der Kindheit und Jugend beeinflusst wurde, spielt dabei eine entscheidende Rolle.

2.1 Kindheit und Jugend

Michail Gorbatschow wurde am 2. März 1931 als erster Sohn einer Bauernfamilie in Priwolnoje, einem Dorf bei Stawropol im Nordkaukasus, rund 1400 km südlich von Moskau, geboren. Es war die Zeit von Stalins brutaler Kollektivierung der Landwirtschaft, die zu Hungersnöten und in der Folge zu sozialen Spannungen führte (vgl. Murarka 1987, S. 57 f.). Gorbatschow entstammt einer Kosaken-Familie, einer Gruppe von Menschen, die als tatkräftig gilt. Eine Eigenschaft, die auch Gorbatschow bereits in jungen Jahren auszeichnete (vgl. Sheehy 1992, S. 41). Sein Vater, Sergei Andrejewitch Gorbatschow, war ein zuverlässiger, wortkarger Mann, der eine Begabung für technische Dinge besaß, ansonsten aber eher mit einer langsamen Auffassungsgabe beschrieben wird. Die aber wohl wichtigste Person in Gorbatschows Leben war sein Großvater mütterlicherseits, Pantalej Jefimowitsch, der Patriarch der Familie. Michail verbrachte in seiner Kindheit sehr viel Zeit mit seinem Großvater, der Vorsitzender der örtlichen Kolchose und somit erster Mann im Dorf war. Die zweitwichtigste Person war seine Mutter, Marija Pantelejewna Gopkalo, die als eigensinnig und dickköpfig galt. Sie war immer die Erste, die bei Versammlungen im Dorf sprach und niemand konnte sie davon abhalten, ihre Meinung zu äußern. Großmutter Gopkalo stand Gorbatschow zwar sehr nahe, hatte aber höchstens indirekten Einfluss auf seine Entwicklung. Sie war eine fromme, russisch-orthodoxe Christin und trug mit dazu bei, dass in der Erziehung auch die fundamentalen christlichen Werte vermittelt wurden. Auch wenn Gorbatschow später sagte, dass er kein Bedürfnis verspüre, christlich zu leben, ist es jedoch eine bedeutsame Tatsache, dass er nicht nur mit kommunistischen Dogmen aufgewachsen ist, sondern auch von den Wertvorstellungen der Landbevölkerung und durch christliche Werte geprägt wurde (vgl. ebd., S. 45 ff.). Besonders sein Großvater mütterlicherseits und seine Mutter haben mit ihren Funktionen in der Dorfgemeinschaft und ihren Persönlichkeiten Einfluss auf die Entwicklung Gorbatschows gehabt.

Gorbatschows Kindheit wurde auch von zwei unglücklichen Begebenheiten überschattet: Prägend war die Verhaftung seiner beiden Großväter. Beide wurden im Rahmen von Stalins Gewaltkampagne unter fingierten Anklagen inhaftiert. Für Gorbatschow bedeutete dies, dass er ab nun in der Familie eines Volksfeindes lebte, eine Tatsache, die seinen Zugang zur Universität und den späteren Aufstieg in der Partei hätte verhindern können. Eine Partei-Karriere hätte auch speziell dadurch verhindert werden können, dass die Region Stawropol während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Truppen besetzt war und den dort lebenden Menschen Kollaboration mit den Deutschen unterstellt wurde. Unter Stalin und seiner Spionage-Hysterie wäre seine politische Karriere, trotz Gorbatschows jungen Alters, dadurch bereits beendet gewesen. Besonders die zweite Verhaftung innerhalb der Familie war für Gorbatschow besonders traumatisierend. Er war alt genug, um sich bewusst an die Festnahme und auch an die damit verbundene Angst vor weiteren Verhaftungen und Ausgrenzungen der Dorfgemeinschaft zu erinnern. Seine beachtliche Arbeitsleistung auf dem Feld, zusammen mit seinem Vater und zwei weiteren Dorfbewohnern, war der Ausdruck des Versuchs, jeden politischen Zweifel auszuräumen (vgl. Brown 2000, S. 59 f.).

Gorbatschows Kindheit fiel in einige der härtesten Jahre der sowjetischen Geschichte (vgl. ebd., S. 60). Zunächst durchlebte er die Zerstörung der Landwirtschaft und die Ungerechtigkeit des Staates gegenüber den Bauern, dann die Besatzung durch deutsche Truppen und nach dem Zweiten Weltkrieg die Zersplitterung des gesamten dörflichen Lebens (vgl. Sheehy 1992, S. 48). Für Gorbatschow waren der Krieg und die damit verbundenen Ereignisse in Stawropol eine prägende Lebenserfahrung. Die Kriegsromantik der Soldaten und die Propaganda konnten ihn nicht beeindrucken, da er wusste, wie sehr die Zivilbevölkerung unter dem Krieg darbte (vgl. Murarka 1987, S. 64). Auch lernte er durch seine Familie schon früh mit Schande und Verrat umzugehen, für seine Überzeugungen einzustehen, sowie die Relevanz von Kompromissbereitschaft. Alle genannten Erlebnisse sollten ihm später dabei helfen, sich mit den Machthabern und im kommunistischen System zu arrangieren. Die eigenen Überzeugungen und die Kompromissbereitschaft spiegeln sich auch in den späteren Handlungsgrundlagen Gorbatschows wider (vgl. Sheehy 1992, S. 58). So sind seine Worte und Taten oft widersprüchlich, wie Sheehy (ebd., S. 59) schreibt:

Während sich seine Lebensgeschichte vor uns entfaltet, werden wir sehen, daß sie [Überzeugung und Kompromissbereitschaft] Gorbatschow zwangen, ein gewagtes Manöver auf dem Drahtseil zu lernen: in die eine Richtung loszugehen und dann – während sich noch ein jeder mit angehaltenem Atem fragt, ob man wohl heil auf der anderen Seite ankommen wird – mitten auf dem Seil umzudrehen und sich wieder in die andere Richtung zu bewegen. Es ist dies ein Stil geistiger Akrobatik, der dem Sowjetmenschen allgemein zu eigen ist […].

Michail Gorbatschow erlebte die Besatzungszeit aufgrund seines Alters – er war zehn Jahre – als Opfer und nicht als Soldat. Das unterscheidet ihn von sämtlichen früheren sowjetischen Staatschefs und der gesamten kommunistischen Führungsspitze Osteuropas, die vor ihrer politischen Karriere im Krieg gedient hatten. Aufgrund der Tatsache, dass alle gesunden erwachsenen Männer zum Militärdienst berufen wurden, hatte Gorbatschow in seiner frühen Jugend eine vaterlose Zeit, die seinen Charakter nachhaltig prägte. Er musste die Rolle und die Verantwortung eines Erwachsenen übernehmen und an den Entscheidungen im Dorf mitwirken. Diese Erfahrungen halfen ihm dabei, eine immense Selbstsicherheit zu entwickeln (vgl. ebd., S. 61 ff.).

Gorbatschow hatte das in der damaligen Zeit seltene Glück, dass seine Eltern Wert auf Bildung legten. So erkundigte sich seine Mutter regelmäßig nach den Fortschritten ihres Sohnes und sein Vater gab von der Front aus die Anweisung an seine Frau, dass Michail auf eine weiterführende Schule gehen solle. Generell gingen russische Kinder erst mit sieben Jahren in die Schule und hatten, wenn sie eine weiterführende Schule besuchen konnten, eine Schulbildung von maximal zehn Jahren. Auch das Leistungsniveau der Dorfschulen war im Vergleich zu denen der russischen Städte signifikant niedriger. An der weiterführenden Schule spielte Gorbatschow bald eine aktive Rolle: Er wurde zum Klassensprecher gewählt, war sehr kommunikativ und interessiert. Weil der Eintritt in die kommunistische Partei der einzige Weg war, seinen Traum eines Studiums und einer Laufbahn als Politiker zu verwirklichen, wurde er mit 14 Jahren in der landesweiten Jugendorganisation der Partei, dem Komsomol, Mitglied und begegnete ihr mit bedingungsloser Loyalität. Seine Schulbildung schloss er mit der Silbermedaille ab und unterschied sich darüber hinaus nicht grundlegend von der Masse der Schülerinnen und Schüler (vgl. ebd., S. 65 ff.). Neben seiner schulischen Ausbildung arbeitete Gorbatschow zusammen mit seinem Vater und zwei anderen Dorfbewohnern in der Landwirtschaft. Sie arbeiteten extrem hart und viel, was ihm die wichtige, seltene und besondere Auszeichnung einbrachte, die ihn aus der Masse heraushob und ihm die Möglichkeit eröffnete, sich als Bauernjunge aus Südrussland an der Moskauer Universität zu bewerben: den Orden des Roten Arbeiterbanners.Footnote 1 Dieser zeichnete ihn als einen beispielhaften Arbeiter aus. Eine Verleihung des Ordens im Alter von 17 Jahren war äußerst ungewöhnlich (vgl. Brown 2000, S. 62 f.). Zusammen mit Gorbatschows Talent, den richtigen Personen zu gefallen und der daraus resultierenden Säuberung seiner biografischen Angaben,Footnote 2 wurde seine Bewerbung für die renommierteste Hochschule Russlands in Moskau angenommen (vgl. Sheehy 1992, S. 70 f.).

Es war Gorbatschows eigener Entschluss, sich an der Universität zu bewerben. Der Erfolg ist auf seine persönlichen Fähigkeiten zurückzuführen, nicht auf familiäre Hintergründe oder gute Kontakte (vgl. Brown 2000, S. 63). Mit gerade einmal 18 Jahren hatte Michail Sergejewitsch bereits ein sehr starkes Selbstvertrauen, das auf dem Wissen beruhte, sich sein Glück selbst geschaffen zu haben. Seine psychische Stärke beeindruckte seine Mitmenschen und ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass er in einem System groß wurde, in dem nahezu kein Individuum in der Lage war, seinen Lebensweg selbst zu gestalten. Auch seine charismatischen Fähigkeiten traten in dieser Zeit bereits deutlich hervor, wenn er andere Menschen und Autoritätspersonen von seinen Ansichten überzeugte. Gorbatschow war von seinen Grundfesten und von seinen Wurzeln her ein Realist, der trotzdem idealistische Anschauungen vertrat. Seine durch Sozialisation bedingte Weltoffenheit trug dazu bei, dass er sich den Entwicklungen des Auslands gegenüber nicht versperrte, sondern offen, aber kritisch den Veränderungen gegenüber war (vgl. Sheehy 1992, S. 71 f.).

2.2 Universität und politische Anfänge

Im August 1950 reiste der 19-jährige Gorbatschow von Stawropol in das mehrere Tagesreisen entfernte Moskau, wo sich ihm eine kleine internationale Welt in der sonst so geschlossenen sowjetischen Gesellschaft auftat. Er hatte erstmals Kontakt zu ausländischen Studenten, von denen einige seine engeren Freunde wurden und mit denen er über Fragen des Sozialismus und des Kommunismus diskutieren konnte (vgl. Dalos 2011, S. 29 f.). Michail Sergejewitschs Jahre an der juristischen Fakultät waren auch für seine intellektuelle Entwicklung von großer Bedeutung: Keiner seiner späteren Kollegen in Breschnews Politbüro hatte fünf volle Jahre an einer Universität studiert, wodurch Gorbatschow ihnen gegenüber einen Vorteil hatte. Zugleich hatte er aber auch mit einem gewissen Maß an Misstrauen zu kämpfen, das ihm entgegengebracht wurde, weil er in der Lage war, unabhängig politisch zu denken (vgl. Brown 2000, S. 64 f.).

Während seiner Zeit an der Universität lernte er 1951 die Philosophiestudentin Raissa Maximowna TitarenkoFootnote 3 kennen, die er im Spätsommer 1953 heiratete (vgl. Dalos 2011, S. 31). Das Verhältnis zwischen den beiden war auf intellektueller und emotionaler Ebene sehr eng und wurde aufgrund ihrer gemeinsamen Wahrnehmung der Differenz zwischen marxistisch-leninistischer Theorie und der Wirklichkeit noch einmal verstärkt. Sie war eine belesene Frau und bereitete sich später stets intensiv auf Auslandsreisen vor, indem sie zum Beispiel Bücher und Filme über das jeweilige Land studierte (vgl. Brown 2000, S. 71 f.).

Michail Gorbatschow trat 1952 der KPdSU bei und verfolgte die Parteilinie klar, unterstützte aber nie die Diskriminierung verschiedener Gruppierungen. Das politisch prägendste Ereignis während seiner Studienzeit war der Tod Stalins am 5. März 1953 (vgl. ebd., S. 65 ff.). Nach Stalins Tod breitete sich in Moskau eine wachsende Offenheit aus und es begann die Wiederbelebung des kulturellen Lebens, in das Gorbatschow von seiner Frau eingeführt wurde. Diese neue Offenheit in Moskau, gepaart mit der Ausbildung und den neuen Menschen, die er kennenlernte, hatten großen Einfluss auf die weitere Entwicklung Gorbatschows (vgl. ebd., S. 74 f.). Zwei Jahre später schloss Michail sein Studium mit Auszeichnung ab. Innerhalb dieser fünf Jahre an der Universität hatte er den Vorsprung seiner Kommilitonen aus Akademikerfamilien vollständig aufgeholt. Im Laufe des Studiums entwickelte er außerdem eine gewisse Autorität, derer er sich auch bewusst war und die er zu nutzen wusste.Footnote 4 Auch wurde klar, dass er sich zwar als Marxist und Leninist sah, die eigenen Erfahrungen der Theorie jedoch vorzog (vgl. Brown 2000, S. 65 ff.).

Nach seinem Jurastudium wurde Gorbatschow der Staatsanwaltschaft der Region Stawropol zugewiesen (vgl. Gorbatschow 1995, S. 82). Die Zuweisung erhielt er wohl auch aufgrund von Verbindungen zum Stawropoler Komsomol aus Kindheitszeiten. Seine Frau Raissa verzichtete daraufhin auf ihre Promotion und Forschungsarbeit in Moskau und zog mit Michail nach Stawropol, wo sie die nächsten 23 Jahre lebten. Dort angekommen, wechselte Gorbatschow relativ zügig in die städtische Organisation des Komsomol, die ihm aufgrund seiner guten Auffassungsgabe, seines Wissens über das Dorf und die Region sowie seines überdurchschnittlichen rhetorischen Talents angeboten wurde. In der darauffolgenden Zeit durchlief er die „parteiamtliche Ochsentour“ und stieg in der Parteiorganisation kontinuierlich auf. Seine Frau beendete in dieser Zeit ihre Dissertation und ging einer Lehrtätigkeit nach (vgl. Dalos 2011, S. 35 f.). Bereits von Beginn an zeigte sich, dass Gorbatschow kein für die Sowjetunion typischer „Schreibtischpolitiker“ war, sondern oft auf Reisen ging, sich unters Volk mischte und mit Bürgern sprach, um Eindrücke aus dem alltäglichen Leben zu gewinnen. Diese Verhaltensweise, welche er während seiner Zeit in Stawropol und danach auch auf nationaler Ebene kontinuierlich weiterverfolgte und später noch ausbaute (vgl. Murarka 1987, S. 84), verhalf ihm zu engen Kontakten, durch die er die Möglichkeit bekam, bereits 1961 den Posten des Ersten Sekretärs des Regionskomitees des Komsomol zu übernehmen, was ihn wiederum der regionalen politischen Elite näher brachte (vgl. Gorbatschow 1995, S. 96). Nur ein Jahr später wechselte Gorbatschow zur hauptamtlichen Parteiarbeit und nahm in den darauf folgenden Jahren verschiedene Posten in der territorialen Verwaltung und der Landwirtschaft wahr (vgl. ebd., S. 105 ff.).

Am 10. April 1970 wurde Gorbatschow, gerade einmal 39 Jahre alt, zum Ersten Sekretär von Stawropol gewählt und im folgenden Jahr zum Mitglied des Zentralkomitees, was ihn in Regierungskreise beförderte. Als Erster Sekretär im sowjetischen System verfügte er über große Macht und beeinflusste so entscheidend die Vorgänge der Region Stawropol. Die Sekretäre waren eine wichtige Stütze des Regimes und ihre Macht stand in direkter Verbindung zur Größe und zum Wohlstand des jeweiligen Gebiets. Michail Gorbatschow sammelte in den acht Jahren, die er Erster Sekretär von Stawropol war, grundlegende Erfahrungen, die seiner Karriere zugutekamen, und bildete ein politisches Verantwortungsgefühl aus. Er verfolgte seinen eigenen Kurs, ging Kompromisse ein, wenn es nötig war, und zeigte Initiativgeist und beachtliche Führungsqualitäten – vor allem im Bereich der Landwirtschaft (vgl. Murarka 1987, S. 82 f.). Dieser Einfluss auf Stadt und Region wird besonders deutlich, wenn man die positiven Entwicklungen der Wirtschaft, der Landwirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens genauer betrachtet (vgl. Dalos 2011, S. 42).Footnote 5

Aufgrund seiner großen Erfolge als Erster Sekretär von Stawropol sowie seiner Charaktereigenschaften wie Überzeugungskraft und Selbstsicherheit, Kommunikationsfähigkeit und Charisma, Tatkräftigkeit und ausgeprägter Auffassungsgabe wurde Michail Gorbatschow, bei einem Plenum am 27. November 1978 in Moskau, zum Zentralkomitee (ZK)-Sekretär der Landwirtschaft gewählt (vgl. Murarka 1987, S. 109).

2.3 Aufstieg in die sowjetische Führungsspitze

Nach seiner Ernennung zum ZK-Sekretär zog Gorbatschow nach Moskau, wo ihm nach seiner Ankunft die Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten, jetzt vom Zentrum der Macht aus gesehen, verstärkt bewusst wurden (vgl. ebd., S. 114 ff.). Bevor Gorbatschow jedoch grundlegende Veränderungen und Reformen in der Sowjetunion umsetzen konnte, musste er zunächst zur Spitze des Systems aufsteigen (vgl. Brown 2000, S. 57). Dabei half ihm der Personenwechsel im Zentralkomitee, der mit dem den Tod Breschnews im Jahr 1982 begann. Von einem Teil des Parteikaders wurde Gorbatschow als zu jung und als zu unerfahren angesehen, während viele andere in ihm den ersehnten und notwendigen Kurs- und Generationenwechsel sahen (vgl. Zuber 2011, S. 32 f.). Geiss et al. (1995, S. 64) schreiben: „Die schweren Krankheiten von Gorbatschows Amtsvorgängern symbolisierten Stagnation und Immobilismus.“ So starben Gorbatschows Vorgänger Andropow und Tschernenko jeweils ein beziehungsweise zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt (vgl. ebd., S. 64). Nach dem Tod Konstantin Tschernenkos wurde Gorbatschow – am 11. März 1985 – zum Regierungschef der Sowjetunion gewählt.Footnote 6 Bei seinem Regierungsantritt hatte er schwerwiegende Probleme zu lösen. Man erwartete von ihm einen Neuanfang und eine Reformierung des gesamten sowjetischen Systems. Über den Umfang und die Art und Weise dieser Veränderung bestand allerdings Uneinigkeit (vgl. Zuber 2011, S. 33 f.).

Die politischen und ökonomischen Veränderungen, die von Gorbatschow in der Zeit nach 1987 ausgingen, sind weitreichender als in den ersten zwei Jahren seiner Zeit als Generalsekretär (vgl. Mandel 1989, S. 83). Erklärt werden kann dies anhand der Begriffe Macht, Lernen und Druck. Gorbatschow entwickelte sich in den ersten zwei Jahren als Staatsoberhaupt. Da er durch seine neue Position mehr Macht besaß, war er in der Lage, verstärkt umfassendere Reformen umzusetzen, auch gegen den Willen anderer. Durch seine bemerkenswerte Fähigkeit, sich anzupassen und neue Dinge zu lernen entwickelten sich seine Reformvorstellungen auch nach der Machtübernahme weiter. Der letzte Aspekt ist der Druck, der sich durch das Auftreten der lange unterdrückten Forderungen und Missstände aufbaute, und dem gegenüber Gorbatschow keine andere Möglichkeit hatte, als sich anzupassen und sich dem Wandel zu öffnen (vgl. Brown 2000, S. 40 ff.).

Neben dem Zusammenspiel dieser drei Faktoren war es auch von Bedeutung, dass Gorbatschow Reformen befürwortete. Er durchlief einen Lernprozess in seiner Rolle als Generalsekretär. Seine politischen Ideen und Wertevorstellungen änderten sich durch seine erweiterten Kenntnisse der internationalen Strukturen. Gorbatschow war ein Mensch, der seinen eigenen Erfahrungen eine größere Bedeutung zusprach als den traditionellen Dogmen des Marxismus-Leninismus. So vertrat er in den späten 1980er Jahren oft grundsätzlich andere Positionen als die, die er einige Jahre zuvor noch unterstützte (vgl. ebd.). Dies zeigt, dass er offen für neue Erkenntnisse und lernfähig war.

Zu Beginn seiner Amtszeit 1985 hatte Gorbatschow noch kein klares Reformkonzept, sondern die Vorstellung eines effektiven und demokratischen Sozialismus. Erst beim Plenum des ZK am 27. Januar 1987Footnote 7 skizzierte er seine Reformlinie genauer, und zwar in Form von Glasnost (Offenheit, Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) (vgl. Geiss et al. 1995, S. 65).

3 Perestroika und Glasnost

Als Gorbatschow am 11. März 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde, befand sich die Sowjetunion und mit ihr der gesamte Ost-Block in einer schwerwiegenden und existenzbedrohenden wirtschaftlichen Krise. Die Wirtschaft der Sowjetunion krankte, da knappe Ressourcen oftmals verschwendet wurden, die Arbeiterschaft größtenteils demotiviert war, der Bürokratismus die Produktionsabläufe lähmte und generell im kommunistischen Land ein innovationsfeindliches Klima herrschte (vgl. ebd., S. 61). Maßgeblich mitverantwortlich für diesen beispiellosen wirtschaftlichen Absturz einer Supermacht war Leonid Breschnew. Dieser hatte in seiner Amtszeit die Wirtschaft der Sowjetunion stagnieren und beinahe kollabieren lassen. Doch war vom sowjetischen Niedergang nicht nur die Wirtschaft betroffen, sondern auch viele andere Bereiche des Staates: Auf politischer Ebene steckte das System in einer Krise, da Wirklichkeit und Ideologie weit auseinander lagen. Auch die Legitimationsquellen und RechtfertigungsmusterFootnote 8 der Sowjetunion waren am Ende. Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse erkannten die Gesellschaftskrise, die sich immer stärker abzeichnete, frühzeitig vor ihrem Amtsantritt und waren zum Zeitpunkt des Machtantritts entschlossen zu handeln (vgl. Geiss et al. 1995, S. 60):

Der neue Generalsekretär nahm und nimmt die Welt so wahr, wie sie ist, und nicht so, wie sie nach herkömmlichen sowjetischen Vorstellungen sein sollte. Anders ausgedrückt: Das Prisma, durch das Michail Gorbatschow und seine Mitreformer die politische und ökonomische Umgebung wahrnehmen, ist nicht oder doch in sehr viel geringerem Maße das der Ideologie, der Machterhaltung, der Weltbeglückung. Gorbatschows Wahrnehmungsweise zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß sie – bis auf dasjenige des Pragmatismus – weitgehend ohne Prisma auskommt. Tatsachen werden als Tatsachen gesehen und anerkannt (Bomsdorf und Adomeit 1990, S. 262).

Mit seiner zentralen Reformanstrengungen, der Perestroika, aber auch der Glasnost, versuchte Gorbatschow eine geistig-moralische Wende im Land einzuleiten und somit den sowjetischen Staat in all seinen essenziellen Politikfeldern umzugestalten (vgl. Seiffert 1989, S. 35). Durch die Glasnost leitete Gorbatschow eine entscheidende Lockerung der Haltung zu elementaren Grundrechten wie der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit ein. Zuvor verbotene Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Filme konnten nun nahezu ungehindert erscheinen und wurden schnell zu zentralen Elementen von Gorbatschows Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft (vgl. Mandel 1989, S. 102 f.). Gleichsam verzichtete die Staatsspitze ab 1986 nahezu auf die von Propaganda geprägte Erzählung der sowjetischen Vergangenheit – zu schnell enttarnte nun die aktivierte Öffentlichkeit der Sowjetunion diese Konstruktion (vgl. Geiss et al. 1995, S. 67).

Bomsdorf und Adomeit weisen aber darauf hin, dass diese neue Denkweise der sowjetischen Führung bei weitem keine alleinige Entscheidung der Staatsspitze war, sondern durch einen gesellschaftlichen Prozess entstanden sei, der sich über Jahre in den russischen Eliten durchgesetzt habe (vgl. Bomsdorf und Adomeit 1990, S. 261). Zentral für die Perestroika ist ein grundlegend verändertes Menschenbild:

Wir sind zu einem wichtigen Schluß gelangt: Wenn wir den Faktor Mensch nicht aktivieren, das heißt, wenn wir die mannigfaltigen Interessen des Menschen, der Arbeitskollektive, der öffentliche Organe und der diversen sozialen Gruppen nicht berücksichtigen, und wir nicht auf die Menschen bauen und sie zur aktiven, konstruktiven Mitarbeit bewegen, dann wird es uns niemals gelingen, auch nur eine der gestellten Aufgaben zu erfüllen, geschweige denn die Situation im Land zu verändern (Gorbatschow 1987, S. 32).

Gleichermaßen ruft die Perestroika das Individuum gezielt dazu auf, sich am Umbau der Sowjetunion zu beteiligen und betont den Wert der sozialen Verantwortung für jeden Einzelnen (vgl. ebd., S. 35). Parallel zu den Neuerungen innerhalb der Sowjetunion veränderte sich auch auf internationaler Ebene sukzessive das diplomatische Klima zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und anderen Ländern. Besonders merklich wandelte sich Mitte der 80er-Jahre der einst so feindselige Ton des Kalten Krieges; vor allem die Rhetorik aus Moskau wurde milder, versöhnlicher und deutlich kooperativer. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte auch hier die Perestroika. In seinem gleichnamigen Werk schreibt Gorbatschow (1987, S. 202):

Die sowjetische Führung ist bestrebt, in außenpolitischen Angelegenheiten einen neuen Weg zu gehen. In diesem Zusammenhang muß ich in erster Linie vom Dialog sprechen. Ohne ihn läßt sich kaum daran denken, gegenseitiges Verständnis zu erzielen.

Ein aussagekräftiges Beispiel für diese neue Denkweise in der sowjetischen Außenpolitik ist der Entwurf des neuen KPdSU-Parteiprogramms aus dem Jahr 1986: In dem Dokument betont die Sowjetunion die Möglichkeit der friedlichen Koexistenz von Staaten und geht selbst auf Abstand zum atomaren Hoch- und Wettrüsten der 70er-Jahre:

Da das Wettrüsten riesige Ressourcen von anderen, vordringlichen Projekten abzieht, wird dadurch der Grad der Sicherheit herabgesetzt und beeinträchtigt. Das Wettrüsten als solches ist ein Feind des Friedens. Der einzige Weg zur Sicherheit ist der der politischen Entscheidungen und der Abrüstung. Wirkliche und für alle gleiche Sicherheit kann in unserem Zeitalter nur die kontinuierliche Herabsetzung des Niveaus des strategischen Gleichgewichts garantiert werden, aus dem nukleare und andere Massenvernichtungswaffen völlig verbannt werden sollten (Ebd., S. 180).

Auch ist an keiner Stelle des KPdSU-Dokuments von einem überambitionierten Ein- oder Überholen der USA die Rede (vgl. Altrichter 2009, S. 319 ff.). Entscheidend für diesen Wandel war die neue Weltanschauung der sowjetischen Staatsspitze, die ebenfalls in der Perestroika manifestiert ist, wonach die Fokussierung auf menschliche Werte deshalb alternativlos sei, weil von ihr das bloße Überleben der menschlichen Spezies abhänge (vgl. Gorbatschow 1987, S. 186).

4 Die deutsche Wiedervereinigung

Zunächst hatten die personelle Veränderung an der Spitze der Sowjetunion und die neue Denkweise in der Außenpolitik keinerlei Auswirkungen auf die deutsche Frage. Es entstand in dieser Zeit nicht mal eine diplomatische Diskussion über die deutsche Wiedervereinigung, obwohl sie von allen Beteiligten, auch speziell von Gorbatschow, als die entscheidende Frage der Weltpolitik angesehen wurde (vgl. Kuhn 1993, S. 16). Diese spezifische russische Zurückhaltung bei der Frage der Deutschen Einheit war mitunter darin begründet, dass ein Großteil der russischen Elite und Bevölkerung seit jeher der Auffassung war, dass es sicherheitspolitisch am besten sei, wenn Deutschland auf ewig geteilt bliebe (vgl. Gorbatschow 1995, S. 701). Für Seiffert gibt es dazu noch drei weitere prägnante Gründe, die erklären können, warum weder Gorbatschow noch einzelne westliche Politiker zu diesem Zeitpunkt (vor 1987) an die deutsche Wiedervereinigung gedacht haben dürften. Erstens befand sich Gorbatschow nach seinem Amtsantritt in einer schwierigen innenpolitischen Situation. Die miserable wirtschaftliche Lage der Sowjetunion wurde – wie beschrieben – immer bemerkbarer und innerhalb des Politbüros hatte Gorbatschow seinen Führungsanspruch noch nicht absolut gefestigt. Seifferts zweiter Punkt betrifft den Charakter des damaligen sowjetischen Machthabers. Für ihn ist Gorbatschow ein Mensch, der zwar als erstes Staatsoberhaupt seines Landes bestrebt war, progressive Reformen einzuleiten und umzusetzen, aber dennoch hauptsächlich von kommunistischen Ideologien geleitet war. Eines dieser Dogmen sei es gewesen, die DDR nicht aufzugeben (vgl. Kuhn 1993, S. 15). Ähnlich stark, wie der Grundsatz, die DDR nicht aufgeben zu wollen, war in der sowjetischen Führung die Überzeugung präsent, die Deutschen sich aufgrund der hohen sowjetischen Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg nicht wiedervereinigen zu lassen. Gorbatschow war lange Zeit von dem Gedanken beeinflusst, dass eine, von sowjetischer Seite akzeptierte, Deutsche Einheit ein Verrat an 27 Mio. sowjetischen Kriegstoten sei (vgl. ebd., S. 16). Drittens hatte selbst die deutsche Führung die Wiedervereinigung lange nicht auf ihrer tagespolitischen Agenda. Bonn war der Meinung, dass es zunächst zwischen den beiden globalen Supermächten, den USA und der Sowjetunion, zu einem ernsthaften Entspannungs- und Friedensprozess kommen müsse (vgl. ebd., S. 14 f.).

Der Bundesrepublik war in der Folgezeit viel daran gelegen – auch durch die innenpolitischen Reformanstrengungen Gorbatschows motiviert –, das diplomatische Verhältnis zur Sowjetunion grundlegend zu verbessern. Bundeskanzler Kohl reiste daher im Oktober 1988 zu einem dreitägigen Staatsbesuch nach Moskau. Mit dem Ende des Staatsbesuches am 27. Oktober begann ein neues Kapitel deutsch-sowjetischer Beziehungen. Noch wichtiger für die spätere deutsche Wiedervereinigung war aber die Tatsache, dass beide Regierungschefs ein persönliches Vertrauensverhältnis zueinander aufbauten, welches beide in der Folgezeit sukzessive vertieften. Im Sommer 1989 (12.–15. Juni) erfolgte dann der Gegenbesuch des sowjetischen Staatspräsidenten in Bonn. Dieses Treffen gipfelte in einer gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung.Footnote 9 Kohl beschreibt dieses Ereignis als „wichtigste Begegnung“ zwischen ihm und Gorbatschow, als ein wegweisendes Treffen:

Er [Gorbatschow] war sehr in Fahrt, der Empfang der Deutschen hat ihn sehr bewegt, wie ich schon sagte. Er hat ein Gespür, daß ein wichtiger Augenblick in der Begegnung der Völker da ist, der Kalte Krieg ging zu Ende in irgendeiner Form. Die Amerikaner wollten auch jetzt mit dem neuen Mann zu einem neuen Ufer kommen, das war in vielerlei Beziehungen spürbar. Er war der Hoffnungsträger für viele, viele Menschen. Er hat das nicht nur gespürt, er hat das auch genossen, darüber gibt es keinen Zweifel (Kuhn 1993, S. 32).

Im Laufe dieses Gesprächs in Bonn am Rhein spricht Kohl nicht nur die persönlichen familiären Schicksale im Zweiten Weltkrieg an, die beide erlitten haben, sondern auch das ebenso sensible Thema der deutschen Wiedervereinigung. Gorbatschow schildert seine Eindrücke folgendermaßen:

Wir haben schnell zueinander gefunden – in der Zusammenarbeit, im politischen Zusammenwirken in allen Bereichen. Wir haben sehr fruchtbare Diskussionen geführt. All das hat bewirkt, daß unser neues Treffen auf einer ganz anderen Ebene, in einer absolut anderen Atmosphäre stattgefunden hat, als ich nach Deutschland kam. Alles fügte sich so, daß uns dieses Treffen auf eine andere Ebene bringen sollte – auf die Ebene des Vertrauens. Und das ist der entscheidende Faktor. Ohne das findet keine große Politik statt. Drei Treffen, drei Gespräche mit dem Bundeskanzler unter vier Augen – direkt, ernst, schon vertraulich. […] Deshalb war das Treffen, für das Suchen nach Lösungen als die Geschichte ihren Lauf beschleunigt hat und wir mit diesen Ereignissen konfrontiert wurden, so wichtig. Und das für alle. Und keiner kann behaupten, daß er das gewußt, vorausgesehen, vorhergesagt hat (Ebd., S. 35 f.).

Wesentlich und gewinnbringend für die spätere Einheitsdynamik war eine Entscheidung des Warschauer Paktes am 7. und 8. Juli 1989: In Bukarest nahmen die Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses Abstand von einer der wirkungsmächtigsten Doktrinen des 20. Jahrhunderts, der Breschnew-Doktrin. Diese Doktrin erlaubte den Mitgliedsstaaten über Jahre die Einmischung und militärische Interventionen in die Staaten des Warschauer Paktes – die Abkehr von der Breschnew-Doktrin war ein weiterer bedeutender Erfolg für die Reformbemühungen Michail Gorbatschows (vgl. von Plato 2009, S. 56).

In der DDR war Gorbatschow am 6. und 7. Oktober bei den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen des Landes zu Gast.Footnote 10 Der sowjetische Machthaber führte hier wichtige Gespräche mit Honecker und anderen führenden Persönlichkeiten der DDR. In allen bilateralen Gesprächen versuchte Gorbatschow nachdrücklich, aber ohne Einsatz von politischem Druck, die Machthaber der DDR davon zu überzeugen, endlich grundlegende Reformen einzuleiten und anzustrengen – ohne nachhaltigen Erfolg (vgl. Gorbatschow 1995, S. 711). An Ort und Stelle, und unter dem Eindruck der zahlreichen Protestdemonstrationen, realisierte der sowjetische Machthaber, dass sich die deutsche Wiedervereinigung nun schnell vollziehen könnte und nicht, wie von ihm gewünscht, in Etappen und über Jahre, vielleicht Jahrzehnte (vgl. Kuhn 1993, S. 50). Er war bei seiner Rückkehr nach Moskau zutiefst davon überzeugt, dass die DDR in naher Zukunft vor schwerwiegenden und explosiven Umwandlungen stünde (vgl. ebd., S. 48 f.).

Wenige Wochen später verlor Honecker die Macht in der DDR – er wurde durch Egon Krenz ersetzt, der die Geschicke der DDR für nur gut sieben Wochen lenken sollte. Schon zu diesem Zeitpunkt war Gorbatschow sich nicht mehr sicher, ob überhaupt noch eine Regierung die Chance gehabt hätte, die DDR wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit Krenz, den er am 1. November 1989 in Moskau empfing, war er sich einig, dass es mit oberflächlichen Korrekturen nicht getan sei, sondern tief greifende Reformen für die DDR, im Stile von Glasnost und Perestroika, nötig seien (vgl. Gorbatschow 1995, S. 711 f.). Denn Krenz offenbarte Gorbatschow, anders als Honecker einige Monate zuvor, schonungslos die realistische wirtschaftliche Lage in der DDR. Gorbatschow hat erst hier realisiert, dass die DDR bzw. die deutsche Frage sich für die Sowjetunion zu einem unüberschaubaren finanziellen wie politischen Risiko entwickeln könnte. Das besagte Treffen am 1. November 1989 war das letzte Aufeinandertreffen zwischen den beiden Generalsekretären der KPdSU und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vor der Wende (vgl. von Plato 2009, S. 85).

Für große Teile der DDR-Bevölkerung war der desolate und wenig hoffnungsvolle Zustand der DDR aber schon so weit fortgestritten, dass die Bevölkerung einzig daran glaubte, dass nur eine schnellstmögliche Vereinigung mit Westdeutschland ihre Probleme effektiv lösen könne (vgl. Gorbatschow 1995, S. 711 f.). Neben dem Machtverlust der Kommunisten bei den ersten freien Wahlen in Polen und Ungarn vollzogen sich im Herbst 1989 innerhalb von kürzester Zeit weitere tief greifende und für den weiteren Prozess bedeutsame Ereignisse in Osteuropa. Diese rasanten Entwicklungen kulminierten dann im Mauerfall des 9. November. Trotzdem blieb Gorbatschow den ganzen Herbst über kategorisch bei seiner Politik der konsequenten Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten befreundeter kommunistischer Staaten (vgl. ebd.). Am Abend der Maueröffnung „gratulierte“ Gorbatschow Krenz zur Öffnung der Mauer und wies seine Berater an, Krenz bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der DDR nach Kräften zu unterstützen (vgl. von Plato 2009, S. 106; Kuhn 1993, S. 70). Kohl, für den die Maueröffnung wohl ebenso überraschend kam, wie für alle wesentlichen Protagonisten des Einigungsprozesses, schildert seine Eindrücke, in Bezug auf eine mögliche Reaktion Gorbatschows, folgendermaßen:

In der Nacht hat er mir vertraut. Das war, glaube ich, eine ganz wichtige Schlüsselstunde auch unserer Erfahrungen miteinander, denn es wäre vieles ganz, ganz anders gekommen, wenn die Sowjetunion damals zur Sicherung ihrer Interessenssphäre Soldaten eingesetzt hätte. Das kann man sich leicht ausmalen, nach den Erfahrungen, die wir ja gemacht haben in Ungarn, in Prag und natürlich auch am 17. Juni in Berlin und anderswo (Kuhn 1993, S. 69).

Besonders Gorbatschow war nach dem Mauerfall äußerst besorgt darüber, dass die Lage in Osteuropa eskalieren und sich so zu einem bewaffneten Konflikt entwickeln könne (vgl. von Plato 2009, S. 97). Am 11. November telefonierten daher Kohl und Gorbatschow das erste Mal seit dem Fall der Berliner Mauer miteinander: Gorbatschow rügte die bisherigen Reden Kohls nach der Maueröffnung und teilte Kohl unmissverständlich mit, dass er es für besonders wichtig hielte, dass jetzt keinerlei Unruhen durch politische Initiativen, Veränderungen und Reformen entstünden, sondern dass man jetzt größten Wert auf Stabilität legen und sich bei den verschiedenen Handlungen der Zukunft abstimmen solle (vgl. Gorbatschow 1995, S. 713). Kohl erwiderte beruhigend, dass er jede Zuspitzung ablehne, Chaos verhindern wolle und eine „Politik des Augenmaßes“ betreibe. 230.000 Übersiedler seien bis zum jetzigen Zeitpunkt angekommen. Sie stellten ein grundlegendes Problem für die Stabilität der Bundesrepublik dar (vgl. von Plato 2009, S. 110). Wie nah die Welt vor einem Dritten Weltkrieg stand, lässt sich wohl heute nur noch schwer rekonstruieren. Die reale Gefahr bestand jedoch, da Parteiapparat und Militärs für ein militärisches Eingreifen nach dem Fall der Mauer plädierten und auch dazu bereit waren. Die Rhetorik aus Moskau erinnerte zeitweilen wieder an die Hochphase des Kalten Krieges – nur das deutliche „Niet“ von Gorbatschow und Schewardnadse verhinderten hier eine militärische Eskalation (vgl. Görtemaker o. J.).

Am 13. November löste Modrow den überforderten Krenz als Ministerpräsident der DDR ab – Modrow referierte in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer am 17. November über die Möglichkeit einer Vertragsgemeinschaft, die den besonderen Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik in Zukunft Rechnung tragen sollte (vgl. von Plato 2009, S. 113). Dieser Vorschlag der DDR-Administration wurde jedoch zu diesem Zeitpunkt von der Sowjetunion unter Gorbatschow nicht weiter verfolgt.

Der deutsche Wiedervereinigungsprozess nahm gleichsam – durch ein Gespräch zwischen Teltschik und Portugalow in Bonn am 21. November 1989 – „unbeabsichtigt“ deutlich an Fahrt auf. Portugalow und die sogenannte „Germanistenfraktion“Footnote 11 waren im November 1989 zu dem Entschluss gekommen, dass die Annäherung der beiden deutschen Staaten nun mehr unaufhaltsam begonnen habe und nun der Rahmen für den weiteren politischen Prozess abzusprechen sei (vgl. Kuhn 1993, S. 81 f.). Mit dieser Einstellung und der Rückendeckung der Germanistenfraktion reiste Portugalow in die Bundeshauptstadt und stellte Teltschik weitreichende Fragen zur möglichen Deutschen Einheit, die Teltschik davon überzeugten, als Bundesrepublik nun eigenmächtig initiativ werden zu können:

Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wer Portugalow eigentlich geschickt hatte. Denn die Antwort könnte klären, wie früh man in Moskau so weitgehend über die mit der Einheit Deutschlands verbundenen Probleme diskutierte, wie die NATO-Mitgliedschaft oder die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft. Es könnte damit auch geklärt werden, wann Strategien über die Bedingungen der deutschen Einheit entwickelt wurden, die das Verhältnis von NATO und Warschauer Pakt, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem und ähnliche Fragen betragen, um sich vorzubereiten und zu wappnen für entsprechende Verhandlungen mit dem westlichen Ausland (Von Plato 2009, S. 116).

Die Frage, wer Portugalow eigentlich geschickt hatte, ist deswegen so entscheidend, weil Gorbatschow nichts von der Reise und dem Vorstoß Portugalows gewusst haben dürfte. Nach Teltschik hatte der sowjetische Machthaber im November 1989 zudem ganz andere Ziele auf seiner politischen Agenda: Gorbatschow wollte die Zusammenarbeit der Sowjetunion mit der Bundesrepublik ausbauen und zudem erreichen, dass sich die eigenständige DDR seinen Reformen anschließt und sich weiter an die BRD annähert (vgl. Kuhn 1993, S. 85). Seiffert spekuliert an dieser Stelle, dass ohnehin nicht Gorbatschow die treibende Kraft für die deutsche Wiedervereinigung war, sondern der Außenminister der Sowjetunion, Eduard Schewardnadse (vgl. ebd., S. 93). Ausgelöst durch den Besuch Portugalows, entwickelten Kohl, Teltschik und wenige andere eingeweihte Personen einen Zehn-Punkte-Plan, um die Deutsche Einheit in nicht allzu ferner Zeit realisieren zu können. Dieses Zehn-Punkte-Programm trug Kohl am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag vor. Im Kern nahm der deutsche Bundeskanzler Modrows Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft auf und spielte dann ein Szenario zur Erlangung der Deutschen Einheit durch. Wesentliche Voraussetzungen für die Wiedervereinigung seien die Schaffung einer Föderation und eine legitime demokratische Regierung in der DDR. Kohl war sich zudem in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sicher, dass das deutsche Volk die Einheit wolle (vgl. Görtemaker o. J.). Mit diesem höchst polarisierenden Papier setzte sich die Kohl-Administration gewollt und unmissverständlich an die Spitze der Entwicklungen, wurde zum Agenda-Setter und sorgte in der Folge für großen Unmut bei den Alliierten, besonders in Moskau. Die Wut und Enttäuschung Gorbatschows über die Rücksichtslosigkeit des Bundeskanzlers bekam am 5. Dezember 1989 der deutsche Außenminister in Moskau zu spüren. Genscher, der wie Gorbatschow erst zum Zeitpunkt der Rede im Bundestag in die Überlegungen des deutschen Bundeskanzlers eingeweiht wurde, versuchte im Gespräch mit Gorbatschow die angespannte, mitunter aggressive Lage zu beruhigen und die Haltung des Bundeskanzlers zu erklären. Dies gelang Genscher an diesem Tag in Moskau kaum – zu groß war das Unverständnis über das Zehn-Punkte-Programm und die in Moskau empfundene Destabilisierung der DDR (vgl. von Plato 2009, S. 129 ff.).

Gorbatschow gründete in diesen Tagen – auf Anraten von seinem außenpolitischen Berater Falin – einen Krisenstab, um das weitere Vorgehen der Sowjetunion nach dem Fall der Berliner Mauer zu besprechen und effektiver zu koordinieren. Er forderte hier dezidiert seine Berater dazu auf, alle Möglichkeiten zu prüfen, wenngleich er eine militärische Intervention nach wie vor kategorisch ausschloss (vgl. Kuhn 1993, S. 94). Dieser Krisenstab war auch daher nötig geworden, weil die Spitzen der Sowjetunion nun mehr realisierten, dass die ostdeutsche Bevölkerung nicht nur ihr Vertrauen in ihre Regierung gänzlich verloren hatte, sondern auch, weil die Wirtschaft der DDR kurz vor dem Bankrott stand (vgl. Görtemaker o. J.). Diese Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR fand am 11. Dezember 1989 ihren Höhepunkt, als 300.000 Menschen durch Leipzig zogen und in einer vorher nie da gewesen Vehemenz, Deutlichkeit und Lautstärke die Einheit forderten. Zwei Tage zuvor, am 9. Dezember 1989, forderte Gorbatschow in einer aggressiven und kämpferischen Rede vor dem ZK-Plenum noch die deutsche Bundesregierung dazu auf den Ausgang des Zweiten Weltkriegs und somit auch die DDR final anzuerkennen und von weiteren nicht abgesprochenen Handlungen in Bezug auf eine deutsche Wiedervereinigung abzusehen (vgl. von Plato 2009, S. 177).

Ein Schlüsselereignis für die Hauptprotagonisten, aber vor allem für den deutschen Bundeskanzler, auf dem Weg zur Deutschen Einheit war damals der Besuch Kohls in Dresden am 19. und 20. Dezember: Der Besuch stellte Kohl vor eine gewisse diplomatische Herausforderung, denn er durfte die DDR-Bürger, angetrieben von ihrem Willen sich zu vereinigen, in seinen Auftritten und Reden nicht enttäuschen, gleichzeitig aber auch nicht die ohnehin schon angespannten Alliierten weiter provozieren und verärgern. Wesentlich einfacher dürfte ihm dieser diplomatische Balanceakt nach der euphorischen und frenetischen Begrüßung durch die DDR-Bevölkerung gefallen sein. Kuhn (1993, S. 95 f.) zitiert Kohl:

Ich glaube, für Gorbatschow war wichtig, vielleicht mehr als ich selbst in diesem Augenblick geglaubt habe: die Erfahrung, die Bilder meines Dresden-Besuches. […] Gorbatschow hat sicherlich begriffen, daß eine Lage der damaligen DDR eingetreten war, daß das Regime in sich selbst zusammenstürzte, und ich vermute – ich weiß es nicht –, daß auch die Fragen, die er Modrow gestellt hat, sicherlich von Modrow nicht befriedigend zu beantworten waren. Man konnte niemanden klar machen, wie es möglich ist, daß bei dem Auftauchen des Bundeskanzlers Helmut Kohl sich solche Szenen entwickeln, wie wir es ja dann an der Frauenkirchen in Dresden erlebt haben, Szenen, die ja viele überrascht haben, die da dabei waren, und das war nicht gestellt und war nicht geplant, das ist wie Urstrom hervorgebrochen, und das hat schon seine Wirkung getan, hat übrigens gerade in Amerika, das kann man nicht oft genug sagen, die Position des Präsidenten gegenüber Skeptikern, die es ja da in der Administration, im Parlament gab, gestärkt.

Um sich abzusichern, hatte Kohl vor dem Antritt seiner Reise in die DDR Gorbatschow noch einmal durch ein ausführliches Schreiben zu beruhigen versucht (vgl. von Plato 2009, S. 160).

Anfang des Jahres 1990 trat Modrow im Rahmen von bilateralen Gesprächen mit finanziellen Forderungen an die Bundesregierung heran. Er forderte von Kohl einen Betrag in Höhe von 15 Mrd. Mark, um die durch die Grenzöffnung entstandenen Kosten aufzufangen und die ostdeutsche Wirtschaft zu modernisieren (vgl. Görtemaker o. J.). Im Rahmen dieser Gespräche offenbarte sich auch Kohl die Misere der sowjetischen Wirtschaft: Von seinem Beraterkreis erhielt der Bundeskanzler Zahlen zur ökonomischen und sozialen Lage in der Sowjetunion, die einen Zusammenbruch des Systems in naher Zukunft wahrscheinlich machten. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR und die Sowjetunion zogen aus der wirtschaftlichen Schwäche der Ost-Staaten und aus den Ereignissen des Jahres 1989 nun mehr die Konsequenz, dass die Wiedervereinigung wohl nicht mehr grundsätzlich zu verhindern sei.

Bonn wurde am 24. Januar 1990 abermals durch Äußerungen von Portugalow dazu ermutigt, am eingeschlagenen Kurs festzuhalten und den Prozess hin zur Einheit weiter voranzutreiben. Portugalow kündigte an diesem Tag in der BILD-Zeitung an, dass für den Fall, dass die Menschen in der DDR die Einheit wollten, sie diese auch bekämen. Diesen Äußerungen fügte er noch hinzu, dass die Sowjetunion nicht mehr (militärisch) intervenieren würde. Der obersten Führungsriege der Sowjetunion und besonders Gorbatschow war in dieser Zeit dennoch viel daran gelegen, den nunmehr kaum aufzuhaltenden Wiedervereinigungsprozess kritisch zu begleiten und für den Fall der Wiedervereinigung maximale Einflussmöglichkeiten für die Sowjetunion sicherzustellen (vgl. ebd.). In zwei entscheidenden Beratersitzungen am 25. und 30. Januar 1990 akzeptierte die sowjetische Machtspitze endgültig, dass die Wiedervereinigung unvermeidlich sei. Im Gespräch am 30. Januar gestand Modrow Gorbatschow, dass er glaube, dass die Mehrheit der DDR-Bürger nicht mehr an der Zweistaatlichkeit festhalten wolle (vgl. Gorbatschow 1995, S. 712 ff.). Gorbatschow schien sich ab diesem Zeitpunkt mit der Deutschen Einheit abgefunden zu haben, da er folgende Anweisungen an seine Berater weitergab: Die UdSSR solle die Initiative zu einer Konferenz der Siegermächte und der beiden deutschen Staaten ergreifen, wobei die Verbindung zur Führung der DDR aufrechtzuerhalten sei. Des Weiteren müsse die zukünftige Politik in der Frage der deutschen Wiedervereinigung enger mit Paris und London koordiniert werden. Außerdem ordnete er an, dass die Frage des Abzuges der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR zu prüfen sei (vgl. ebd., S. 715). Als logische Konsequenz aus den Beratungen am 25. und 30. Januar teilte Gorbatschow am 10. Februar 1990 der Bundesregierung mit, dass es nun einzig und allein Aufgabe der Deutschen sei, sich in freier Selbstbestimmung wiederzuvereinigen (vgl. Kuhn 1993, S. 108):

Und ich habe zum Kanzler gesagt, daß diese Frage von den Deutschen selbst gelöst werden muß, wie sie weiter zu handeln haben. […] Und Bundeskanzler Helmut Kohl, ein Partner und Freund, mußte verstehen, daß das sehr ernst die Beziehungen im ‚Dreieck‘ – Sowjetunion, DDR und BRD – betrifft, den ganzen gesamteuropäischen Prozeß und alle Europäer angeht. Und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland mußte präzise Antworten auf die Frage geben, welche Positionen sie vertritt. Und keinesfalls darf die Politik zugelassen werden, die irgendein Bedenken auftauchen läßt, daß es zu einer Revision der Realitäten kommen kann, die als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Das wurde anerkannt. […] Ich glaube, da ist ein hoher Grad der Verständigung erreicht worden, und ich möchte das betonen (Ebd., S. 109 f.).

5 Gorbatschows Persönlichkeit in der Deutschen Frage

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Michail Gorbatschow haben sich zwei Aspekte herausgebildet, die als zentrale Merkmale seiner Person gelten können und anhand derer seine Persönlichkeit im folgenden Kapitel analysiert wird. Zunächst wird das ehemalige sowjetische Staatsoberhaupt als Abweichler des politischen Systems der Sowjetunion analysiert, als eine Persönlichkeit, die sich in vielerlei Hinsicht von ihren Vorgängern unterscheidet. In einem zweiten Schritt wird Gorbatschow als Getriebener verschiedener Entwicklungen und Ereignisse dargestellt. Bei einigen der in diesem Teil der Analyse genannten Geschehnisse hat Gorbatschow als Staatsoberhaupt die Kontrolle über seine engsten Mitarbeiter, über die Dynamik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen sowie über politische Partner und Gegner verloren. Dies sind zwei sehr konträre Einschätzungen – jedoch enthalten sie die Persönlichkeitsmerkmale, die die Einzigartigkeit seiner Person für den Verlauf der Geschichte bezüglich der Deutschen Einheit verdeutlichen sollen.

5.1 Gorbatschow als Abweichler

Aus der Geschichte wird deutlich, dass sich Gorbatschow nicht nahtlos in die Riege seiner Vorgänger einreihen lässt. Dies beginnt in dem Moment, in dem er sich bewusst dafür entscheidet, nicht den einfachen Weg zu gehen und, wie er es nennt, „ein paar Jahre wie ein Zar zu regieren“ (Gorbatschow 2015, S. 22), weil er dies für „verantwortungslos und unmoralisch“ (ebd.) hält. Stattdessen wählte er den weitaus schwierigeren Weg der umfassenden Reformen. Während alle seine Vorgänger lediglich die bröckelnde Fassade des Systems der Sowjetunion trotz der offensichtlichen Missstände notdürftig aufrecht zu halten versuchen, erkannte Gorbatschow, dass früher oder später umfassende Reformen notwendig seien, wenn man die Rückständigkeit der Sowjetunion beseitigen wolle (vgl. Gorbatschow 1995, S. 13 ff.). Gorbatschow war sich der immensen Herausforderung durchaus bewusst, schreckte vor dieser jedoch nicht zurück (vgl. ebd., S. 14). Das Reformprogramm im Rahmen von Glasnost und Perestroika sowie die Rücknahme der Breschnew-Doktrin werden als wichtige Voraussetzungen für die Wiedervereinigung betrachtet. Eppelmann sagt:

Gorbatschow ist der ‚Anschieber‘ gewesen […]. Wenn es in der DDR ab Mitte der 80er Jahre niemanden gab, der dafür Sorge getragen hat, zumindest indirekt, daß es in der DDR selber Menschen gab, die anfingen, an politische Veränderungen zu glauben, die sich vorstellen konnten, daß es politische Veränderungen gibt, daß diese DDR in den Grenzen der DDR etwas ganz anderes werden kann, dann ist dies Michail Gorbatschow gewesen, mit Glasnost und Perestroika, daß wir auf einmal feststellten, die Sowjetunion zieht sich, zumindest politisch, mit ihren Panzern aus der DDR zurück, und einen 17. Juni 1953 wird es mit Michail Gorbatschow Ende der 80er Jahre in der DDR nicht wieder geben (Kuhn 1993, S. 40).

Es ist somit fraglich, ob bzw. wann der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands begonnen hätte, wenn Gorbatschow den Kurs der Sowjetunion nicht verändert hätte. An dieser Stelle ist die Frage interessant, welche Persönlichkeitsmerkmale ihn zu dieser radikalen Veränderung bewogen haben. Gorbatschow ist, wie in Abschn. 2.2 beschrieben, ein Mann, der der marxistisch-leninistischen Theorie zwar folgte, handlungsleitend waren für ihn aber seine eigenen Erfahrungen. Er war ein Pragmatiker (vgl. ebd., S. 97 f.), der der Wirklichkeit ins Auge blickte und der in der Lage war, die kommunistische Propaganda und deren Verschleierung der Realität kritisch zu hinterfragen. Hier mag ihm seine fünfjährige universitäre Ausbildung zu Gute gekommen sein, die ihn ebenfalls von vielen seiner Mitstreiter der damaligen Zeit und auch speziell von seinen Vorgängern unterscheidet.Footnote 12

Häufig wird Gorbatschow als mutiger Mann beschrieben. Er hat sich der Herausforderung gestellt und ist die Reformen angegangen, obwohl diese enorme Schwierigkeiten sowohl in der Umsetzung als auch in der Durchsetzung innerhalb der Partei mit sich brachten (vgl. Gorbatschow 1995, S. 14 f.). In Zusammenhang mit seinem Mut steht auch sein stark ausgeprägtes Selbstvertrauen, das sich bereits in seiner Kindheit entwickelte, als er im Alter von zehn Jahren kriegsbedingt die Vaterrolle im elterlichen Haushalt übernehmen musste.Footnote 13 Sein Selbstvertrauen wurde weiterhin dadurch gestärkt, dass er im Leben oft die Erfahrung gemacht hat, dass er nur dann erfolgreich sein kann, wenn er eine Sache mit Fleiß und Kraft verfolgt.Footnote 14 Bemerkenswert und für sein Selbstvertrauen prägend ist die Tatsache, dass Gorbatschow sich seinen Aufstieg von Beginn an selbst erarbeitet hat. Die Gewissheit, ohne einen begünstigenden familiären Hintergrund im damaligen sowjetischen System aufgestiegen zu sein, verdeutlichte ihm seine Fähigkeiten und sein Können. Ein weiterer Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, ist das Alter Gorbatschows. Mit gerade einmal 54 Jahren übernahm er den Posten des Generalsekretärs der KPdSU. Damit war er deutlich jünger als seine beiden direkten Vorgänger Andropow und Tschernenko, die das Amt im Alter von 68 und 72 Jahren antraten (vgl. Dalos 2011, S. 54). Somit war er jünger und kraftvoller und, was noch bedeutsamer ist, er kam aus einer neuen Generation.

Gorbatschows Generation hat den Krieg vorrangig nicht als Soldat und aktiver Teilnehmer, sondern, wie bereits in Abschn. 2.1 beschrieben, vielmehr als Opfer erlebt. Dies unterscheidet ihn sowohl von seinen Vorgängern als auch von anderen herausragenden Persönlichkeiten dieser Zeit wie Fidel Castro, Deng Xiaoping oder George Bush. Sie alle haben in einem Krieg mitgewirkt, mit all seinen Leiden, aber auch mit der Erfahrung des Aufstiegs in der Militärhierarchie, mit Titeln und Orden auf der Brust. Der Krieg war ihnen nicht fremd, sondern der „Höhepunkt ihres Lebens“ (Sheehy 1992, S. 61 f.). Für Gorbatschow hingegen, der nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern aufgrund der Verhaftung seiner beiden Großväter auch auf emotionaler Ebene stark unter den Folgen des Krieges gelitten hatte,Footnote 15 war der Krieg etwas Bedrohliches und rein Negatives, das es unter allen Umständen zu verhindern galt. Diese Erfahrung hat zur Entwicklung des Charakterzuges beigetragen, der womöglich die größte Auswirkung auf den Prozess der deutschen Wiedervereinigung hatte: seine Friedfertigkeit. Die Bedeutung dieses Persönlichkeitsmerkmals wird dann deutlich, wenn man sich die Optionen vor Auge führt, die Gorbatschow im Jahr 1989 hatte. Zu jedem Zeitpunkt hätte er als Staatsoberhaupt der Sowjetunion die Wiedervereinigung durch den Einsatz militärischer Mittel stoppen und den Wiedervereinigungsprozess auf Jahrzehnte beenden können. Die Truppen waren bereits an der westlichen Grenze der Sowjetunion stationiert. Sie zu mobilisieren wäre schnell und verhältnismäßig unkompliziert gewesen. Der Einsatz von Truppen zur Verhinderung der Wiedervereinigung hätte aber auch das gleichzeitige Scheitern von Gorbatschows Reformanstrengungen bedeutet (vgl. Kuhn 1993, S. 43). Die Option des militärischen Eingreifens war somit für ihn nur noch bedingt eine Entscheidungsmöglichkeit, wenn er nicht seine bisherigen Bemühungen zunichtemachen wollte. Diese Tatsache hat für Deutschland einen beachtlichen taktischen Vorteil bedeutet. Dennoch ist diese Option die, die der sowjetischen Linie entsprochen hätte und damit der Linie, der wohl auch Gorbatschows Vorgänger gefolgt wären. Das kommunistische China hat – nur einige Monate zuvor – mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert, wie kommunistische Staaten mit Aufständen umgehen. Doch für Gorbatschow kam eine militärische Intervention zu keinem Zeitpunkt infrage. So berichtet Falin, dass Gorbatschow die Sitzung seines Krisenstabes, bei dem unter anderem auch Schewardnadse und Verteidigungsminister Dimitri Jasow anwesend waren, mit folgenden Worten eröffnet habe: „Wir wollen ganz offen darüber sprechen, was bevorsteht; alle Prämissen sind erlaubt, außer einer: keinen Einsatz unserer Streitkräfte“ (Ebd., S. 94).

Wären beispielsweise Breschnew oder Jelzin zur Zeit der Wende in Gorbatschows Position gewesen, hätten sie höchstwahrscheinlich eben diese Option des militärischen Eingreifens gewählt. Breschnew hatte mit seiner Doktrin ein solches militärisches Eingreifen legitimiert und auch ausgeführt. Es ist anzunehmen, dass er nicht lange gezögert und die Truppen in die DDR und nach Westeuropa geschickt hätte. Jelzins Bereitschaft zu militärischem Eingreifen ist 1994 sehr deutlich geworden. Mit Gewalt gingen russische Truppen, unter Jelzins Befehl, gegen die Provinz Tschetschenien vor, nachdem eine vertragliche Verständigung in einem Konflikt gescheitert war. Hierbei ist es zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen (vgl. Mommsen 2009, S. 175).

Neben seinem friedvollen Charakter ist auch sein Realismus dafür verantwortlich, dass er sich gegen den Einsatz militärischer Mittel entschied. Er war von der Sinnlosigkeit eines Militäreinsatzes und insbesondere des Einsatzes nuklearer Massenvernichtungswaffen überzeugt. In seinem Buch „Perestroika. Die zweite russische Revolution“ äußert er sich zu nuklearen und nicht-nuklearen Kriegen:

Es ist die politische Funktion des Krieges, die immer als Rechtfertigung, als ‚rationale‘ Erklärung eines Krieges herangezogen wurde. Der Atomkrieg ist sinnlos; er ist irrational. In einem weltweiten nuklearen Konflikt gäbe es weder Gewinner noch Verlierer. Der Untergang der Zivilisation wäre die unvermeidliche Folge. Das ist eher eine Art von Selbstmord, und nicht ein Krieg im herkömmlichen Sinne des Wortes.

Aber die Militärtechnologie hat sich inzwischen so weit entwickelt, daß heute sogar ein nichtnuklearer Krieg mit einem nuklearen Krieg vergleichbar wäre, was die zerstörerischen Folgen betrifft. […] Sicherheit kann nicht mehr durch militärische Mittel hergestellt werden […] (Gorbatschow 1987, S. 179 f.).

Diese Einstellung hat er nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern auch in Bezug auf Polen und Ungarn vertreten. Ursache hierfür war auch, dass die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Anerkennung der Freiheit eines jeden Volkes Teil des „neuen Denkens“ (Kuhn 1993, S. 49) war (vgl. ebd., S. 48 f.). Dieses neue Denken war für Gorbatschow absolut handlungsleitendFootnote 16 und der Grund, warum er eine weitere Option zum Aufhalten der Wiedervereinigung nicht wahrgenommen hat: Er hätte deutlich stärkeren politischen Druck auf die Führung der DDR und auf Helmut Kohl ausüben können. In dieser Angelegenheit aktiv zu werden wäre spätestens dann vonnöten gewesen, als er von dem Staatsbesuch in der DDR zu deren 40-jährigem Jubiläum zurückkehrte und ihm bewusst wurde, dass die DDR „einem brodelndem Kessel mit dicht verschlossenem Deckel“ (Gorbatschow 1995, S. 711) glich. Diesen politischen Druck hätte er auch nach dem Mauerfall am 9. November noch einmal intensivieren und in den nachfolgenden Monaten sukzessive hochhalten können. Gorbatschows Standpunkt aber war klar: Er würde keinem anderen Staat die Perestroika aufzwingen und sich weiterhin nicht in innere Angelegenheiten einmischen (vgl. Kuhn 1993, S. 48 f.). Er hatte zudem DDR-Staatschef Erich Honecker mehrmals Ratschläge gegeben und versucht, ihn von der Notwendigkeit von Reformen zu überzeugen, war jedoch jedes Mal auf „eine Mauer des Unverständnisses“ (Gorbatschow 1995, S. 711) gestoßen. Gorbatschow (Ebd.) selbst äußert sich hierzu folgendermaßen:

Selbstverständlich waren wir nicht mit Blindheit geschlagen. Die Geschehnisse in der DDR beunruhigten uns stark. Ich müßte lügen, wollte ich behaupten, daß wir die Hände in den Schoß gelegt hätten. Ebenso nachdrücklich aber muß ich Andeutungen zurück weisen, unsere Kontakte zur DDR-Führung seien in dieser kritischen Phase nichts anderes als Versuche gewesen, Druck auszuüben, ihr etwas aufzuzwingen, sie zu erpressen oder ähnliches.

Honeckers direkter Nachfolger Krenz hingegen hätte sich gewünscht, dass Gorbatschow offener mit ihm gesprochen und ihn deutlich stärker bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der DDR unterstützt hätte (vgl. Kuhn 1993, S. 58).

Auch persönliche Beziehungen können hierbei eine Rolle gespielt haben. Während Gorbatschow weder von Honecker noch von Krenz sonderlich angetan war, hatte sich zwischen ihm und Kohl ein nahezu freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Dieses, im Kalten Krieg ungewöhnliche, Verhältnis ist analytisch höchst interessant und für die friedliche Wiedervereinigung von großer Bedeutung. Betrachtet man Gorbatschows Vorgänger, so scheint eine Verbindung auf persönlicher Ebene mit einem westlichen Staatsoberhaupt kaum möglich. Seine Offenheit gegenüber dem Westen und gegenüber Kohl ist eine Besonderheit von Gorbatschows Persönlichkeit, da er als sowjetisches Staatsoberhaupt eine solche Verbindung zuließ und sich ihr nicht im Vorhinein verwehrte.Footnote 17 Zu beachten ist an dieser Stelle auch die Tatsache, dass sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen in den 1980er Jahren bereits gewandelt und entspannt hatten. Gorbatschows Offenheit gegenüber dem Westen, gepaart mit Kohls Fähigkeit, auf der persönlichen Ebene enge Beziehungen zu anderen Staatsoberhäuptern aufzubauen,Footnote 18 führten zu einer persönlichen Bindung zwischen den beiden, deren Einfluss auf die Wiedervereinigung von Bedeutung ist. Durch diese Verbindung waren Kohl und Gorbatschow in der Lage, einander zu vertrauen (vgl. ebd., S. 8). Die These, dass Gorbatschows Einstellung zur Wiedervereinigung auch persönlich motiviert war, wird auch dadurch gestützt, dass er persönlichen Beziehungen schon immer eine große Bedeutung zugemessenFootnote 19 hat. Von Plato (2009, S. 46) sagt dazu:

Also, wenn Sie Gorbatschow erleben, dann ist das ein Russe, wie man ihn aus der Literaturgeschichte kennt. Ein sehr emotionaler Mann, dem es sehr wichtig ist, ob er ein persönliches Verhältnis zu jemandem hat oder nicht. (…) Gorbatschow hat mir selbst einmal gesagt, dass er den Eindruck gewonnen hat, er kann Helmut Kohl vertrauen.

Diese doch recht positive Wahrnehmung Gorbatschows Persönlichkeit entstammt in dieser Form hauptsächlich der Meinung von Gorbatschows Unterstützern sowie westlichen Persönlichkeiten. Abgeschlossen wird diese Deutung von Gorbatschows Person als Abweichler mit einem Zitat von Charles PowellFootnote 20, das unterstreicht, wie sehr er von führenden westlichen Politikern geschätzt wurde:

Für uns war das eine Offenbarung – wir erlebten eine völlig neue sowjetische Führungspersönlichkeit: einen Mann, der weder Anhänger noch Helfer brauchte, einen Mann, der nicht einfach eine vorgefertigte Rede vom Blatt ablas. Wir sahen einen Mann, der diskutieren konnte wie ein Politiker aus dem Westen, dessen Gedanken von einem Thema zum nächsten sprangen, einen Mann der frei über gewisse Wege sprach, die die Entwicklung in der Sowjetunion nehmen könnte. […] So waren unsere Hoffnungen auf ein freies, ein menschlicheres System in der Sowjetunion denn auch hauptsächlich mit der Person Gorbatschows verbunden (Kuhn 1993, S. 40).

Im folgenden Kapitel wird auf die andere Seite von Gorbatschows Persönlichkeit und auf seine politische Getriebenheit eingegangen.

5.2 Gorbatschow als Getriebener

Während Gorbatschows Persönlichkeit und sein politisches Verhalten im Westen nahezu vollständig als positiv gewertet wird, hat er im Osten bis heute viele Kritiker. Zu diesen zählen besonders Nationalisten und Kommunisten, aber auch die Teile der Bevölkerung, die ihm den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 anlasten. Doch auch die Demokraten in der UdSSR verachten ihn, da sie der Meinung sind, er hätte deutlich konsequenter gegen das kommunistische System vorgehen müssen (vgl. Thränert 2000, S. 53).

Seine gesamte Amtszeit ist davon geprägt, die Mitte zwischen diesen Positionen zu halten. Gorbatschow selbst bezeichnet sich laut Seiffert als einen „Zentristen“ (Kuhn 1993, S. 97). Seifferts Auffassung nach ist es ein großer Fehler Gorbatschows gewesen, zu versuchen, diese Mitte zu halten, da er dadurch keine klare Linie verfolgte, sondern hin und her geschwankt sei. Da er keine klare Position bezog, fehlte ihm der entsprechende Rückhalt im sowjetischen Führungskader. Resultat hiervon war der Putsch der Kommunisten im Jahr 1991 (vgl. Moynahan 1994, S. 265 ff.)Footnote 21 von deren politischer Linie er nie gänzlich abgewichen war, um ihre Unterstützung nicht zu verlieren (vgl. Kuhn 1993, S. 97 f.). Mommsen (2009, S. 167) schließt sich Seiffert an: Gorbatschow sei sogar in dem „Bemühen zerrieben [worden], […] reformfreudige und ‚konservative‘ Spitzenfunktionäre zusammenzubringen“. Diese inkonsequente Haltung Gorbatschows zieht sich durch seine gesamte Amtszeit als Staatsoberhaupt der Sowjetunion. Positiv ausgelegt kann man diese Eigenschaft als Flexibilität und Kompromissbereitschaft bezeichnen, kritischer betrachtet wird sie von Seiffert als eine gewissermaßen „schwache Politik“ (Kuhn 1993, S. 97 f.) benannt. Mommsen (vgl. 2009, S. 167) ist der Meinung, er habe nicht über besondere Fähigkeiten als Führungskraft verfügt. Aber: Hat es Gorbatschow tatsächlich an der für eine Führungspersönlichkeit nötigen Stärke gefehlt oder war er so intelligent, in den richtigen Momenten die veralteten Ideale hinten an zu stellen und die rational sinnvollsten Wege zu wählen?

Anzumerken ist, dass Gorbatschow sich in einer äußerst schwierigen Situation befand. Anstatt sich im Rahmen der alten kommunistischen Maxime und Regierungsarbeit zu bewegen, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, eine neue Linie für die Sowjetunion zu entwerfen. Dabei konnte er sich nicht an alten erprobten Handlungsmaximen orientieren, sondern musste etwas völlig Neues etablieren. Diese Aufgabe ist keineswegs zu unterschätzen. Ob es richtig war, sich dabei nicht völlig auf einen neuen demokratischeren Weg zu konzentrieren, sondern sich stets auch mit den Kommunisten rückzuversichern, ist diskussionswürdig. Hierdurch grenzte er seine Handlungsspielräume beträchtlich ein. Bedenkt man aber, dass Gorbatschow ideologisch durchaus den marxistisch-leninistischen Maximen folgte, findet sich schnell die Begründung, wieso er sich dafür entschied, das kommunistische System zwar umfassend zu reformieren, es aber trotzdem beizubehalten und somit von der kommunistischen Linie nicht gänzlich abzuweichen. Möglicherweise war es ihm aufgrund der damaligen Machtstrukturen auch nicht möglich, sich komplett vom „alten System“ des Kommunismus abzuwenden. Eine weitere Möglichkeit ist, dass ihm bewusst war, dass er für seine Reformen mehr Spielraum hat, wenn er den kommunistischen Flügel der KPdSU nicht vollends brüskiert, sondern auch auf diesen eingeht.

Ob es politisches Kalkül oder mangelnde Stärke als Führungsperson war, das politische System lediglich zu reformieren und nicht durch ein demokratisches zu ersetzen, kann wohl kaum eindeutig beantwortet werden. Deutlich zwingt sich jedoch der Eindruck auf, dass Gorbatschow in verschiedener Hinsicht die Kontrolle verloren hatte und ein Getriebener des Systems war, das er sich durch das konsequente Balancieren in der politischen Mitte selbst geschaffen hatte. Am Beispiel der Wiedervereinigung wird dies ebenso deutlich wie am Zusammenbruch der Sowjetunion. Auf Ersteres wird im Folgenden näher eingegangen.

Ein konkretes Ereignis für inkonsequente Führungsleistung Gorbatschows ist das eigenmächtige Handeln Portugalows. Wie bereits oben beschrieben, hat Portugalow der Bundesrepublik zweifach nicht abgesprochene Signale gegeben, die den Prozess der Wiedervereinigung extrem begünstigten und zur Erstellung des Zehn-Punkte-Plans beigetragen haben. Beim ersten Vorfall dieser Art, am 21. November 1989 im Gespräch zwischen Portugalow und Teltschik, war die Wiedervereinigung noch kein Ziel Gorbatschows (vgl. Kuhn 1993, S. 85). Wieso Gorbatschow als das Oberhaupt der Sowjetunion, dem Staat, der auf allen Ebenen von Kontrolle geprägt war, wiederholt so wenig Kontrolle über die entscheidenden Äußerungen eines hohen außenpolitischen Beraters hatte, bleibt in höchstem Maße fragwürdig. Der Umstand, dass Gorbatschow in puncto Wiedervereinigung seinen Ministern keine klare Linie vorgegeben hat, weil er selbst keine Strategie hatte, wird in jedem Fall deutlich dazu beigetragen haben. Im gesamten Wiedervereinigungsprozess scheint Gorbatschow wenig Führungsautorität ausgestrahlt zu haben.

Ebenfalls zu hinterfragen gilt, wieso Gorbatschow über die Geschehnisse in der DDR nicht ausführlich informiert war. Von Plato (2009, S. 85) schreibt, dass Gorbatschow Honeckers positive, aber realitätsferne, Darstellung der DDR-Wirtschaft unhinterfragt geglaubt hat. Als Krenz dann einen Monat später bei seinem Besuch in Moskau am 1. November 1989 die tatsächliche Lage in der DDR beschrieb, hatte diese Erkenntnis für die sowjetische Politik weitreichende Folgen. Es wurde klar, dass die Sowjetunion mögliche wirtschaftliche Reformen in der DDR hätte finanzieren müssen, da die DDR selbst hierzu nicht in der Lage war. Von den Folgen damals abgesehen bleibt die Frage: Wieso sind die Aussagen Honeckers nie überprüft, sondern ohne weiteres Hinterfragen angenommen und als Grundlage für strategische Überlegungen verwendet worden?

Eine weitere Tatsache ist in Anbetracht der globalen Bedeutung der deutschen Frage höchst fragwürdig und bemerkenswert: Gorbatschow hatte zu keinem Zeitpunkt eine klare Strategie für die Wiedervereinigung (vgl. ebd., S. 91). Gerlach führt aus:

Dadurch ergab sich eine etwas schwankende Haltung, und ganz sicher kann man sagen, daß die Sowjetunion, auch Gorbatschow, kein Konzept, keine Strategie hatte und sich im wesentlichen […] von Ereignissen treiben ließ (Kuhn 1993, S. 92).

Denn auch im Prozess der Wiedervereinigung war Gorbatschow in seinen Prinzipien gefangen, im Rahmen derer er versuchte die Mitte zu halten. Auf der einen Seite befand sich die mächtige Germanistenfraktion, auf der anderen Seite die sogenannten „Kalten Krieger“, die weiterhin davon überzeugt waren, dass der Erhalt von zwei deutschen Staaten sicherheitspolitisch das Beste für die Interessen der Sowjetunion sei (vgl. ebd., S. 85). Gorbatschow wurde im Laufe des Prozesses zwar bewusst, dass die Deutsche Einheit notwendig ist und es in seiner Pflicht als Staatsoberhaupt lag, den größten wirtschaftlichen Nutzen für die Sowjetunion zu sichern. Zugleich aber musste er den Vorwurf aushalten, den Sieg im Zweiten Weltkrieg sowie die 27 Mio. Opfer (vgl. Schneider und Toyka-Seid o. J.) aufseiten der Sowjetunion zu verraten, wenn er der Deutschen Einheit zustimmt. Gerade aufgrund dieser brisanten Situation wäre eine klare Positionierung in Verbindung mit einer Strategie Gorbatschows von besonderer Bedeutung gewesen.

Das Schwanken und die Unschlüssigkeit finden sich in der Literatur zum Wiedervereinigungsprozess häufig wieder. Gorbatschow hat auf die Geschehnisse reagiert, jedoch wenig agiert. Dies ist der Grund, warum man ihn nach Seiffert nicht als „Schöpfer der deutschen Einheit“ (Kuhn 1993, S. 41) bezeichnen kann. Dieses Prädikat wäre nur dann gerechtfertigt, wenn er zu einem deutlich früheren Zeitpunkt die Initiative ergriffen und die Wiedervereinigung aktiv vorangetrieben hätte. Die Entscheidung für die Wiedervereinigung soll Gorbatschow erst im Januar 1990 getroffen haben (vgl. ebd., S. 93), als ihm seine Berater aus der Wissenschaft und dem Geheimdienst verdeutlicht hatten, dass die Wiedervereinigung unvermeidbar sei (vgl. Kuhn 1993, S. 97 f.). Erst zu dem Zeitpunkt, als er realisierte, dass viele Staaten des Warschauer Pakts nicht mehr zu halten waren, akzeptierte er das Ende der DDR und somit einen vereinten deutschen Staat (vgl. Thränert 2000, S. 52). Gorbatschow hat lange abgewartet und sich erst dann, als die Entwicklung und die Strukturen ihm die Entscheidung klar vorgaben und es keine andere Option mehr gab, endgültig positioniert. Vor dem analytischen Hintergrund Greensteins,Footnote 22 ist dieses Verhalten höchst interessant. Den von Greenstein (vgl. 2014) beschriebenen Handlungsspielraum einer Persönlichkeit im Rahmen von Strukturen hat Gorbatschow zumindest in diesem Punkt wenig aktiv genutzt. Er hat sich von den ihm vorgegebenen Strukturen leiten lassen und verglichen mit dem Handlungsspielraum, der ihm zur Verfügung stand, wenig Einfluss geltend gemacht. Man kann dieses lang Zögern als Führungsschwäche oder als Furcht vor dem Risiko einer „falschen“ Positionierung interpretieren. Faktisch beinhaltet diese Deutung einen Widerspruch zum vorangegangenen Teil der Analyse, in dem Gorbatschow als mutig charakterisiert wurde. Diese Feststellung soll keineswegs zurückgenommen, sondern lediglich situationsbedingt relativiert werden. In vielen Angelegenheiten war Gorbatschow sehr mutig und schreckte vor schwierigen Aufgaben nicht zurück. Im Prozess um die Deutsche Einheit war dies aber häufig nicht der Fall.

Wieso aber verhielt er sich im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung so unerklärlich zurückhaltend? Möglicherweise ließen ihm die Strukturen keine andere Wahl. Möglicherweise taktierte er auch mit den Strukturen: Wenn er die gesamte kommunistische Führungsriege nicht brüskieren wollte, dann konnte er schlichtweg nicht als der, wie von Seiffert beschrieben, „Schöpfer der Deutschen Einheit“ auftreten. Möglicherweise war ihm bewusst, dass die Deutsche Einheit sehr wahrscheinlich wurde, wenn er den Dingen ihren Lauf ließ. Möglicherweise war er aber auch schlichtweg überfordert: Gefangen in den Prozessen, die er in Gang gesetzt hat, getrieben von der Eigendynamik der Reformen, die er angestoßen hatte und gezeichnet von den Fehlern, die er selbst gemacht hatte.

6 Schlussbemerkung

Wesentliches Ziel des vorliegenden Kapitels war es, herauszustellen, welchen Einfluss die Persönlichkeit Gorbatschows auf die deutsche Wiedervereinigung ausübte.

Trotz der umfassenden vorgenommenen Analyse des Charakters bleibt es für die Autoren nahezu unmöglich, die Persönlichkeit des sowjetischen Machthabers in Reinform darzulegen, da Gorbatschow in einer Zeit an der Macht war, die von Extremen geprägt war. Die sowjetische Bevölkerung befand sich in einem moralischen Umbruch, der durch die Reformen Gorbatschows initiiert und vorangebracht wurde. Dieser Umbruch wurde durch die rasanten Entwicklungen in Osteuropa noch einmal verstärkt. Die kommunistischen und wirtschaftlich stark angeschlagenen Länder des Warschauer Paktes strebten nach mehr Selbstbestimmung und Autonomie. Schon allein diese beiden situativen Umstände führten dazu, dass Gorbatschow innen- wie außenpolitisch unter massivem Druck stand. Aufgrund dieser konstanten Druckbelastung, die sich durch den Wiedervereinigungsprozess noch einmal verstärken sollte, ist eine eindeutige und zweifelsfreie Darstellung seiner wahren Charakterzüge nur schwer möglich.

Für die Autoren ist aber nach der Analyse und der Anwendung der Persönlichkeit auf das Fallbeispiel „Deutsche Einheit“ deutlich feststellbar, dass die spezifischen Charaktermerkmale Gorbatschows und besonders sein Handeln, immensen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hatte und seine Entscheidung für die deutsche Wiedervereinigung heute noch, besonders im europäischen Kontext, massive Auswirkungen auf das Staatengefüge hat.

In Bezug auf die Deutsche Einheit und in Abgrenzung zu anderen sowjetischen Machthabern wird an vielen Stellen der Analyse deutlich, dass Gorbatschows Führungsstil zum einen nicht von der totalen Kontrolle und zum anderen von einem oftmaligen Abwarten und Taktieren geprägt war. Es fehlte eine klare Strategie – eine wirkliche Linie in seiner Politik und in seinem Führungsstil ist auch gut ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung nicht ersichtlich. Dies hatte einen kontinuierlichen Kontrollverlust über die Prozesse der Wiedervereinigung zur Folge. Rückblickend war Gorbatschow getrieben von der Eigendynamik seiner Reformen, was dazu führte, dass er gravierende Fehler im Politikmanagement beging und so möglicherweise zentrale und für die Sowjetunion gewinnbringende Handlungsoptionen nicht mehr nutzen konnte.

Im Widerspruch dazu aber steht, dass Gorbatschow in einem anderen zentralen Punkt große Stärke, Beharrlichkeit und vor allem Durchsetzungsvermögen bewiesen hat. Gorbatschow verzichtete entgegen vieler kritischer Stimmen aus der Gesellschaft, aber vor allem aus den Reihen des Militärs, während des Wiedervereinigungsprozesses auf den Einsatz von Truppen.

Zwar kann Gorbatschow, auch wenn dies im Westen oftmals so kommuniziert und wahrgenommen wird, nicht als Schöpfer der Deutschen Einheit angesehen werden. Er war nicht der maßgeblich handelnde Akteur, der die deutsche Wiedervereinigung mit all seinem diplomatischen Gespür und Geschick ausverhandelte – dennoch war seine zutiefst pazifistische Haltung für diesen Prozess unverzichtbar. Dies wird noch einmal dadurch verstärkt, wenn man sich vor Augen führt, welcher gänzlich andere Typ von Führungspersönlichkeiten vor und auch nach ihm an der Spitze der Sowjetunion bzw. Russlands stand. Es war somit ein großes Glück der Weltgeschichte, dass zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Michail Sergejewitsch Gorbatschow Staatsoberhaupt der Sowjetunion war:

Hätte es einen anderen Generalsekretär vom Schlage Suslow gegeben, einen Ustinow, geschweige denn Tschernjenko oder den senil gewordenen Breschnew in seinen letzten Jahren, so könnten sehr wohl vollkommen hirnrissige Entscheidungen getroffen worden sein, es wäre wohl zu einem Riesenmassaker gekommen. Daß er das nicht getan hat, halte ich nach wie vor für eines der größten Verdienste Gorbatschows (Kuhn 1993, S. 10).