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Ausland Michail Gorbatschow

Der Mann, der an die Türen der Geschichte klopfte

Michail Gorbatschow stirbt mit 91 Jahren

Michail Gorbatschow ist tot. Der Friedensnobelpreisträger und letzte Staatschef der Sowjetunion starb nach langer Krankheit in Moskau. Er hatte den Kalten Krieg beendet und die Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung geschaffen.

Quelle: WELT

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Im Westen verehrt, daheim verflucht: Michail Gorbatschow versuchte, den Sowjetstaat zu reformieren – und besiegelte damit sein Ende. Die Deutschen verdanken vor allem auch ihm die Wiedervereinigung.

Mit ihm kam die Hoffnung. Im Juni 1989 feierten Tausende Menschen auf dem Bonner Rathausplatz Michail Gorbatschow. Es war eine Sensation: Ein sowjetischer Staatschef wurde bei seinem Besuch in der Bundesrepublik Deutschland wie ein Star empfangen. Begeisterte Rufe: „Gorbi, Gorbi!“ Von der Wiedervereinigung wagte zu diesem Zeitpunkt noch niemand zu träumen. Aber es lag Veränderung in der Luft.

Das Gesicht des Kreml war nicht mehr ein alter Funktionär wie Leonid Breschnew oder Konstantin Tschernenko mit ihrer emotionslosen Sprache voller Floskeln. Es war ein junger Politiker, der menschlich und offen rüberkam. Zu Hause hatte er Perestrojka und Glasnost angekündigt, dem Westen brachte er die Hoffnung auf eine neue Weltordnung, ohne Angst vor sowjetischen Raketen.

Michail Gorbatschow tot
Gorbatschow (M.) und seine Frau Raissa (r.) inmitten einer begeisterten Menschenmenge auf dem Bonner Marktplatz am 13. Juni 1989
Quelle: dpa/Frank Kleefeldt

Nun trauert die Welt um einen großen Politiker und Versöhner, der 91 Jahre alt wurde. „Heute Abend ist nach schwerer und langer Krankheit Michail Sergejewitsch Gorbatschow gestorben“, teilte das Zentrale klinische Krankenhaus (ZKB) der russischen Hauptstadt am Dienstagabend in Moskau mit.

In Deutschland wird immer an einen historischen Satz erinnert: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Zwar hat Gorbatschow ihn nie so formuliert, der Satz kam von seinem Sprecher Gennadi Gerassimow. Doch was sich bei seinem Besuch zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung in Ost-Berlin im Oktober 1989 zwischen Gorbatschow und dem DDR-Staatschef Erich Honecker abspielte, wurde durch diesen Satz für die Menschen im Westen symbolisch am besten zum Ausdruck gebracht. Moskau verweigerte der SED die Unterstützung. Einen Monat später fiel die Mauer in Berlin.

Im Januar 1990 sagte Gorbatschow bei einer Sitzung des Politbüros: „Nun ist klar, dass die Vereinigung unvermeidbar ist, und wir haben kein moralisches Recht, uns ihr zu widersetzen.“ Er wollte und konnte sich der Geschichte nicht in den Weg stellen.

Im Mai 1990 stimmte er in den USA der Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands prinzipiell zu. Als im Juli der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und Gorbatschow in Strickjacken bei Archys im Kaukasus zusammen spazieren gingen, stand der Wiedervereinigung eigentlich nichts mehr im Wege, Gorbatschow willigte endgültig ein.

Das sowjetische Imperium bröckelte und zerfiel

Für Deutschland war das ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung – für Kohl ein Triumph. Für Gorbatschow selbst war diese Zeit der Anfang des politischen Endes. Das sowjetische Imperium bröckelte und zerfiel kurz danach.

Das Paradoxon des Reformers Gorbatschow: Im Westen wurde er verehrt, er bekam den Friedensnobelpreis. In seiner Heimat wurde er noch Jahrzehnte nach dem Beginn der Perestrojka verflucht, für den Zerfall der UdSSR und das darauffolgende politische und wirtschaftliche Chaos verantwortlich gemacht.

Seine Perestrojka befreite den Ostblock und ermöglichte es vielen Ländern, demokratische Gesellschaften aufzubauen. „Die Befreiung eines Menschen, damit er aus einer ,Schraube‘ zum aktiven Teilnehmer von sozial-politischen Prozessen wird, seine eigene Wahl treffen kann, sein Leben und das Leben in seiner Umgebung, in seinem Land beeinflussen kann – das war das Ziel der Perestrojka“, schrieb Gorbatschow in seinen Memoiren. Doch in Russland und vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken bewegten sich die Gesellschaften ab einem bestimmten Zeitpunkt zurück zum Autoritarismus – und spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind die Hoffnungen auf Freiheit und Frieden im post-sowjetischen Raum endgültig zerstört worden.

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Gorbatschow kritisierte politische Rückschritte in Russland, umso überraschender war es, dass er die Krim-Annexion von 2014 wiederholt verteidigte. In einem Interview mit der britischen „Sunday Times“ im Jahr 2016 sagte er sogar, er hätte in einer ähnlichen Situation genauso wie Putin gehandelt. „Der einzige Grund, warum ich das nicht getan hätte, ist, dass wenn ich noch an der Macht gewesen wäre, hätte die Sowjetunion immer noch existiert und die Krim wäre ein Teil davon gewesen“, sagte er.

Für die drastische Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen machte er in den Jahren nach der Krim-Annexion die USA mitverantwortlich. Diese Aussagen wurden von der russischen Propaganda gerne genutzt. Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 äußerte er sich nicht öffentlich. Laut dem Chefredakteur des inzwischen geschlossen Radiosenders „Echo Moskau“ Alexej Wenediktow, der Gorbatschow gut kannte, sei er darüber bestürzt gewesen.

Ein Staatsmann, der seine Gefühle zeigte

Wie kaum ein anderer sowjetischer und russischer Politiker vor, aber auch nach ihm konnte Gorbatschow seine menschlichen Seiten zeigen, seine Schwächen und Verletzbarkeit. Er verbarg nie, wie wichtig für ihn die Beziehung zu seiner Frau Raissa war. Für die Sowjetunion, ein politisches System, das gerade das Menschliche unterdrückte, war das außergewöhnlich. Nicht zuletzt deswegen wurde er zu Hause nicht als „starker Herrscher“ wahrgenommen, sondern als schwacher Mann, der Kritik zuließ, selbstkritisch sein konnte und mit Entscheidungen zögerlich war.

In seiner Biografie zitiert der Schriftsteller György Dalos aus den Briefen der Werktätigen, die der KGB-Chef Wladimir Krjutschkow ihm anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises im Herbst 1990 jeden Tag auf den Tisch legte: „Herr Generalsekretär, ich gratuliere Ihnen zum Preis der Imperialisten dafür, dass Sie die UdSSR zerstört und Osteuropa verkauft, die Rote Armee zerschlagen, alle Ressourcen den Vereinigten Staaten und die Medien den Zionisten überlassen haben.“ Im Jahre 1996 kandidierte Gorbatschow für das Amt des russischen Präsidenten und bekam lediglich 0,5 Prozent; während seiner Wahlveranstaltungen wurde er ständig beschimpft.

Michail Gorbatschow tot
Bruderkuss: Gorbatschow (l.) und Erich Honecker 1987 auf dem Ostberliner Flughafen Schönefeld
Quelle: dpa/Uncredited

Gorbatschow konnte mit der Kritik umgehen. Aber der Vorwurf, der ihm in Russland gemacht wird, er habe die Sowjetunion zerstört, obwohl ein Großteil der Bevölkerung bei einem Referendum für die Beibehaltung der UdSSR gestimmt hatte, traf ihn offenbar schmerzlich. Bei seinen öffentlichen Auftritten wiederholte er immer wieder, dass es vor allem die Schuld des ersten russischen Präsidenten, Boris Jelzin, gewesen sei. In seinen Memoiren schreibt er über das, was er anders gemacht hätte: „Wie waren zu spät dran mit der Reformierung der Sowjetunion, wir waren zu spät dran mit einer Umwandlung der KPdSU in eine moderne demokratische Partei. Das waren die zwei größten Fehler.“

Wie viele Vertreter der sowjetischen Nomenklatura kam Gorbatschow von ganz unten, aus einer Bauernfamilie. Er kannte das Leben im Kommunismus nicht aus der Presse, sondern durchlebte selbst das Elend des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre. Er arbeitete als Mechaniker mit seinem Vater und war stolz darauf, dass er „vom bloßen Hören feststellen konnte, was an einem Mähdrescher nicht funktioniert“. Mit Sentimentalität erinnerte sich Gorbatschow an den Garten seiner Großeltern im Dorf Priwolnoje (was auf Russisch „frei“ bedeutet) im Süden Russlands, wo er 1931 geboren wurde.

Als Kind Hunger und Festnahmen erlebt

Zu seinen ersten Kindheitserinnerungen gehörte der Hunger im Jahr 1933, als sein Großvater in einem Topf Frösche kochte, um die Familie zu ernähren. Seine beiden Großväter wurden Opfer des Stalin-Terrors. Der Großvater Andrej wurde für zwei Jahre nach Sibirien geschickt, nachdem seine Familie im Hungerwinter 1933 alle ihre Vorräte an Getreide, auch das Saatgut, aufgegessen hatte. Allein die Tatsache, dass sie den Plan für das Aussäen nicht erfüllt hatten, war Grund genug für die Festnahme. Sein anderer Großvater, Pantelej, wurde 1937 wegen angeblichen Trotzkismus festgenommen und zum „Feind des Volkes“ erklärt. Er wurde im Gefängnis gefoltert, aber zum Glück später freigelassen.

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In Gorbatschows Familie wurde, wie in anderen sowjetischen Familien, nie über den Terror gesprochen. Solche Gespräche waren gefährlich. Das doppelte Leben, die doppelte Realität prägten diese Zeit. Gorbatschow sah keinen Widerspruch in der Tatsache, dass im Haus seiner Großeltern an den Wänden sowohl Porträts von Lenin als auch orthodoxe Ikonen hingen. Während der Abschlussprüfung in der Schule schrieb Gorbatschow einen Essay über Stalin und bekam dafür die Note „ausgezeichnet“. Bis zu Stalins Tod stellte er, wie viele andere, dessen Führungsrolle nicht infrage. Später bekämpfte er die Folgen des Stalin-Regimes.

1950 kam der junge Gorbatschow mit einem Holzkoffer in Moskau an. Er wurde an der Juristischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität aufgenommen. Hier traf er seine Frau Raissa, die Philosophie studierte. „Das Bildungssystem schien alles zu tun, um die Entwicklung des kritischen Denkens zu verhindern“, schrieb Gorbatschow in seinen Memoiren. Auch er sah immer deutlicher die Kluft zwischen der Darstellung des Kommunismus in den Lehrbüchern und der Realität. Das betraf vor allem das, was er selbst am besten kannte – das Leben der Bauern, die unter Stalin wie Sklaven lebten. So kamen ihm erste Zweifel an der Gerechtigkeit des Systems.

„Gorbatschow war ein mutiger Reformer und ein Staatsmann, der vieles gewagt hat“

Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Verdienste des verstorbenen Ex-Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, um die deutsche Einheit gewürdigt. „Wir wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes hatte“.

Quelle: WELT

Gleichwohl war Gorbatschow kein Dissident, sondern selbst Teil des Systems. Er machte eine erfolgreiche Karriere in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, zuerst in seinem Heimatsgebiet Stawropol, dann in Moskau. Er spielte nach den Regeln seiner Zeit, aber verlor dabei nicht seinen Realitätssinn.

Er konnte von innen die Krankheiten der Planwirtschaft beobachten: Korruption, lange Entscheidungswege, mangelnde Initiative. Während seiner Auslandsreisen entging ihm nicht, dass die Landwirtschaft – sein Gebiet – in „kapitalistischen“ Ländern viel effektiver war, und er fragte sich, ob das auch in der Sowjetunion möglich sei.

Als Gorbatschow 1978 wieder nach Moskau kam und Mitglied der Parteiführung wurde, war dies der Zenit des Breschnew-Stillstands. Leonid Breschnew war bereits krank, blieb aber noch mehrere Jahre lang Generalsekretär. In seinen Memoiren erinnert sich Gorbatschow an ein Treffen mit Eduard Schewardnadse, damals – 1979 – dem ersten Parteisekretär in Georgien, später sowjetischer Außenminister. „Alles ist verfault von oben bis unten“, sagte Schewardnadse. „Ich stimme dir zu“, antwortete Gorbatschow. Am Tag danach erfuhren sie, dass die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte.

Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde, wollte er keine Revolution. Er wollte mit Reformen das kaputte kommunistische System von innen ändern, ehe es zu spät war. Kurz nach seinem Amtseintritt sprach er über „Perestrojka“ (Umbau), „Glasnost“ (Redefreiheit) und „Uskorenije“ (Beschleunigung) der wirtschaftlichen Entwicklung. Am Anfang war nur die Rede von „einigen Fehlern“ im System, die zu beseitigen wären. Doch allmählich wurde Gorbatschow klar, dass er keine Erfolge erzielen würde, ohne den ganzen Staat umzubauen.

„Der gigantische parteistaatliche Apparat stand als Damm auf dem Weg zu allen Veränderungen“, schrieb er später. Die Lage wurde kritischer, als 1986 die Ölpreise drastisch fielen. Die Tschernobyl-Katastrophe im gleichen Jahr machte die Finanzlage der Sowjetunion noch schwerer und wurde zum Schock für Gorbatschow und die Bevölkerung. Der Umgang damit offenbarte weitere Fehler des Systems. Gorbatschow wird bis jetzt vorgeworfen, dass er die Maikundgebungen im verseuchten Gebiet nicht absagte und erst mehrere Tage später öffentlich über die Katastrophe sprach.

Die Krisen beschleunigten die Perestrojka, in der Sowjetunion begann politisches Tauwetter. Gorbatschow holte den Dissidenten Andrej Sacharow aus der Verbannung. Er sprach selbst Themen an, die zuvor tabu waren. In seinem Vortrag zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution verurteilte er die stalinschen Repressionen.

Das war das Signal, dass man über die Geschichte nun offen reden durfte. Eine Kommission fing an, Schauprozesse der Stalinzeit zu analysieren. Verbotene Bücher wurden gedruckt und gelesen, Meinungen, die früher nur im engen Freundeskreis in der Küche ausgesprochen wurden, trug man nun in die Öffentlichkeit.

Gorbatschow erkannte die Erschöpfung der Sowjetunion

Gorbatschow erinnert sich daran, dass ihn sowohl innere Gründe dazu bewogen, die Perestrojka anzufangen, als auch äußere. Seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan war die außenpolitische Lage in der Welt äußerst angespannt. Die Jahrzehnte des Wettrüstens mit den USA erschöpften die Sowjetunion.

Gorbatschow kündigte das Prinzip des „neues Denkens“ in der internationalen Politik an, das die Einsicht voraussetzte, dass die Logik des Kalten Krieges an ihr Ende gelangt war. Die Weltordnung sollte fortan nicht mehr durch das Kräftemessen von zwei Weltmächten, sondern von gemeinsamen Interessen bestimmt werden. Gorbatschow unterzeichnete das Start-Abkommen zur Reduzierung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen und den INF-Vertrag zur Vernichtung von Kurz- und Mittelstreckenraketen.

Michail Gorbatschow tot
Gorbatschow spricht 1990 in San Francisco vor einer Gruppe von 150 Führungskräften aus der Wirtschaft
Quelle: dpa/David Longstreath

Zu den dunklen Kapiteln dieser Zeit gehört der Umgang mit der Abspaltung von Sowjetrepubliken, die nicht überall friedlich ablief. In mehreren Republiken wurde Ende der Achtzigerjahre für Unabhängigkeit demonstriert. Die Spannungen in unterschiedlichen Ecken des Imperiums verschärften sich und mündeten in blutigen Zusammenstößen wie in Sumgait und Baku in Aserbaidschan, Jerewan in Armenien, Duschanbe in Tadschikistan, Osch in Kirgisien oder Schanaosen in Kasachstan.

Im April 1989 löste die sowjetische Armee gewaltsam eine Demonstration für Unabhängigkeit in Tiflis, der Hauptstadt der Georgischen SSR, auf. 20 Menschen, die meisten von ihnen Frauen, kamen dabei ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Im Januar 1991 rollten Panzer in die Hauptstadt der Litauischen SSR, Vilnius, ein; 14 Menschen wurden getötet. In beiden Fällen wollte niemand aus den Reihen der Führung in Moskau Verantwortung für die Todesopfer in den letzten Stunden der sterbenden Sowjetunion übernehmen – auch Gorbatschow wies sie von sich.

Rücktritt als Oberhaupt eines nicht mehr existierenden Staates

Die Tage des Sowjetreichs und jene von Gorbatschow an dessen Spitze waren zu diesem Zeitpunkt gezählt. Der Stern von Boris Jelzin, des ersten russischen Präsidenten, ging auf. Als im August 1991 eine Gruppe von Funktionären und Generälen versuchte, durch einen Putsch die Macht zu übernehmen, wurde Jelzin zum größten Helden.

Von einem Panzer vor dem Weißen Haus aus, dem russischen Parlament, hielt er eine flammende Rede gegen die Putschisten. Gorbatschow wurde auf seiner Datsche am Schwarzen Meer festgesetzt, für ihn war es eine Demütigung. Im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion gegen Gorbatschows Willen aufgelöst. Er trat als Präsident des nicht mehr existierenden Staates zurück.

Michail Gorbatschow tot
Gorbatschow (l.) 1991 während einer Sondersitzung des Parlaments der Russischen Föderation, daneben Russlands Präsident Jelzin
Quelle: dpa/Boris Yurchenko

In seinen Memoiren kritisierte Gorbatschow Jelzins Regierungszeit scharf: der Tschetschenienkrieg, die Schüsse auf das Parlament 1993, die gefälschten Wahlen von 1996 und den Einfluss von Jelzins Familie auf die russische Politik. Auch Jelzins Nachfolger, den heutigen russischen Herrscher Wladimir Putin, kritisierte Gorbatschow für die Schwächung der Demokratie und der Freiheit. Doch seine Stimme wurde in den letzten Jahren von der Mehrheit der Russen kaum noch wahrgenommen.

Gorbatschow war eine schillernde und tragische Figur zugleich. Er hatte Visionen von Demokratie und Gerechtigkeit, von einer Politik, die auf moralischen Prinzipien basiert. Doch er scheiterte daran, diese Visionen im eigenen Land umzusetzen. Er selbst blieb seinen Prinzipien treu und war sich sicher, dass sein Vorhaben richtig war.

„Auch wenn ich alle Schwierigkeiten gekannt hätte, hätte ich meine Wahl getroffen und versucht, das Land zu verändern“, schrieb er. Was in den Achtzigerjahren passierte, wäre ohne Michail Gorbatschow nicht denkbar gewesen. Er selbst zog in seinen Memoiren dieses Fazit: „Ich klopfte an die Türen der Geschichte, und sie öffneten sich, sie öffneten sich auch für diejenigen, um die ich mich bemüht habe.“

Julia Smirnova war von 2012 bis 2017 WELT-Korrespondentin in Russland.

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