Altweibersommer
Die ersten drei Wochen im September gehören kalendarisch noch zum Sommer – doch wir merken – sehen, schmecken, riechen, fühlen es – dass der Sommer sich langsam (manchmal auch schneller) verabschiedet und der Herbst näherkommt.
Einige Blätter werden gelb, die Äpfel an den Bäumen und die Kastanien, die schon recht groß am Mutterbaum hängen, nächtliche, oft auch schon morgendliche Kühle und frische Winde – all das sind Zeichen.
Und doch schenkt uns oft gerade diese abschiedliche Sommerzeit noch wunderschöne Tage – den sogenannten Altweibersommer.
Geradezu wundersam können sie sein, diese letzten Tage im Sommer.
Warm und gleichzeitig mild, Morgennebel, magische Farbenspiele, Spinnennetze mit Tautropfen, reife Trauben, prächtige Kürbisse, duftende Pilze …
Diese besondere Phase ist so etwas wie ein „Luxus der Natur“ – eine Zeit der Stille in der lauen Luft, verzaubert von kräftigen, klaren Farben. Eine magische Zeit, in der die Tautropfen wie Diamanten glitzern, auf den Gräsern und in den Spinnweben.
Daher kommt auch der Name – von „weiben“ gleich „weben“. Die durch die Luft schwebenden Spinnenfäden, die vom Tau glitzern, wurden früher als magisches Werk von Elfen und Feen betrachtet.
Sie wurden mit den Fäden der Schicksalsgöttinnen Nornen oder sogar mit der christlichen Mutter(-göttin) Maria in Verbindung gebracht und „Marienfäden“, „Mariengarn“, „Marienhaar“ oder „Marienseide“ genannt.
Legenden erzählen, dass Maria übers Land zieht und ihr Haar verteilt – und an wessen Kleid ein solches Haar (also eine Spinnwebe) hängenbleibt, die ist besonders von ihr gesegnet.
Was für eine schöne Vorstellung – das lässt mich noch einmal ganz anders auf die Spinnweben schauen, die auch manchmal an mir hängen bleiben, wenn ich spazieren gehe: Ein besonderer Segen anstatt eine lästige Spinnwebe.
Ein schönes Gleichnis für so einiges im Leben.
Es gibt auch eine Tradition, die den Altweibersommer tatsächlich mit älteren Frauen verbindet – mit der Zeit, wenn wir Frauen aufhören, fruchtbar zu sein und auf dem Weg in den Herbst des Lebens sind …
Dann dürfen wir schon viele Früchte unseres Lebens einsammeln, ob durch die erwachsenen Kinder, die Erträge unserer Karrieren oder die beginnende Weisheit unserer Lebenserfahrung: Stabilität, Verlässlichkeit, Klarheit und (Herzens-) Wärme, Liebe (zu uns), auch Gelassenheit, Staunen und das Weben von Geschichten können dazu gehören. Frauen im „Altweibersommer“ ihres Lebens schöpfen aus sich, aus der Essenz, die sie wie sonnengereifte Früchte oder Kräuter gesammelt haben. Dazu müssen sie nichts (mehr) tun, das sind sie. Verkörpern es. Mit Haut und Haar und Seele.
Wenn sie wollen, und wenn sie wirklich gesehen werden, strahlen sie all das aus wie den vollen Duft von Kräutern oder jungem Wein—zum Wohle ihrer Umgebung.
So betrachtet, ist es ein wunderschöner Name für diese magischen Tage im Jahr.
Dorothee Kanitz
www.meditation-spirit-ritual.de