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1 Einleitung

Max Scheler (1874–1928) ist ohne Zweifel eine der schillerndsten Gestalten in der Philosophie und Soziologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Scheler war neben Edmund Husserl der zweite große Phänomenologe und, wie viele Zeitgenossen berichten, ein echter Philosoph, d. h. ein Fragender, der mit der Welt gekämpft und mit seinen Problemen in einem existenziellen Sinn gerungen hat, nicht bloß auf dem Papier. Kaum ein anderer Universitätsprofessor hatte eine ähnlich skandalöse Vita: Eifersuchtsdramen prägten sein Leben. Scheler, Jahrgang 1874, promovierte und habilitierte sich in Jena. 1906 wurde er zur Umhabilitation von Jena nach München gezwungen, dort wurde ihm sogar die Venia legendi entzogen. Grund war ein Meineid – er hatte geleugnet, mit einer anderweitig liierten Studentin verreist zu sein. Sein Lebensstil wurde ihm auch deshalb vorgehalten, weil er als bedeutendes Sprachrohr eines modernen Katholizismus galt und vor allem durch seine Ethik berühmt geworden war. Wenn man ihn auf den Widerspruch zwischen seiner Philosophie und seiner Lebensweise ansprach, soll er geantwortet haben: »Kennen Sie einen Wegweiser, der den Weg, den er weist, selber geht?«

Schelers Herkunft ist eindeutig die Philosophie. War für Husserl die Phänomenologie nur als Transzendentalphilosophie möglich, d. h. nur unter der Maßgabe einer Einklammerung bzw. Ausschaltung der Realität, so war für Scheler diese Realität der Boden, auf dem alle philosophischen Fragen gestellt werden mussten (Schloßberger 2005; Vendrell Ferran 2008).

Sein in diesem Punkt ganz anderes Verständnis von Phänomenologie führte dazu, dass er sich anderer Themen annahm als Husserl. Scheler ist der große Wiederentdecker der Sphäre der Intersubjektivität nach Hegel und bis heute der einzige Philosoph, der sich in umfassender Weise mit der Rolle der Gefühle auseinandergesetzt hat. Seine beiden großen Themen sind die Ethik und die Formen bzw. Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens. Für beide Themen ist seine Theorie der Gefühle fundamental.

Seine Beiträge zur Soziologie sind kaum weniger bedeutsam. Scheler stand in engem Kontakt mit den wichtigsten Gründungsfiguren der deutschen Soziologie: Mit Max Weber, Ernst Troeltsch, Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Lujo Brentano stritt er um die Bedeutung der Religion bei der Entstehung des modernen Kapitalismus (vgl. Lichtblau 1996). 1913 erscheinen Teile seiner ersten beiden großen Werke: der erste Band von Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik und Zur Phänomenologie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass  (Scheler 1913b), das später als Wesen und Formen der Sympathie (ebd. 1923) deutlich umgearbeitet und erweitert wurde.

Aus der akademischen Welt ausgestoßen, wird er nach Entzug der Venia legendi zu einem der wichtigsten intellektuellen Interpreten des Ersten Weltkriegs: Zunächst tritt er sehr euphorisch für die deutsche Nation ein, spätestens ab 1916 wird er immer kritischer. Anfang der 20er Jahre begründet er die Wissenssoziologie und die Philosophische Anthropologie und wirkt auch in diesen Strömungen, nicht nur in der Phänomenologie – mindestens untergründig – bis in die Gegenwart. Auch ist Scheler einer der ersten Philosophen, die sich ausführlich mit der Psychoanalyse Freuds und den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften (vor allem der Evolutionsbiologie) beschäftigen. Scheler starb 1928 und hinterließ von der seit Jahren angekündigten großen Philosophischen Anthropologie nur eine Skizze (Die Stellung des Menschen im Kosmos). Nach dem Zweiten Weltkrieg ebbte sein Ruhm ab. Dass einige seiner Schüler in Konzentrationslagern ermordet worden waren (Herbert Rüssel, Paul Ludwig Landsberg), trug dazu bei, dass es zu keiner akademischen Schulbildung kam wie im Fall der Frankfurter Schule oder der Existenzphilosophie. In den letzten Jahren zeigen sich vielversprechende Ansätze einer Wiederentdeckung Schelers; vor allem die zunehmende Erkenntnis der Bedeutung von Gefühlen für soziologische und philosophische Fragestellungen hat Scheler viele Leser zugeführt.

Schelers Beiträge zur Soziologie sind ganz unterschiedlicher Art. Zunächst hat er sich als Philosoph der für die Soziologie grundlegenden Frage gewidmet, wie überhaupt die Erfahrung des Anderen möglich ist. Dieses Konstitutionsproblem führt er dann weiter aus, indem er nicht nur nach den Bedingungen einer Erfahrung des Anderen überhaupt, sondern nach den vielen verschiedenen Formen fragt, in denen Menschen sich begegnen bzw. gemeinsam agieren können. Bei der Klärung beider Fragenkomplexe spielt seine Theorie der Gefühle eine entscheidende Rolle. Die Erfahrung des Anderen ist möglich, weil wir seinen Gemütszustand verstehen und an seinen Gefühlen teilnehmen. Und auch die verschiedenen möglichen Formen menschlicher Begegnung sind nur vor dem Hintergrund einer Theorie der Gefühle verständlich, weil sie, wie im Folgenden noch ausführlicher zu zeigen ist, durch je unterschiedliche Gefühle der Menschen geprägt sind. Von der sozialphilosophischen Grundlegung ausgehend hat Scheler zahlreiche konkretere Probleme behandelt, z. B. in historisch-soziologischer Perspektive die Rolle des Ressentiments bei der Entstehung von bestimmten Moralen untersucht (vgl. Scheler 1912) oder in Einzeluntersuchungen nach der sozialen Natur des Schamgefühls gefragt. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn Walter Bühl (1978: 184) schreibt: »Das Werk Schelers ist – was Philosophen, Psychologen und Theologen nicht hindern kann, es auch für sie zu reklamieren – ganz wesentlich Soziologie.«

Schelers ›soziologische Phase‹ fällt in die Zeit des großen akademischen Aufstiegs der Soziologie nach der Jahrhundertwende. Lebens- und Werkgeschichte sind bei Scheler eng miteinander verknüpft. 1919 wird Scheler – nachdem sein Ruf aufgrund seines Engagements für die deutsche Regierung im Ersten Weltkrieg wiederhergestellt war – durch den damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer an die wiedergegründete Universität Köln auf einen Lehrstuhl für Soziologie und Philosophie berufen. 1923 erscheint die um zentrale Teile erweiterte und wesentlich überarbeitete zweite Auflage des Buches über Sympathiegefühle unter dem neuen Titel Wesen und Formen der Sympathie als erster Band eines größeren Projektes, das den Titel Die Sinngesetze des emotionalen Lebens trug. Ein geplanter zweiter Band erschien allerdings nie. Er sollte Einzeluntersuchungen zu Angst und Furcht, zum Ehrgefühl und zum Schamgefühl bieten. Immerhin ist aus dem Nachlass der Aufsatz über das Schamgefühl in seiner vollständigen Fassung (Scheler 1957) veröffentlicht worden (eine erste Skizze erschien bereits 1911).

Ab 1923 beginnt die Arbeit an der geplanten großen Philosophischen Anthropologie und der Wissenssoziologie. Die Probleme einer Soziologie des Wissens erscheinen 1924, die Anthropologie konnte Scheler nicht mehr ausarbeiten; fertigstellen konnte er vor seinem Tod im Mai 1928 nur noch die bekannte kurze Skizze Die Stellung des Menschen im Kosmos (Scheler 1928b), die neben Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) als Gründungsdokument der Philosophischen Anthropologie gilt.

2 Rekonstruktion von Schelers Emotionstheorie

Schelers Beitrag zu einer Soziologie der Emotionen findet sich im Wesentlichen in seinen zwei Hauptwerken Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik und Wesen und Formen der Sympathie. Beide Werke verweisen in zahlreichen Hinsichten aufeinander. Jedes tiefere Verständnis setzt eine Lektüre beider Schriften voraus. Scheler versuchte stets die interne Verbindung aller philosophischen (und soziologischen) Fragen offenzulegen, weshalb man mit gutem Grund vom ›Systemanspruch‹ seiner Philosophie gesprochen hat (vgl. Henckmann 1994).

Der Titel von Schelers Ethik ist etwas irreführend. Ziel des Buches ist nicht so sehr das Aufweisen material gültiger Werte als vielmehr der Nachweis, dass alles ethische Urteilen in Gefühlen fundiert ist. Gegen Kant und alle Pflichtethik argumentiert Scheler, dass das ethische Urteilen keinen Umweg über eine Begründung, wie sie der kategorische Imperativ bietet, nimmt bzw. nehmen darf, sondern in einer nicht weiter begründbaren oder ableitbaren Einsicht, d. h. im unmittelbaren Erkennen des Guten selbst liegen muss. Einem Hilfsbedürftigen zu helfen, ist an sich gut und nicht deshalb, weil es ein dem Kantischen Sittengesetz gemäßes Verhalten ist.

Kant hatte die Gefühle aus der Ethik verbannt, da er unter Gefühlen (mit Ausnahme der Achtung) nichts anderes verstand als Neigungen. Scheler rehabilitiert die Gefühle, indem er ihren kognitiven Gehalt betont. In Analogie zum erkenntnistheoretischen Begriff ›Wahrnehmen‹ spricht er von einem ›Wertnehmen‹ durch Fühlen. Der Titel Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik ist auch deshalb irreführend, weil Scheler in diesem Buch eine umfassende Theorie der Gefühle zu entwickeln versucht, in der nach dem Wesen der Gefühle im Allgemeinen gefragt wird. Wichtige Impulse bekommt er hier von Edmund Husserl, der in seinen Logischen Untersuchungen die Äquivokationen im Begriff der Gefühle aufdecken will und daher zwischen zuständlicher Empfindung und intentionaler Bewegung unterscheidet: Man spricht vom Hören und meint einerseits das bloß sinnliche Hören eines Tones, andererseits auch das Verstehen dessen, was mit den gehörten Lauten ausgedrückt ist. Wir sprechen von ›Schmerzen‹, zielen aber auf ganz Unterschiedliches, wenn wir einmal seelische Schmerzen, ein andermal eine bloß zuständliche Empfindung meinen (vgl. Husserl 1901: 351). Ein Gefühl im strengen Sinn des Begriffs muss, so Husserl, immer eine intentionale Komponente haben: Es muss gerichtet bzw. bezogen sein auf etwas, es muss irgendetwas gemeint bzw. aufgefasst werden (in einem ganz primitiven, aber durchaus kognitiven Sinn von Meinen bzw. Auffassen).

Die Unterscheidung von zuständlichen und intentionalen Momenten ist fundamental für Schelers Theorie der Gefühle. Aber er geht noch einen Schritt weiter. Angesichts der vielen verschiedenen Phänomene, die alle als Gefühl bezeichnet werden, schlägt Scheler vor, verschiedene Klassen von Gefühlen zu unterscheiden. Kriterium der Unterscheidung ist – und hier geht Scheler über Husserls Unterscheidung hinaus – das Verhältnis von zuständlichen (sinnlichen) und intentionalen Momenten und deren spezifische Verbindung. So kommt Scheler zu einer Unterscheidung von drei bzw. vier Klassen von Gefühlen. Diese vier Klassen können unterschieden werden, weil das Verhältnis von zuständlichen und intentionalen Momenten je verschieden ist. Scheler nennt a) die rein sinnlichen Gefühle, die dadurch charakterisiert sind, dass sie von sich aus keinen intentionalen Bezug haben. Eine bloß sinnliche Empfindung kann sowohl angenehm als auch unangenehm sein. Davon zu unterscheiden sind b) die vitalen Gefühle, und c) die seelischen Gefühle, bei denen zuständliche und intentionale Momente in einer notwendigen, wesenhaften Beziehung zueinander stehen (Stimmungen und Affekte) und d) die rein geistigen Gefühle (bestimmte Formen der Liebe), bei denen es überhaupt keine zuständlichen, sondern nur intentionale Momente gibt. Die Rede von ›zuständlich‹ zielt immer auf die spezifische Qualität einer Empfindung (wie fühlt sich das an?). Die Rede von ›intentional‹ meint das Auffassen und Gerichtetsein. Das sinnliche Erleben im Moment des Sich-Schämens ist spezifisch für dieses Gefühl und immer mit der intentionalen Bewegung der Scham verbunden (ich schäme mich vor x für etwas, das x über mich denkt). Vitale Gefühle sind für Scheler z. B. Furcht und Hoffen oder Stimmungen wie Mattigkeit und Frische, während etwa Trauer oder geistige Freude zu den seelischen Gefühlen gezählt werden. Der Unterschied zwischen den vitalen und den seelischen Gefühlen ist nicht immer eindeutig, er besteht lediglich in einer anderen Gewichtung des Verhältnisses von sinnlichen und intentionalen Momenten. Während bei den vitalen Gefühlen das zuständliche Moment tendenziell dominiert, dominiert bei den seelischen Gefühlen das intentionale Moment. Eine scharfe Unterscheidung gibt es aber zu den rein geistigen Gefühlen, die dadurch bestimmt sind, dass in ihnen das zuständliche Moment völlig fehlt (vgl. Scheler 1913a/1916a: 244–257). Vielleicht sind die harten schematischen Abgrenzungen faktisch kaum zu identifizieren. Man sollte die Unterscheidung daher eher als den Versuch einer idealtypischen Ordnung ansehen, die den Vorzug hat, dass sich erklären lässt, weshalb die verschiedenen Phänomene, die als Gefühle bezeichnet werden, so unterschiedlich sind, man aber dennoch pauschal von Gefühlen spricht.

Eine Fragestellung eigener Art ist nun, in welcher Weise Gefühle die Beziehung zu einem oder zu mehreren Anderen ermöglichen. Schelers Theorie der Intersubjektivität zeigt die zentrale Rolle der Gefühle für nahezu alle Bereiche menschlichen Miteinanders. Immer stiften die Gefühle ein soziales Band zwischen den Menschen. In Wesen und Formen der Sympathie unterscheidet Scheler verschiedene Formen der Sympathie, die er in eine sowohl ontogenetische als auch erkenntnislogische Reihenfolge bringt: Zusammenfühlen durch Gefühlsansteckung ohne Bewusstsein der Individualität des Anderen, Nachfühlen, d. h. Verstehen der Gefühle des Anderen, und Mitfühlen, d. h. Teilnahme an den Gefühlen der Anderen, und Miteinanderfühlen; ferner Liebe und Hass.

Schelers Grundidee ist zunächst folgende: Die erkenntnistheoretische Grundfrage – wie ist die Erfahrung des Anderen möglich bzw. was machen wir, wenn wir die Erfahrung des Anderen machen? – wird zunächst zurückgestellt; zuerst fragt Scheler nach der Begegnung mit dem Anderen, die nicht bzw. noch nicht von dem Bewusstsein begleitet wird, dass der Andere ein von mir unterschiedenes Individuum ist. Diese besondere Form der Intersubjektivität stellt sich, so Scheler, her, indem man die Ausdrucksbewegung eines oder mehrerer Anderer unbewusst nachmacht und so das gleiche bzw. ein ähnliches Gefühl in sich erzeugt. Scheler nennt den Prozess Gefühlsansteckung bzw. Einsfühlung, wenn es sich nur um Gefühlsansteckung zwischen zwei Personen handelt. Ein Beispiel für die Gefühlsansteckung ist die fröhliche Atmosphäre, die entsteht, wenn sich Menschen wechselseitig mit ihrer Fröhlichkeit anstecken. Ansteckend – und hier liegt nun die Verbindung mit der in der Ethik entwickelten Theorie der Gefühle – sind aber nur die vitalen und die seelischen Gefühle, weil nur bei ihnen eine wesensmäßige Verbindung zwischen Ausdruck, Empfindung und intentionalem Gehalt vorliegt. Nur bei vitalen und seelischen Gefühlen wie einer fröhlichen Stimmung oder tiefer Freude ist das Gefühl notwendig mit einem bestimmten Ausdruck verbunden, und nur über den Ausdruck, d. h. das Mitmachen der Ausdrucksbewegungen der Anderen, können Gefühle ansteckend wirken. Rein sinnliche Gefühle wie Schmerzempfindungen und rein geistige Gefühle sind nicht ansteckungsfähig.

Die auf die Gefühlsansteckung folgende Stufe nennt Scheler Nachfühlen. Nachfühlen bedeutet, die Gefühle, den Gemütszustand des Anderen zu verstehen. Scheler wendet sich gegen alle Analogieschluss- und Einfühlungstheorien mit dem Argument, dass das, was es zu erklären gilt, immer schon vorausgesetzt werden muss: Um einem Anderen per Analogieschluss ein Gefühl zuzuschreiben bzw. ihm ein Gefühl einzufühlen, muss ich mit dem Anderen als Anderen schon bekannt sein. Beide Theorien, so Scheler, operieren mit der cartesianischen Unterscheidung von Körper und Geist, wenn sie behaupten, wir würden zunächst einen fremden Körper sehen, der dann, weil er meinem ähnlich sei, in einem zweiten Schritt als lebendig erfahren werde. Scheler bricht mit allen Theorien, die die Erfahrung des Anderen durch ein Schlussverfahren herleiten wollen, und beschreibt die Erfahrung als unmittelbare, weil wir unmittelbar am Ausdruck des Anderen den Anderen als Anderen erfahren, indem wir seinen Gemütszustand verstehen: »Daß jemand mir freundlich oder feindlich gesinnt ist, erfasse ich in der Ausdruckseinheit des ›Blickes‹ lange bevor ich etwa die Farben, die Größe der ›Augen‹ anzugeben vermag.« (Scheler 1923: 281) Ausdruck ist für Scheler der Name für das psycho-physisch neutrale Verhalten des Leibes. Ausdruck ist, so Scheler, das Allererste, »was der Mensch an außer ihm befindlichen Dasein erfaßt« (Scheler 1923: 275). In Wirklichkeit, so Scheler, sehen wir nicht den Körper des Anderen, sondern den Leib und sein Ausdrucksverhalten. Dass sich die Erfahrung des Anderen nicht ableiten lässt, d. h. dass sie nicht rekonstruktiv beherrscht werden kann, bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht in ontogenetischer Perspektive beschreiben lässt. Ontogenetisch vollzieht sich der Prozess, indem ein »in Hinsicht auf Ich-Du indifferenter Strom der Erlebnisse, der faktisch Eigenes und Fremdes ungeschieden und ineinandergemischt enthält« sich allmählich in Eigenes und Fremdes differenziert;

»in diesem Strome bilden sich erst allmählich fester gestaltete Wirbel, die langsam immer neue Elemente des Stromes in ihre Kreise ziehen und in diesem Prozesse sukzessive und sehr allmählich verschiedenen Individuen zugeordnet werden. […] ›Zunächst‹ lebt der Mensch mehr in den Anderen als in sich selbst; mehr in der Gemeinschaft als in seinem Individuum. Belege hierzu sind sowohl die Tatsachen des kindlichen Seelenlebens als die Tatsachen alles primitiven Seelenlebens der Völker. Die Ideen und Gefühle und Strebensrichtungen, in denen ein Kind lebt, sind – abgesehen von den generellen wie Hungern, Dürsten usw. – zunächst ganz und gar diejenigen seiner Umwelt, seiner Eltern, Verwandten, größeren Geschwister, Erzieher, seiner Heimat, seines Volkstums usw. Eingeschmolzen in den familiären Geist verbirgt sich ihm sein Eigenleben noch völlig! […] Erst sehr langsam erhebt es – gleichsam – sein eigenes geistiges Haupt aus diesem über es hereinbrechenden Strome und findet sich als ein Wesen vor, das auch zuweilen eigene Gefühle, Ideen und Strebungen hat. Dies aber findet erst in dem Maße statt, als es die Erlebnisse seiner Umwelt, ›in‹ denen es zunächst lebt, indem es sie mit-lebt, objektiviert und damit ›Distanz‹ zu ihnen gewinnt.« (Scheler 1923: 284f.)

In der Ordnung der Sympathieformen folgen auf der nächsten Stufe die Mitgefühle, d. h. das Miteinanderfühlen sowie die Teilnahme (Mitleid und Mitfreude) an den Gefühlen Anderer. Mitgefühle sind Gefühle eigener Art. Mitzufühlen heißt nicht, die Gefühle der Anderen auch zu fühlen. Das Mitgefühl ist auf das Gefühl des Anderen als dieses Anderen gerichtet (vgl. Schloßberger 2003). Schelers radikale Kritik an bewusstseinsphilosophischen Ansätzen in der Nachfolge Descartes’ zeigt sich auch daran, dass er die Trennung von erkenntnistheoretischer und normativer Perspektive in Frage stellt.Footnote 1 Das ›Verstehen‹ der Gefühle des Anderen ist, so Scheler, in gewisser Weise nur Voraussetzung für die Erfahrung des Anderen, denn die Erfahrung des Anderen im Sinne der Überzeugung ›Mir gegenüber steht wirklich ein Anderer‹ gewinnen wir erst in emotionalen Akten der Teilnahme an den Gefühlen der Anderen; d. h. im Mitgefühl mit dem Anderen und im gemeinsamen Mitfühlen mit Anderen wird der Andere als wirklich erfahren: »Was hier ohne Vorstellung und Begriff unmittelbar erfaßt wird, ist der ›Sinn‹ der Wahrheit, die in Urteilsform übertragen etwa so lauten würde: ›Der Andere ist dir als Mensch, als Lebewesen gleichwertig, der Andere existiert so wahr und echt wie du; Fremdwert ist gleich Eigenwert.‹« (Scheler 1923: 69) Ein ›reines‹ Verstehen des Anderen, so Scheler, führt uns noch nicht aus dem Solipsismus heraus.

Scheler hat aber nicht nur das theoretische Gerüst einer Philosophie der Gefühle entworfen, sondern seine Theorie der Gefühle auch in zahlreiche soziologische und historische Debatten eingebracht. Im Vorwort zur zweiten Auflage von Wesen und Formen der Sympathie schreibt er:

»Erhebliches Interesse an den Sympathieerscheinungen haben ferner Soziologie und Sozialpsychologie zu nehmen. Da alle menschlichen Gruppenformen – von der unorganisierten ›Masse‹ angefangen bis zu den höchsten organisierten Verbänden – neben anderen Kräften – auch durch je besondere Strukturen sympathetischen Verhaltens zusammengehalten werden, ist die Charakteristik dieser Strukturen ein bedeutsamer Teil der Sozialpsychologie, d. h. der Lehre von den sozialrelevanten Akten der Individualseele.« (Scheler 1923: X)

Besonders bedeutend für eine historische und soziologische Perspektive ist das Phänomen der Gefühlsansteckung, vor allem in Hinblick auf den Wandel von kollektiven Einstellungen, die in kollektivem Fühlen wurzeln. Gefühlsansteckung ist (in der Regel) ein wechselseitiger Prozess, der die Tendenz hat, auf seinen Ausgangspunkt zurückzukommen, »so daß die betreffenden Gefühle gleichsam lawinenartig wachsen. Das durch Ansteckung entstandene Gefühl steckt durch die Vermittlung von Ausdruck und Nachahmung wieder an, so daß auch das ansteckende Gefühl wächst.« Alle Massenerregungen, so Scheler, seien durch die »Gegenseitigkeit der sich kumulierenden Ansteckung« (Scheler 1923: 13) zu erklären. Sie führt dazu, dass die handelnde ›Masse‹ über die Absicht der Einzelnen hinausgerissen wird und Dinge geschehen, die so keiner ›will‹ und verantwortet.

Auch für die Deutung der Gegenwart nutzt Scheler seine Erklärung der Gefühlsansteckung, um das Phänomen der allgemeinen Kriegsbegeisterung zu begreifen. In seinem Aufsatz Der Krieg als Gesamterlebnis (vgl. Scheler 1916) deutet er die allgemeine Kriegsbegeisterung als einen Beleg für seine Theorie der Gefühlsansteckung und die damit verbundene Idee überindividueller Gefühle:

»Weg also mit den Willkürkonstruktionen einer falschen Wissenschaft, die da sagt, es sei ein Gesamterleben nur eine sehr komplizierte Zusammensetzung von Erlebnissen einzelner Menschen, vermehrt um ein gegenseitiges Wissen oder Vermuten, auch der jeweils ›Andere‹ werde Ähnliches erleben. Nein! Sonnenklar ist es uns geworden, daß dieses Miteinander des Erlebens, Schaffens, Leidens selbst eine eigentümliche letzte Form alles Erlebens ist, daß in dieser Form einer wahrhaft ›gemeinschaftlichen‹ Denk-, Glaubens- und Willensweise positive und neue Gehalte auftreten, die in keiner möglichen Summe der Erlebnisse Einzelner je liegen können, da sie einer ganz anderen Seins- und Wertzone angehören als die Welt, die dem Einzelnen als Einzelnem zugänglich ist.« (Scheler 1916: 3)

Wie eng Theorie der Gefühle und soziologische Analyse zusammengehören, erweist Scheler im sozialphilosophischen Schlussteil seiner Ethik (vgl. Scheler 1913a/1916a: 540–595), wo er im Anschluss an Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft zwischen Masse, Gemeinschaft, Gesellschaft und deren Synthese im Sozialverband der ›Gesamtperson‹ unterscheidet. Jedem dieser Sozialverbände entsprechen bestimmte Formen menschlichen Miteinanders, die je von ihnen eigenen Formen des Fühlens getragen werden. In der Masse stellt sich das menschliche Miteinander durch bloße Gefühlsansteckung her. In der Gemeinschaft gibt es ein Miteinanderfühlen, ohne dass die Gefühle der Anderen gegenständlich werden. In der Gesellschaft hingegen gibt es bloßes Verstehen, aber keine Gefühlsansteckung und keine Teilnahme. Der Sozialverband der Gesamtperson ist als eine Synthese zu denken, die zugleich mehr ist als bloße Synthese. Die Unterscheidung der Sozialverbände Masse, Gemeinschaft, Gesellschaft und Gesamtperson dient Scheler (wie schon Tönnies) einerseits dazu, sozialpsychologische Entwicklungen in der Geschichte zu markieren, andererseits nutzt er sie, um in einer normativen Einstellung gelungene von weniger gelungenen kollektiven historischen Verkörperungen der menschlichen Natur zu unterscheiden. In den asiatischen Kulturen gibt es, so Scheler, ein Übergewicht an von Gefühlsansteckung getragener Intersubjektivität, während bei den europäischen Zivilisationsmenschen ein einseitiger Rationalismus vorherrscht. Scheler sieht und fordert hier die Möglichkeit eines Ausgleichs, der Herstellung eines vernünftigen Gleichgewichts der verschiedenen Anlagen der menschlichen Natur: zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen kindlicher und erwachsener Seele (vgl. dazu Schloßberger 2019).

3 Wirkung

Erstaunlicherweise ist Schelers Versuch, grundlegende Formen menschlichen Zusammenlebens durch die unterschiedlichen Gefühle zu erklären, die diese Formen bestimmen, bisher kaum rezipiert worden. Schelers Wirkung in der Soziologie ist hauptsächlich durch Alfred Schütz vermittelt (Schütz 1942). Vor allem in der Wissenssoziologie ist Scheler bis in die Gegenwart ausgesprochen präsent, wenngleich auch hier erst neuerdings von Rainer Schützeichel die Bedeutung von Schelers Theorie der Gefühle hervorgehoben wurde (vgl. Schützeichel 2007: 62 f.). Ausgesprochen produktiv arbeitet Hans Joas mit Schelers Idee der Wertbindung durch Gefühle (vgl. Joas 1997: 133–161). In der Sozialphilosophie ist in den letzten Jahren die Stärke des phänomenologischen Intentionalitätsbegriffs gegenüber sprachphilosophischen Ansätzen herausgearbeitet worden (vgl. Schloßberger 2005, Schmid 2005, Vendrell Ferran 2008). In den letzten Jahren hat sich aus der Philosophie kommend eine neue Debatte entwickelt, in der die Frage neu gestellt wurde, was es heißt, etwas gemeinsam zu fühlen, zu tun etc. In dieser Debatte haben sich Schelers phänomenologische Analysen als sehr fruchtbar erwiesen (vgl. Krebs 2015, Schloßberger 2016).