Max Liebermann, die Nazis und das Scheitern der deutsch-jüdischen Symbiose: Dem Traum entsagt

Dem Traum entsagt

Berühmt ist eine Äußerung Max Liebermanns, die dieser Anfang 1933 unter dem Eindruck des Marschtrittes der braunen SA-Bataillone getan haben soll. Es heißt, er hätte in jenen Tagen allein an einem versteckten Tisch im Café Kranzler Unter den Linden gesessen und Fratzen auf die Rückseite der Speisekarte gekritzelt. Ein Kunsthändler aus Brüssel trat an den Tisch, begrüßte Liebermann und fragte: "Ihr Aussehen gefällt mir nicht, Meister. Essen Sie nicht zu wenig? Wie geht es Ihnen überhaupt?" Schlagfertig soll Liebermann in seinem stark berlinernden Tonfall geantwortet haben: "Ach, wissen Se, ick kann jar nich soviel fressen, wie ick kotzen möchte."Für den Maler und Graphiker Max Liebermann (1847­1935), den "Malerfürsten", wie er liebevoll genannt wurde, brach mit dem Machtantritt Adolf Hitlers und der Nazis am 30. Januar 1933 eine Welt zusammen. Er mußte erleben, daß die politischen Veränderungen auch vor der Preußischen Akademie der Künste, deren langjähriger Präsident er gewesen war, nicht haltmachten. Einen Vorgeschmack darauf, wie die neuen Machthaber mit ihnen nicht genehmen Künstlern und Schriftstellern in Zukunft umzuspringen gedachten, erhielt er wenig später.Käthe Kollwitz und Heinrich Mann waren die ersten Opfer einer Säuberungswelle. Auf Geheiß des Reichskommissars Bernhard Rust sollten sie aus der Akademie ausgeschlossen werden, weil sie für die Märzwahlen 1933 eine Proklamation für die Freiheit der Kultur mit unterzeichnet hatten. Der Musiker Max von Schillings, Nachfolger Liebermanns im Amt des Akademiepräsidenten, war als Vollstrecker der Weisung vorgesehen. Liebermann war wie die anderen Akademiemitglieder gezwungen, Stellung zu beziehen. Schon zu diesem Zeitpunkt meinte er, es sei das Beste, aus der Akademie auszutreten. Er zögerte aber noch, weil er der Meinung war, wie er dem Grafiker und Maler Thomas Theodor Heine mitteilte, ein solcher Schritt wäre taktisch ein Fehler und würde ihm als Feigheit ausgelegt werden.Es waren nur einige wenige Mitglieder der Akademie, die sich dem Druck widersetzten. Thomas Mann, Ricarda Huch und Alfons Paquet erklärten ihren Austritt. Rudolf Pannwitz, René Schickele und Jakob Wassermann weigerten sich, die geforderten Ergebenheitsadressen zu unterschreiben. Alle anderen jedoch taten es. Klaus Mann machte Gottfried Benn, der zu denjenigen gehörte, die sich den Nationalsozialisten anbiederten, in einem Schreiben aus dem an der Côte d·Azur gelegenen Sanary-sur-Mer den Vorwurf, er würde seinen Namen denen zur Verfügung stellen, "deren Niveaulosigkeit absolut beispiellos in der europäischen Geschichte ist und von deren moralischer Unreinheit sich die Welt mit Abscheu abwendet".Als die NS-Kulturpolitik sich in den nächsten Wochen weiter verschärfte, hatte Liebermann keine Bedenken mehr, sich von der Akademie zu trennen. Die Erklärung, mit der er seinen Austritt und damit verbunden die Niederlegung des Ehrenpräsidiums am 7. Mai 1933 kundtat, spiegelt seine Enttäuschung und seine Trauer, belegt aber auch, daß er nicht blind war gegenüber den in Deutschland einsetzenden Entwicklungen. Die Erklärung, vielfach zitiert, war eine der letzten öffentlichen Äußerungen Liebermanns. Seine Stimme fand zwar noch Gehör, aber die Menschen verschlossen die Ohren. Sie wollten nichts mehr hören."Ich habe", so Liebermann, "während meines langen Lebens mit allen meinen Kräften der deutschen Kunst zu dienen gesucht. Nach meiner Überzeugung hat Kunst weder mit Politik noch mit Abstammung etwas zu tun, ich kann daher der Preußischen Akademie der Künste, deren ordentliches Mitglied ich seit mehr als dreißig Jahren und deren Präsident ich durch zwölf Jahre gewesen bin, nicht länger angehören, da dieser mein Standpunkt keine Geltung mehr hat. Zugleich habe ich das mir verliehene Ehrenpräsidium der Akademie niedergelegt."Die Austrittserklärung, versehen mit Liebermanns Unterschrift, war so gehalten, daß dem Namen die Bezeichnung "Dr. h.c." vorangesetzt war. Dieser Ehrentitel findet sich unter vielen Liebermann-Briefen. Aber vielleicht wollte Liebermann bei der Austrittserklärung mit der Nennung des Zusatzes "Dr. h.c." sich auf eine ironisch-geistreiche Art und Weise vom neuen Zeitgeist distanzieren. Das hätte durchaus seinem Stil entsprochen, mit Angelegenheiten umzugehen, die ihn aufregten oder schmerzlich berührten.Daß Liebermann Schwierigkeiten hatte, die politischen Entwicklungen und ihre Wirkungen einzuschätzen, belegt ein Gespräch, das er mit Edmund Edel in seinem Haus am Pariser Platz führte, bei dem der junge Peter Edel zugegen war. In diesem Gespräch gestand Liebermann, die Zustände in Deutschland falsch eingeschätzt und manche Entwicklungen falsch gedeutet zu haben: "Ich hab das alles nicht so ernst genommen, wissen Se, so wie unsereiner aufjewachsen is, wie hätt ich denn ?" Und dann bemerkte er: "Mir ist verjangen, womit ich mir immer über was wegjeholfen hab, wenn·s dreckig wurde und jemein: Das Lachen ist perdu."Dem Austritt Liebermanns aus der Akademie war eine Hetzkampagne ohnegleichen vorausgegangen. Am 1. April 1933, dem sogenannten Boykott-Tag, zogen SA-Posten vor den Türen jüdischer Geschäfte und Büros auf, klebten Plakate mit der Aufforderung "Deutsche, wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!" und pöbelten Passanten an, die sie für Juden hielten. Bei der jüdischen Bevölkerung begann sich eine Ahnung einzustellen, wie die Nazis sich künftig verhalten und was von den Schlägerkolonnen zu erwarten war, die randalierend durch die Straßen zogen.Liebermann sah nicht nur mit eigenen Augen judenfeindliche Aktionen, sondern mußte auch miterleben, daß sein Schwiegersohn Kurt Riezler, Kurator und Honorarprofessor an der Frankfurter Universität, aus dem Amt gejagt wurde. Den letzten Ausschlag, der Akademie sein Ausscheiden mitzuteilen, gab vermutlich jedoch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das zur Handhabe wurde, die Preußische Akademie der Künste gleichzuschalten und die Akademiemitglieder jüdischer Herkunft zu entfernen.Auch persönlich hatte Liebermann vor seinem Austritt bittere Kränkungen hinnehmen müssen. Der Bildhauer Hugo Lederer zum Beispiel hatte bereits im Sommer 1932, also noch bevor Hitler und die Nazis an die Macht kamen, die Künstlerschaft ultimativ aufgefordert, Liebermann und seine Malerei ("Schädling der modernen Kunst, Eklektiker, Modellmaler alten Stils") zu boykottieren. Letzterer, so Lederer, habe quasi gegen geheiligte Traditionen verstoßen. In den zwölf Jahren seiner Tätigkeit als Akademiepräsident habe er alles getan, um überkommene "sittliche Werte" zu zerstören.Für jeden, der erkennen wollte, waren diese Unterstellungen reiner Unsinn. Dennoch konnte Lederer mit Zustimmung rechnen, weil seine Angriffe dem "völkischen" Empfinden jener Jahre entsprachen. Verbrämt waren diese mit vorgeschobenen Anschuldigungen wie zum Beispiel der, daß Liebermann ein geradezu zwanghafter Förderer der Moderne sei. Er sei nicht nur, so wurde behauptet, ein "Repräsentant der semitischen Kunst", sondern auch ein erklärter Gegner "deutscher" Kunst, der sich dem Französischen und dem Impressionismus wollüstig hingegeben hätte.Entsprechend wütend waren denn auch die Bemerkungen über Liebermann und die Kommentare, die über ihn und sein Werk abgegeben wurden. Eine Blütenlese ist nachzulesen in dem berühmt-berüchtigten Machwerk "Sigilla veri". Dort bezeichnete man Liebermann nicht nur als einen Menschen ohne Intuition, Seele und Ausdruckskraft, sondern, deutlicher noch, als einen der "Totenvögel des Germanentums", der nichts anderes sei als ein "Diener des Talmud", dem es nur darauf ankomme, mit seiner vorgeblichen "Kunst" Millionen zu scheffeln.Nach dem Januar 1933 waren es nur wenige, die sich auf die Seite Liebermanns stellten, zum Beispiel der Schriftsteller Gerhart Hauptmann, mit dem Liebermann seit Jahrzehnten in freundschaftlichem Kontakt stand. Hauptmann, der Verständnis für Liebermanns Ausscheiden aus der Akademie äußerte, nannte diesen in einem Schreiben einen "Unsterblichen", einen "Stolz der deutschen Kunst". Mut zeigten auch die Redakteure der "Frankfurter Zeitung", die einen offenen Brief des Malers Oskar Kokoschka abdruckten. Kokoschka nannte Liebermann einen "Altmeister", einen "Führer ins Freie", der sich nicht habe bestechen lassen und zu seiner Zeit, als es um die Malerei in den deutschen Ateliers recht muffig bestellt gewesen sei, ein Fenster aufgestoßen habe.Einen kleinen Trost für den Verlust der Akademiemitgliedschaft bot Liebermann ein Brief, der einige Wochen später aus Tel Aviv in Berlin eintraf. Absender waren Chaim Bialik (1873­1934) und Meir Dizengoff (1861­1936). Der Brief, der Bezug nahm auf Liebermanns Austritt aus der Akademie der Künste, enthielt die Nachricht, das Kuratorium des neu errichteten Tel Aviver Kunstmuseums hätte in Würdigung von Liebermanns Verdiensten beschlossen, einen Saal des Museums nach dem Berliner Maler zu benennen.Liebermann, der mit Meir Dizengoff, dem Bürgermeister von Tel Aviv, schon seit längerem in einem freundschaftlichen Briefkontakt stand und der den Schriftsteller Chaim Bialik seit Anfang der zwanziger Jahre aus Berlin her kannte, war dankbar für diese Geste. Er wußte sie zu schätzen, vermutlich auch deshalb, weil Solidaritätsbekundungen zunehmend seltener wurden. In seinem Antwortschreiben vom 28. Juni 1933 zeigt er sich erfreut und empfindet "gerade in diesen schweren Zeiten das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu meinen jüdischen Glaubensgenossen doppelt erfreulich und tröstlich " Bialik und Dizengoff hatten sich mit dieser Geste an Liebermann gewandt, weil sie von dessen Sympathien für den Zionismus wußten. Daß er diesem nicht ablehnend gegenüberstand, kann mit einer Anzahl von Liebermann-Äußerungen belegt werden. Überliefert ist zum Beispiel ein Gespräch, das Martin Buber und Ephraim Moses Lilien mit Max Liebermann dreißig Jahre zuvor geführt hatten. In diesem Gespräch bezeichnete Liebermann den Zionismus als eine Utopie, räumte aber ein, daß es eine "veredelnde" Utopie sei. Martin Buber, der Liebermann damals für seine kulturzionistischen Ziele zu gewinnen versuchte, war von dieser Unterhaltung so beeindruckt, daß er Theodor Herzl mitteilte: "Ich bin in meiner Überzeugung bestärkt worden, daß Liebermann in nächster Zeit Zionist wird."Durch die Jahre hindurch hat Liebermann immer wieder Interesse am Zionismus bekundet. Zionist in dem Sinne ist er jedoch nicht geworden, daß er sich der zionistischen Idee verschrieben und eine Übersiedlung nach Palästina in sein Lebensprogramm eingeplant hätte. Dem Gedanken der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina hat er wohl eher skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. Es heißt, Bialik hätte, als Liebermann ihn 1923 radierte, sich bemüht, diesen für den zionistischen Gedanken zu erwärmen, was ihm aber, folgen wir den überkommenen Berichten, nur bedingt gelungen zu sein scheint.Liebermann war zunächst noch weitgehend vom Funktionieren der deutsch-jüdischen Symbiose überzeugt. Er glaubte, wie die meisten deutschen Juden seiner Generation, es sei möglich, sich als Deutscher zu definieren und Judentum gleichzeitig als Konfession zu begreifen. Er sah deshalb keinen Anlaß, sich mit den zionistischen Lehren intensiver zu beschäftigen. Andererseits war ihm der Zionismus nicht unsympathisch. "Wenn ich", schrieb er am 12. August 1931 an Meir Dizengoff, "auch nicht Zionist bin, denn ich bin von einer früheren Generation, so verfolge ich doch die idealen Ziele, denen er nachstrebt, mit größtem Interesse."Die Debatte, inwieweit Liebermann ein "jüdischer" Maler war, ist in letzter Zeit wieder aufgeflammt. Auf zwei Texte wird dabei besonders Bezug genommen. Zum einen auf einen Aufsatz des Schriftstellers Georg Hermann, den dieser für den von Martin Buber herausgegebenen Sammelband "Jüdische Künstler" geschrieben hatte. Zum anderen auf einen von dem Schriftsteller Richard Dehmel verfaßten Essay mit dem Titel "Talent und Rasse", in dem Dehmel sich entschieden gegen eine Kunstauffassung wandte, die "Kunst anhand der Rassenzugehörigkeit des Künstlers beurteilen wollte" (Christiane C. Schütz).Beide Autoren, Georg Hermann wie Richard Dehmel, verweisen zwar darauf, daß Liebermann jüdischer Herkunft war, haben es jedoch im Gegensatz zu Kunstexperten wie Julius Meier-Graefe oder Karl Scheffler vermieden, diesen als einen expressis verbis "jüdischen" Maler hinzustellen. Feststellungen dieser Art dürfen aber nicht zu dem Mißverständnis führen, Liebermann hätte kein Verhältnis zu seinem Judentum gehabt. Zeit seines Lebens bekannte er sich ausdrücklich zu seiner Herkunft. Überliefert ist, daß er häufig mit Albert Einstein über die sogenannte "Judenfrage" sprach. Bei einer dieser Gelegenheiten soll er erklärt haben: "Ich habe es mein Leben lang so gehalten, daß ich immer zuerst gefragt hab: Was ist das für ein Mensch? Niemals danach, ob einer Jude, Christ oder Heide war. Ich bin als Jude geboren und werde als Jude sterben."Liebermann selbst bezeichnete sich als einen "eingefleischten Juden", womit er vermutlich sagen wollte, er sehe keinen Anlaß, sich seiner "jüdischen" Herkunft in irgendeiner Weise zu schämen. Die letztere Formulierung, die zu Spekulationen einlädt, darf nicht allzu wörtlich genommen werden. Liebermann hat bei dieser Aussage, die er gegenüber Richard Dehmel machte, nämlich im gleichen Atemzug Wert auf die Feststellung gelegt, daß Religion "Privatangelegenheit" sei. Und in der ihm eigenen spöttischen Diktion hatte Liebermann bemerkt, er fühle sich bei aller Sympathie für das Judentum doch als Deutscher und wolle auf seine alten Tage nicht noch "Malermeister in Jerusalem" werden.Der Zeichner und Grafiker Hermann Struck, von dem Liebermann einst verschiedene Techniken des Radierens erlernte, nannte bei der Eröffnung der Liebermann-Gedächtnisausstellung im Februar 1935 in Tel Aviv, die unmittelbar nach dessen Tod organisiert wurde, Liebermann einen "Assimilanten", der sich nicht sonderlich für jüdische Angelegenheiten interessiert habe. Andererseits, so räumte Struck aber in seiner Eröffnungsrede ein, sei Liebermann stets "stolz" auf sein Judentum gewesen: "Er hatte einen universalen Geist, seine religiöse Ausrichtung bezeichnete der Name Spinoza, seine geistige Kultur der Name Goethe." Liebermann verstand sich als "eingefleischter" Jude, gleichzeitig aber auch als Preuße und Deutscher. Mit dieser Einstellung war er ein typischer Vertreter jenes deutschen Judentums, das seine Prägung im 19. Jahrhundert erhalten hatte, keinen Widerspruch darin sah, im täglichen Leben Deutschtum und Judentum miteinander in Einklang zu bringen. Ein Problem sahen Liebermann und die meisten deutschen Juden dabei nicht. Sie begriffen sich, wie das vor 1933 durchaus üblich war, als "deutsche" Staatsbürger, und zwar als Staatsbürger in dem Sinne, daß ihnen alle Rechte und Pflichten zustanden.In einem autobiographischem Fragment, vermutlich aus dem Jahre 1910, machte Max Liebermann kein Hehl daraus, daß er sich dem liberalen Bürgertum zugehörig fühlte und dessen Wertvorstellungen als die seinen ansah. "Da ich 1847 geboren wurde", heißt es in dem genannten Fragment, "ist es nicht zu verwundern, daß meine politischen und sozialen Anschauungen die eines Achtundvierzigers waren und geblieben sind. Obgleich ich oft genug leider vom Gegenteil überzeugt wurde, bilde ich mir ein, daß ­ wie es in der Verfassung heißt ­ jeder Staatsbürger vor dem Gesetz gleich ist."Was Liebermanns Judesein betrifft, so war er sicher kein gläubiger Jude im herkömmlichen Sinn. Fest steht, daß er die jüdischen Ritualgesetze nicht streng befolgt hat; er war auch kein regelmäßiger Besucher der Synagoge. Dennoch fühlte er sich als Jude und in seinem Judesein dem Judentum zugehörig. An Meir Dizengoff schrieb er am 12. August 1931: "Und wenn ich mich durch mein ganzes Leben als Deutscher gefühlt habe, es war meine Zugehörigkeit zum Judentum nicht minder stark in mir lebendig."Wenn man so will, war Liebermann im französischen Sinne ein "Libertin", ein Freigeist, der sein Judentum dadurch bewies, daß er sich als aufgeklärt verstand und sich mit Spinoza und dem Spinozismus identifizierte. Letzteres kam vermutlich auch seinem pantheistischen Weltbild entgegen, das geprägt war von Nüchternheit und Skepsis. Wie viele deutsche Juden der Generation nach Moses Mendelssohn faßte er "Gott" vermutlich nur mehr als unpersönliche Größe und "sachhaftes" Prinzip der Welt auf. Ein Beleg für diese Sicht ist ein Brief, den Liebermann an Franz Servaes am 12. Februar 1900 schrieb. "Ich bin", so heißt es in diesem Brief, "überzeugter Pantheist in Kunst wie in Religion " In verschiedenen Aufsätzen und in einigen seiner Briefe kam Liebermann immer wieder auf Spinoza zu sprechen. Spinoza und Rembrandt waren für ihn Zeit seines Lebens die Vorbilder, die er verehrte und die er nachzuahmen versuchte. Zu beiden hatte er eine sehr persönliche Beziehung aufgebaut, "die sehr viel mehr war als eine übliche Bildungserinnerung". Dem Pädagogen Meir Spanier (1864­1942) gegenüber bekannte Liebermann einmal, er halte Spinoza für einen "wundervollen Geist". Und dem Kunsthistoriker Franz Landsberger (1883­1964) gegenüber äußerte er, ihn beschäftige die Frage, ob Rembrandt Spinoza vielleicht gekannt, und wenn ja, ob ihn dessen Denken beeinflußt und einen Niederschlag in seiner Malerei gefunden habe.Wenn Liebermann auch kein "jüdischer" Maler im eigentlichen Sinne des Wortes war, so galt er vielen deutschen Juden doch als der Inbegriff eines solchen. Zahlreich waren diejenigen, die sich mit ihm identifizierten und sich drängten, von ihm porträtiert zu werden. Zu denen, die das taten und sich in Öl, Kreide, Kaltnadelradierung oder in Federzeichnung abbilden ließen, gehörten bedeutende Persönlichkeiten des Wirtschafts-, Kultur- und Geisteslebens jener Jahre wie Georg Brandes, Albert Einstein, Paul Ehrlich, Hermann Cohen, Chaim Bialik, Samuel Fischer, Bruno Cassirer, Paul von Mendelssohn-Bartholdy, Emil Rathenau, Otto Warburg, Max J. Friedländer und Adolf Goldschmidt.Der wachsende Antisemitismus und die Ausgrenzungspolitik der Nazis brachten Liebermann dazu, sich wieder stärker mit dem Identitätsproblem, das heißt mit seinem Judesein, zu beschäftigen. In den Anfängen der Nazi-Herrschaft hatte er wohl wie die meisten deutschen Juden zunächst noch geglaubt, es sei möglich, auf das Deutschtum der Juden beharren zu können. Ein Beleg für diese Haltung war der Entschluß, für eine Publikation des "Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten", die in dem von Hans-Joachim Schoeps (1909­1980) geleiteten "Vortrupp-Verlag" erschien, eine kolorierte Zeichnung "Frau im Klagegestus unter gesenkter deutscher Flagge auf Sarg sitzend" beizusteuern. Die Zeichnung dokumentiert Liebermanns patriotische Einstellung und erinnert gleichzeitig daran, daß von den mehr als 100 000 jüdischen Frontsoldaten, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, etwa 12 000 gefallen sind.Die Briefe, die Liebermann in seinen beiden letzten Lebensjahren an verschiedene Adressaten schrieb, lassen zunehmende Befürchtungen und nagende Selbstzweifel erkennen. Es wurde ihm immer deutlicher, daß die Zukunft für die Juden in Deutschland düster aussah. Im Gegensatz zu vielen anderen, die meinten, Hitler und der Nationalsozialismus seien ein vorübergehender Spuk, gab Liebermann sich keinen Illusionen mehr hin. "Heute müssen wir", schrieb er am 12. Januar 1934 an Franz Landsberger, "uns um so größerer Nüchternheit befleißigen, indem wir ruhig unserem Handwerk nachgehen und entsagen, besonders dem Assimilationstraum."Für die jüdische Jugend in Deutschland sah Liebermann schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als nach Palästina auszuwandern, "wo sie", so Liebermann in einem Brief an Carl Sachs, "als freie Menschen aufwachsen". Aus verschiedenen seiner Äußerungen wissen wir, daß es ihn geschmerzt hat, Ratschläge dieser Art geben zu müssen. Konsequenzen für sich selbst wollte und konnte er nicht mehr ziehen. Dafür, meinte er, sei er zu alt. Seine Ratschläge galten den Jüngeren, denen, die ihr Leben noch vor sich hatten. Ihnen wollte er helfen, vermutlich weil er ahnte, daß die den Juden und Deutschen gemeinsame Geschichte, eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, die fast zwei Jahrhunderte gedauert hatte, mit Riesenschritten ihrem Ende entgegenging.