Vom Populismus zum „Postpopulismus“
Weder Faschist noch Populist: Für den Politologen Thibault Muzergues ist die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Galionsfigur einer neuen politischen Ideologie, die großen Einfluss auf die Europawahlen im Juni nehmen könnte – der „Postpopulismus“.
Thibault Muzergues, was verstehen Sie unter „Postpopulismus“?
Der Postpopulismus ist ein recht neues politisches Phänomen. Er lässt sich dadurch charakterisieren, dass die Trennung zwischen Volk und Elite (die dem klassischen Populismus zugrunde liegt) allmählich aufgegeben wird und stattdessen eine klassischere Rechts-Links-Spaltung zurückkehrt. Dabei haben sich die Begriffe „rechts“ und „links“ allerdings offensichtlich stark verändert. Die Rechte ist zweifellos rechter geworden. Was die Linke betrifft, so ist es schwer zu sagen, ob sie weiter links steht (wie z. B. Elly Schlein in Italien), oder ob sie nach rechts gerückt ist und sich in eine „Blairsche Linke 2.0“ verwandelt hat, die vor bestimmten Fragen wie der Migration kapituliert (wie z. B. die dänische Linke). Wie dem auch sei, die Koordinaten haben sich verschoben. Aber der Postpopulismus kehrt zu einer Form der Ideendebatte zurück, weil die Linke und die Rechte wieder hinreichend unterschiedliche Angebote machen. In den 1990er und 2000er Jahren gab es einen so großen Konsens innerhalb des politischen Personals, dass die Wähler schließlich das Gefühl hatten, dass die Rechten und die Linken bis auf kleinere Nuancen identisch seien. Nach der Weltfinanzkrise von 2007/2008 allerdings verlangte ein Teil der Wählerschaft nach sehr radikalen, disruptiven Maßnahmen, wodurch sich die politische Landschaft grundlegend verändert hat.
Gibt es bei diesen Postpopulisten dennoch klassisch populistische Elemente?
Die Postpopulisten stellen eine Form der Verschmelzung der Radikalität des Populismus mit den Werten des Establishments dar. Auf der rechten Seite leiht sich der Postpopulismus vom Populismus unter anderem die Anti-Migrationsrhetorik und die Ablehnung des Freihandels. Im Gegensatz zu den Populisten zeigen die Postpopulisten jedoch Respekt für die Institutionen, eine Verteidigung des Wirtschaftsliberalismus im Inneren (weniger Steuern, Abbau von Bürokratie usw.) und sogar eine Verbundenheit mit Europa (natürlich weniger mit den Institutionen als mit der kulturellen Idee). In diesen Punkten entfernt man sich sehr weit vom Populismus, insbesondere von der Verurteilung der repräsentativen Demokratie, die als Illusion angeprangert wird und durch eine „echte“ Demokratie ersetzt werden müsse; und zwar entweder durch starke Führungspersönlichkeiten oder durch andere Formen der Versammlungen und direkter Demokratie vom Typ Occupy Wall Street, die möglicherweise auf Algorithmen und digitale Plattformen gestützt werden. Ähnliches hat die Fünf-Sterne-Bewegung und ihre Plattform Rousseau in den 2010er Jahren bereits erprobt.
Wie kann man das Verhältnis von Populisten und Postpopulisten zueinander also zusammenfasen?
Populisten und Postpopulisten können Verbündete sein, aber sie sind in vielen Punkten auch Gegner. Wir haben eindeutig zwei Modelle, die in Spannung zueinander stehen: Auf der einen Seite gibt es den Populismus von Viktor Orbán, auf der anderen den Postpopulismus von Giorgia Meloni. Es gibt ziemlich harte politische und intellektuelle Gegensätze zwischen diesen beiden Tendenzen. Aber man muss sich auch klar machen, dass man sich in der Politik immer so lange hasst, bis man den anderen braucht.
Dieser postpopulistische Typus wird für Sie besonders deutlich von Giorgia Meloni verkörpert. Zudem betonen Sie immer wieder, dass Italien historisch eine Art Laboratorium ist, in dem häufig politische Neuerungen aufkommen. Wie erklären Sie sich das?
Das hängt mit der einzigartigen Geschichte des Landes zusammen. Italien ist von der Römischen Republik bis heute das Land der politischen und insbesondere demokratischen Experimente par excellence. Hauptverantwortlich dafür waren auch die Stadtstaaten des Mittelalters von denen jeder eine eigene politische Kultur sowie ihre eigenen Wahlmodalitäten hatte. In diesem Klima konnten sich die unterschiedlichsten politischen Ideen entwickeln und einige von ihnen schneller und grundsätzlicher durchsetzen als anderswo.
Blicken wir auf Ihr Heimatland Frankreich. Wie würden Sie Marine Le Pen einordnen? Ist sie eine Populistin oder doch eher eine Postpopulistin?
Marine Le Pen hat eine ziemliche Entwicklung durchgemacht. Sie gab sich lange Zeit als Vertreterin einer „weder links noch rechts“-Rhetorik, die sie allerdings abgelegt hat. Der Grund ist, dass sie realisiert hat, dass Populismus sie nicht in den Elysée-Palast bringen wird. Deshalb versucht sie, ihre Außenwirkung neu auszurichten. Meiner Meinung nach bleibt jedoch ein grundlegendes Problem für sie bestehen, weil sie dem Postpopulismus in zwei Punkten grundlegend entgegensteht: Zum einen in ihrer Ablehnung Europas und zum anderen in ihrer Befürwortung des Wirtschaftsliberalismus. Jordan Bardella, der nicht Marine Le Pens Hintergrund hat, tut sich vermutlich leichter mit der Adaption des Postpopulismus.
Was ist mit Jean-Luc Mélenchon?
Populist zu sein bedeutet nicht unbedingt, die Links-Rechts-Spaltung abzulehnen, solange man sie einer anderen, wichtigeren Spaltung zwischen Volk und Eliten unterordnet. Unter diesem Gesichtspunkt ist Jean-Luc Mélenchon ziemlich eindeutig ein Populist. Er steht in einer Tradition des Linkspopulismus, die übrigens viel älter ist als der Rechtspopulismus und mindestens vom 19. Jahrhundert in Amerika bis zu dem heute von Chantal Mouffe vertretenen Ansatz reicht. Jean-Luc Mélenchon hat in dieser Hinsicht eine sehr klare Strategie. Das sieht man auch an seiner Positionierung im Nahostkonflikt, die ein klarer Versuch ist, die muslimische Wählerschaft in Frankreich für sich zu gewinnen.
Was ist Ihrer Meinung nach bei den Europawahlen zu erwarten?
Es wird Auseinandersetzungen unter rechten Parteien geben. Insbesondere zwischen der Europäischen Volkspartei (EVP), in der sich die „traditionelle“ Rechte versammelt, zwischen der Partei Europäische Konservative und Reformer (EKR), einer eher postpopulistischen Gruppe, und der Fraktion Identität und Demokratie (ID). Trotz dieses Kampfes untereinander werden wohl dennoch linke und Parteien der Mitte die meisten Sitze verlieren und der Block von der Rechten bis zur extremen Rechten wird gestärkt werden. Besonders wird die EVP profitieren. Das klassische Bündnis war das zwischen der EVP, der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D-Fraktion) und den Liberalen von Renew Europe. Ich denke, dass dieses Bündnis fortbestehen wird. Sollte es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten kommen, wird die EVP ein Druckmittel haben: ein Alternativbündnis mit den Liberalen zu ihrer Linken und ausreichend starken Kräften zu ihrer Rechten, um bestimmte Gesetze durchzusetzen (oder zu verhindern). Kurz gesagt, Mitte-Rechts-Parteien werden wohl an Einfluss gewinnen. •
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