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Über die Krisen der Konversation und ihres wichtigen Lebensraums in den Salons während des 19. Jahrhunderts wurde schon viel und kompetent geschrieben.Footnote 1 In dieser Publikation über den Wert der Konversation möchte ich jedoch eine andere Perspektive hervorheben: Beispiele einer zeitgemäßen vielfältigen, anregenden Gesprächskultur in den Pariser und den Berliner Salons.Footnote 2 Die soziale Basis der gebildeten Konversation erweiterte sich durch das Bildungsbürgertum, und es gab neue Impulse, vor allem durch Romantik und Historismus. Die Verbreitung muttersprachlicher Salons in ganz Europa führte zu einem lebhaften persönlichen und kulturellen Austausch (Internationalität der Salonkultur, „Epoche der Weltliteratur“).Footnote 3 Hier wird die jüngere, bescheidenere, aber für die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts sehr aufschlussreiche Berliner Gesprächskultur der Pariser Salonkonversation an die Seite gestellt. Um das Thema nicht ausufern zu lassen, geht es im Folgenden nur um die Gesprächskultur in von Frauen geführten „literarischen“ Salons (wo vorrangig die „litterae“ im weitesten Sinne des Wortes gepflegt wurden).Footnote 4

1 Neue Horizonte um 1800: Revolution, Restauration und Romantik

Um 1800 belebte sich der esprit de conversation in den Pariser Salons. Viele Emigranten waren zurückgekehrt, und an der Spitze der Gesellschaft bemühte sich Joséphine Bonaparte als Gemahlin des Ersten Konsuls und als Kaiserin um traditionelle Werte der Gesprächskultur. 1807 beobachtete die Fürstin-Regentin Pauline zur Lippe, die Kaiserin habe bei einem Empfang sehr freundlich und „individueller“ gesprochen als der Kaiser: „Mit großer Leutseeligkeit versteht sie die liebliche Kunst, jedem und jeder etwas Gefälliges zu sagen, und mit einem Studium von Güte behandelte sie ungesucht diejenigen am zuvorkommendsten, welche der Kaiser vorhin vernachläßigt hatte.“Footnote 5 In der Literatur zu Beginn des Jahrhunderts formulierte man zunächst vor allem die Nostalgie bezüglich der alten, vorrevolutionären Gesprächskultur.Footnote 6 Das Jahr 1789 hatte viele Möglichkeiten eröffnet, den im Salongespräch oft beschworenen Geistesadel auf eine breitere soziale Basis zu stellen (vgl. die Debatte „de vera nobilitate“ im Renaissancehumanismus). Doch gleichzeitig erhob sich das sehr reale Gespenst der ehrgeizig-trivialen Nachahmungen mit zweifelhaftem Geschmack (mondanité fausse). Die sowohl in bescheidenem wie in elegantem Rahmen praktizierte wahre mondanité der Salons – der „Geist des Hôtel de Rambouillet“ (Anne Martin-Fugier) – war durch Liebe zur Konversation geprägt, wollte im Gespräch weiterhin das „savoir“ und das „savoir-vivre“ vereinen und suchte Wege abseits von eleganter Oberflächlichkeit oder langweiliger Pedanterie.Footnote 7

Während die sozio-kulturelle Einordnung der französischen Salongespräche des Ancien Régime hier vorausgesetzt werden kann, muss für die Salonkonversation in Deutschland, die anfangs französisch, dann deutsch war, aber stets die Option der Zwei- und Mehrsprachigkeit behielt, etwas weiter ausgeholt werden. Die frühen Ansätze zur Salonkonversation in Berlin waren in französischer Sprache; nicht zuletzt durch die im 17. Jahrhundert eingewanderten Hugenottenflüchtlinge war man mit der französischen Tradition vertraut – eine wichtige Basis für die Zukunft.Footnote 8 Friedrich der Große klagte, natürlich auf Französisch, über die Vielfalt deutscher Dialekte und setzte hinzu: „Die vornehme Welt spricht Französisch, und die paar Schulfüchse und Professoren vermögen ihrer Muttersprache nicht die Glätte und die leichte Beweglichkeit zu geben, die sie nur in der guten Gesellschaft erwerben kann.“Footnote 9 Auch für Immanuel Kant und Christian Garve war die französische Konversationstradition ganz selbstverständlich ein Muster und Vorbild, die Kenntnis des Französischen in allen gebildeten Kreisen vorhanden.Footnote 10 Henriette Herz nahm Unterricht in französischer Stilistik bei der berühmten Schriftstellerin Mme de Genlis, die 1798 bis 1800 als Emigrantin in Berlin weilte.Footnote 11 Über die Konversation der Berliner Fürstin Luise Radziwill (1770–1836), einer Nichte Friedrichs des Großen, heißt es: „Mit dem ausgezeichnetsten Talent zur Konversation begabt, wußte sie oft einen ganzen Salon, voll der heterogensten und bisweilen nicht unterhaltenden Elemente zu beleben. Sie war vielleicht die letzte Frau unseres Landes, die eine conversation de salon alter Art zu machen verstand: mehr durch schlagende Auffassung, Lebendigkeit des Ausdrucks und der Darstellungsweise, als gerade durch Behandlung tiefgehender Gegenstände.“Footnote 12

Dass man im deutschen Sprachraum weniger Talent und Neigung zur Konversation hatte als in Frankreich, ist teilweise historisch bedingt. Es gab kein allein tonangebendes politisches und kulturelles Zentrum, das Hochdeutsche blieb nicht selten eine Schriftsprache und war im Mündlichen oft überlagert durch lokale Dialekte. Nur langsam, auch durch den Aufschwung des Theaters, erhielt das gesprochene Wort schließlich eine gewisse Politur, zuerst vereinzelt in Residenzen, Universitäts- und Handelsstädten, dann um 1800 in den Salons von Weimar, Wien und Berlin. Die Deutschen brauchten, mehr als die Franzosen, einen Gesprächsstoff in Form von Literatur und Kunst als geselligen Katalysator. Friedrich Schleiermacher analysierte in seinem Fragment „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1799) die ideale Situation freier Konversation über diese Themen unter gebildeten Männern und Frauen. Literatur sei ein verbindender Gesprächsgegenstand, unbelastet von Berufs- und Alltagssorgen, ja  ein Ausblick in andere Welten.Footnote 13 Bevorzugt las man Goethes Werke. Der Dichter legte selbst großen Wert auf Gesprächskultur und äußerte sich darüber u. a. in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ enthält viele Gespräche und beschäftigte die Gemüter als „Künstlerroman“ und „Bildungslehre der Lebenskunst“.Footnote 14 Elisabeth Staegemann (1761–1835), eine Königsberger Salonnière aus dem Freundeskreise Kants, welche 1805 nach Berlin zog, schrieb: „Die Lectüre webt ein neues, geselliges Band unter schönen und verwandten Seelen, und wird zum Dolmetscher dunkler Ideen und Empfindungen.“Footnote 15 Gleichzeitig gab es Fortschritte im Verkehr und in der Konversation zwischen gebildeten Angehörigen verschiedener Stände. Elisabeth Staegemann erklärte: „Der Bürger hat an der Absonderung der Stände so viel Schuld als der Adel. Der letztere legt einen zu großen Werth auf die äußere Verfeinerung seiner Bildung; der erstere bleibt zu unbeugsam bei der innern Cultur des Geistes stehen.“ Und: „Der Mann von Welt gewinnt, wenn er mit dem Gelehrten, der Gelehrte, wenn er mit dem Weltmann sich bekannt macht […].“Footnote 16

Berlin hatte um 1800 nicht einmal 200.000 Einwohner; von einer tonangebenden „Gesellschaft“ oder mondanité wie im Paris des Ancien Régime konnte keine Rede sein. Doch pflegte man den aufgeklärten Diskurs, die Literatur und Künste. Ständische Schranken fielen noch nicht ganz, aber es „war eine aggregathaft geordnete Kultur der Durchlässigkeit und des Nebeneinanders“ (Conrad Wiedemann).Footnote 17 Der Berliner Philosoph Moses Mendelssohn formulierte das Credo, welches dort den Vorstellungen von guter Konversation zugrunde lag: „Eine Sprache erlanget Aufklärung durch die Wissenschaften, und erlanget Kultur durch gesellschaftlichen Umgang, Poesie und Beredsamkeit. […] Heil der Nation, deren Politur Wirkung der Kultur und Aufklärung ist; deren äußerliche Glanz und Geschliffenheit innerliche, gediegene Echtheit zum Grunde hat!“Footnote 18 Im Zeitalter der Französischen Revolution und der Frühromantik bekam die Aufklärung neue Impulse durch revolutionäre Gedanken. Die Konversationsideen der Frühromantiker kreisten um einen dynamischen, kreativen Begriff der Poesie. Ein Dialog zwischen Autor und Leser („Sympoesie“) wurde eröffnet, man proklamierte die Autonomie der Kunst, relativierte literarische Normen und interessierte sich für mittelalterliche Dichtung und die Vielfalt der Literaturen.Footnote 19 Friedrich Schlegel, der später Mendelssohns älteste Tochter Brendel (Dorothea) Veit heiratete, schrieb: „Alle Gemüther, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eignen Leben das Verschiedenste suchen […]; in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden.“Footnote 20

Den Zeitgenossen erschien es als nahezu revolutionär, dass die frühe deutsche Konversationskultur in Wien und Berlin ganz wesentlich von jüdischen Frauen geprägt wurde. In Berlin begeisterten sich junge Frauen aus dem Umfeld Moses Mendelssohns für literarische Gespräche und leisteten im Zeichen von Aufklärung und Haskala einen Beitrag zur Entstehung der deutschen Kulturnation.Footnote 21 Schleiermachers „Theorie des geselligen Betragens“ spiegelte seine Erfahrungen im Salon von Henriette Herz (1764–1847), die später schrieb, „der Geist“ sei damals „ein gewaltiger Gleichmacher“ gewesen.Footnote 22 Freundschaftlicher Umgang (Konversation) unter Gleichgesinnten schuf die Basis für eine hundertjährige Salonkultur jüdischer und christlicher Gastgeberinnen, in der es keine Rolle spielte, welcher Religion man angehörte. Ein der französischen Tradition verwandtes Talent zum Bonmot, das viele Salonnièren und Gäste jüdischer Herkunft auszeichnete, verband sich mit dem Wiener, Berliner oder Pariser Witz. Géneviève Bizet-Straus (1849–1926), die Witwe von Georges Bizet, erwiderte ironisch-graziös auf einen Bekehrungsversuch, sie habe zu wenig Religion, um sie zu wechseln.Footnote 23 Auch in den Pariser Salons des 19. Jahrhunderts hatten Gastgeberinnen und Gäste jüdischer Herkunft einen wichtigen Platz.

Der philosophische Kopf unter den Salonnièren war Rahel Levin-Varnhagen (1771–1833), deren Konversation von Menschenliebe und kompromisslosem Nachdenken geprägt war: „Mittheilend, theilnehmend, in jeder Minute“.Footnote 24 Offen ging sie auf ihre Gäste ein und ließ jede mögliche Toleranz walten: „Nur die [Rücksicht] der geselligen Sitte fordere ich, denn das darf ich nicht erlassen.“Footnote 25 Sie beschrieb die Gespräche in ihrem Salon der Jahre um 1800 als „Konstellation von Schönheit, Grazie, Koketterie, Neigung, Liebschaft, Witz, Eleganz, Kordialität, Drang die Ideen zu entwickeln, redlichem Ernst, unbefangenem Aufsuchen und Zusammentreffen, launigem Scherz […].“Footnote 26 Man versuchte auch in Berlin anzuknüpfen an den „esprit Hôtel de Rambouillet“, obgleich das gesellschaftliche Leben im Vergleich zu Paris fast noch provinziell war. Bei Rahels Zusammentreffen und Unterhaltung mit der Meisterin französischer Konversation, Anne Louise Germaine Baronin de Staël-Holstein (1766–1817) im Jahre 1804 wusste jede der Frauen die Genialität der anderen anzuerkennen, doch blieb es bei einer biographisch bedingten Distanz. Ich fasse mich kurz, weil Mme de Staël in diesem Band ausführlich von Brunhilde Wehinger behandelt wird, doch muss die kleine Fehde über deutsche Gesprächskultur erwähnt werden, welche eine Passage in Mme de Staëls Buch „De l’Allemagne“ (1813) auslöste: Die deutschen Frauen hätten „nur sehr selten jene geistige Beweglichkeit, die die Unterhaltung belebt […]“ – so etwas fände man „nur in den anregendsten und geistreichsten Gesellschaftskreisen von Paris“.Footnote 27 Caroline Baronin de la Motte-Fouqué (1773–1831) machte unverzüglich in ihrer kleinen Schrift „Ueber deutsche Geselligkeit in Antwort auf das Urtheil der Frau von Staël“ (1814) darauf aufmerksam, dass diese die deutsche Geselligkeit nicht wirklich beurteilen könne.Footnote 28 Die Kritik war in den Details keineswegs befriedigend, fand jedoch viel Zustimmung. Rahel Varnhagen brachte es auf den Punkt: „Der lieben Staël ihr Buch ist für mich nichts anders, als ein lyrischer Seufzer, nicht die Konversation in Paris machen zu können […].“Footnote 29 Allerdings räumte Frau von Fouqué selbstkritisch ein, dass die Deutschen „zwischen Verkünstelung und unerzogener Natur“ schwankten. Sie forderte deshalb für das Gespräch eine „Poesie des Lebens, die aus dem Gemüthe kommt: Güte und Liebe, […] Wohlwollen, mitempfindendes Verstehen, williges Gewährenlassen und standhaftes Selbstbehaupten“ und betonte: „[…] sie allein gönnen der Grazie freien Zutritt und hauchen Seele in das vorüberrauschende Wort.“Footnote 30

In den Berliner Salons der Biedermeierzeit blühte die Konversation als Mischung von klassischen und romantischen Einflüssen in eleganten und eher bescheidenen Salons. Persönlichkeitskultur und Goetheverehrung standen oft im Mittelpunkt; die romantische „Poetisierung“ des Lebens und Verschmelzung der Kunstgattungen äußerte sich besonders in der Pflege der Liedkultur (auch vertonte Gedichte), und man diskutierte über natürlichen Vortrag und „Bravourgesang“. Die romantische Konversationstheorie betonte das Spontane, Dynamische und Kreative der „Poesie“, stand jedoch nicht im Gegensatz zur französischen Tradition. Adam Müller beschrieb im Jahre 1812 die Strukturen guter Konversation mit musikalischen Metaphern: Gemeinsame „Ideen“ und verschieden geartete „Naturen“ entwickelten sich wie das Wechselspiel von Grundharmonie und Modulationen verschiedener Stimmen in der Musik als unendliche Variationen. Dabei bezieht er sich auf das Vorbild der französischen Konversation im 17. Jahrhundert (Maß, Takt). Er spricht von einem „harmonische[n] Grundverhältnis, welches die frühere französische Sprache, Konversation, Gesellschaft und Literatur auszeichnet“ und das der leichtesten Phantasie eben so günstig sei wie den ernsten Bestrebungen des Geistes. Seine Formulierung legt nahe, dass er auch an die Salonkonversation dachte: Unter den Worten der französischen Sprache herrsche ein ebenso „graziöses“ Verhältnis wie zwischen „Personen in der Gesellschaft“ – das Französische sei „aus einem lebendigen Gespräch“ hervorgegangen.Footnote 31

Die Restauration der Pariser Salonkonversation nach der Restauration der Bourbonendynastie 1814/15 wurde kompliziert durch die verschiedenen politischen Richtungen innerhalb der Gesellschaft. Selbst die tonangebenden legitimistischen Salons vertraten ein breites politisches Spektrum. Dass die Zeit des „Absolutismus“ der Salonkonversation mit der Rolle der Salonnière als „directrice de l’opinion“ vorbei war, musste allerdings kein Nachteil sein: Salonkonversation war ja im Prinzip selbst pluralistisch strukturiert. Durch Exil, Fremdsprachen und Reisen hatte sich der Horizont aristokratischer Damen sehr erweitert. Blanche Herzogin de Maillé (1787–1851) deutete an, man lebe eben nicht mehr nur in der und für die Gesellschaft, sondern wechsle vom Salon ins Schreibkabinett.Footnote 32 Die elegante Konversation war ernsthafter geworden, mehr auf Inhalte bezogen, aber variabel. Das zeigte die souveräne Gesprächsführung von Armande de Richelieu, Marquise de Montcalm (1772–1832), die grundsätzlich an den klassischen Mustern orientiert war. Sie praktizierte das wichtige Prinzip guter Causerie, nichts aus der Konversation auszuschließen, was der Unterhaltung dienen konnte; für das wissensdurstige 19. Jahrhundert konnten auch ernste Gespräche vergnüglich sein. Die Eleganz ihrer Sprache und Haltung war noch Rokoko, doch ging sie mit der Zeit und urteilte gerecht über manchen Fortschritt.Footnote 33 Auch in den politischen Salons bemühte man sich um eine distanzierte, abwägende Haltung. Das gelang z. B. der Diplomatentochter Adèle d’Osmond, Gräfin Boigne (1781–1866), die Ludwig XVIII. nahestand, eine liberale Monarchie vertrat und nach der Julirevolution 1830 als Freundin der Königin Marie-Amélie und des Kanzlers Pasquier manche Interna erfuhr.Footnote 34 Es bestand u. a. ein enger geselliger Austausch mit den Salons der Herzogin Dorothea von Dino, Talleyrand und Sagan (1793–1862), der Lebensgefährtin Talleyrands, und der Fürstin Dorothea Lieven (1785–1857), der Freundin Metternichs und Guizots.

Die neue „égalité“ kultivierter bürgerlicher Frauen in der Konversation der guten Gesellschaft personifizierte Juliette Récamier (1777–1849) während der Blütezeit ihres Salons in der Abbaye-aux-Bois. Nach dem frühen Tod ihrer Freundin Mme de Staël trat sie in geselliger Hinsicht deren  Nachfolge an, pflegte jedoch einen anderen Stil der Konversation. Sie leitete das klassische „allgemeine Gespräch“ auf ihre eigene zurückhaltende, kluge und humorvolle Art (spätere Lobeshymnen der Verehrer schadeten ihr oft, ironisch wurde sie eine „Madonna der Konversation“ genannt).Footnote 35 Mme Récamier blieb im Hintergrund, gab Stichworte für Erwiderungen und ermunterte durch Blicke und Gestik. Das „savoir-vivre“ ging Hand in Hand mit dem „bien-dire“ – hübsche Formulierungen wurden vorgezeigt wie ein Kunstwerk. Die Konversation wirkte offenbar so anregend wie eine „geistige Tasse Kaffee“ (Mary Clarke-Mohl).Footnote 36 Der Schachzug Mme Récamiers, ihren Freund Chateaubriand aus dem Manuskript seiner „Mémoires d’outre tombe“ lesen zu lassen, bewahrte diesen nicht nur vor dem Ennui, sondern sicherte ihrem Salon einen Platz in der Literaturgeschichte der französischen Romantik. Das Echo bei den Zuhörern war gemischt, doch für Gesprächsstoff war gesorgt.Footnote 37 Anfangs hatte die französische Romantik einen schweren Stand. Alfred de Vigny warf der Konversation 1828 pauschal eine Trivialität vor, die dem Dichter und der Poesie keine Chance lasse. Bissig schrieb er, die Franzosen liebten weder Lektüre, noch Musik und Poesie, sondern die Gesellschaft, die Salons, den Esprit und die Prosa. Doch bald schon interessierte man sich in den Pariser Salons für die Fehde zwischen Klassikern und Romantikern und fand zu einer gerechten Würdigung der neuen Richtung.Footnote 38 Umgekehrt wurde in Deutschland, wo die Poesie durch den Wortreichtum der deutschen Sprache freies Spiel hatte, oft über einen undisziplinierten Prosastil geklagt. Polemisch warf später Friedrich Nietzsche der deutschen Prosa vor, ohne die „Anmuth der guten französischen Schriftsteller“ zu sein. Nietzsches Kritik stieß in der für guten Stil empfänglichen Berliner Salongesellschaft des späten 19. Jahrhunderts auf großes Interesse.Footnote 39 Der Dichter Robert Comte de Montesquiou unterhielt sich um 1900 gern mit deutschen Gästen über Goethe und meinte: „J’aime cette Allemagne romantique.“Footnote 40 Hier sei die These gewagt, dass die Vereinigung von französischem Stil und französischer Sicherheit in der Form mit (ursprünglich deutscher oder englischer) „Poesie“ und romantischer Kunsttheorie die Salonkonversation besonders bereichern konnte.

2 Fallstudien europäischer Konversation: Frau von Olfers und Mme Mohl als Salonnièren im Geist der Romantik und des Historismus

Das 19. Jahrhundert war ungeachtet seiner nationalistischen Tendenzen auch eine Zeit der gegenseitigen Wahrnehmung der europäischen Literaturen, Kunst und Wissenschaft.Footnote 41 Kulturell begann Europa zusammenzuwachsen, Reisen der europäischen Salongesellschaft wurden durch die Dampfschiffe und Eisenbahnen erleichtert. Goethe hielt 1827 die Epoche der isolierten Nationalliteraturen für beendet und proklamierte eine internationale Welt der Literatur, ja eine Epoche der „Weltliteratur“.Footnote 42 An der Theorie der Salonkonversation änderte sich trotz mancher Einflüsse des romantischen Zeitgeistes (besondere Betonung von Spontaneität und Kreativität usf.) im Grundsatz nichts. Sie wurde den aktuellen Bedürfnissen und dem jeweiligen Stil der Gastgeberin angepasst, wie das auch früher der Fall gewesen war (dem Ideal perfekter Konversation musste man ja stets unter sich wandelnden Bedingungen nachstreben). Wichtig und neu für das Verständnis der Konversationskunst an sich war allerdings die von Friedrich Schlegel formulierte Erkenntnis der Romantik: „Die Theorie der Kunst ist ihre Geschichte.“Footnote 43 Das bedeutete für die Kunst der Salonkonversation, dass die alten normativen Prinzipien zwar nicht überflüssig wurden, dass man sie aber – relativiert – in ihrem historischen Kontext sah. Man fragte nach der historischen Entwicklung der Gesprächskultur. Einige Aspekte der hier angedeuteten Thematik lassen sich an zwei Salons veranschaulichen, deren Gastgeberinnen das Erbe von Mme de Staël und Mme Récamier (Mme Mohl) sowie von Elisabeth Staegemann (Frau von Olfers) antraten.

Ein Musterbeispiel für die Pflege „romantischer“ Konversation in Berlin ist der Salon der literarisch und künstlerisch begabten bürgerlichen (erst 1816 geadelten) Familie des Staatsrats Friedrich August Staegemann. Elisabeth Staegemanns Salon (in Berlin ab 1805) existierte drei Generationen lang und behielt stets eine romantische Prägung, welche künstlerische Kreativität und Persönlichkeitskultur mit der Grazie liebenswürdigen Umgangs verband. Hier verkehrte auch Heinrich von Kleist, der bezüglich der Konversation wie Mme de Staël gern von einer elektrischen Aufladung der Wechselrede sprach und erklärte: „Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idée vient en parlant“.Footnote 44 Ähnliches zeigte sich, wenn Kleist bei Staegemanns aus seinen Dramen vorlas. Die Tochter Hedwig erinnerte sich: „[…] er begann meist zaghaft, fast stotternd, und erst allmählich ward sein Vortrag freier und feuriger.“Footnote 45 In der Staegemannschen Salonkonversation spiegelte sich auch die frühromantische Gesprächstheorie Friedrich Schlegels, der das Schöpferische und Gesellige der Poesie in Verbindung mit der Persönlichkeitskultur betonte: „Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe“, aber, so Schlegel, wie jeder seine eigene Natur hat, so trägt auch „jeder seine eigne Poesie in sich.“ Im Gespräch kann und muss der Dichter „streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern […]. Ja für den wahren Dichter kann selbst das Verkehr mit denen, die nur auf der bunten Oberfläche spielen, heilsam und lehrreich seyn. Er ist ein geselliges Wesen.“ Das Gespräch zwischen „Dichtern und dichterisch Gesinnten“ über die Poesie sei nicht nur nützlich, sondern auch reizvoll.Footnote 46 Durch die Teilnahme zahlreicher  junger Leute herrschte in den Dichterkreisen und Salons oft eine spontane, halb spielerische Konversation, die teilweise ihrer Eigendynamik überlassen wurde. Angesichts der damaligen Shakespeare-Begeisterung könnte man das als poetischen „civil war of wits“ bezeichnen.Footnote 47

Die siebzehnjährige Hedwig von Staegemann (1799–1891) berichtete selbst über einen Abend im Herbst 1816, als sich der Dichter Clemens Brentano, ein Freund ihres Bruders August, zum Kreis der jungen Leute im Staegemannschen Salon gesellte. In Vertretung ihrer Mutter war sie vorübergehend die Dame des Hauses: „Wir saßen alle um einen großen runden Tisch, und es entstanden lebhafte, amüsante Gespräche. Unter anderem kam es auf Brentano. Einige sprachen für, andere wider ihn. Man verglich ihn mit [Ludwig] Tieck, und August rief: ‚Wie kann man nur Brentanos oft einseitigen Humor mit Tiecks großartigem Geist und gemütlichen Witz vergleichen wollen!‘ und in diesem Augenblick sieht ein schwarzer Lockenkopf durch die Türe, und Brentano tritt mit dem spitzen, satyrischen Lächeln […] herein. Wir Mädchen kicherten, und die jungen Männer zogen lange Gesichter. Er sprach viel und witzig, setzte sich auf den Sofa und fing an mit August Bataille zu spielen […].“ Dann zog er „einige Manuskripte aus der Tasche, woraus er uns vorzulesen versprach. Ich sollte zwischen einigen slavischen Gedichten [in deutscher Übersetzung] wählen und entscheiden, welches in [Friedrich] Försters Taschenbuch, das nächstens im Druck erscheint, aufgenommen werden sollte. Ich verbat es und bat Brentano, lieber die allegorische Komödie, welche er kürzlich geschrieben, uns vorzulesen. Er tat es – unterdessen kam die Mutter zu Hause, und wohl an zwanzig Menschen krümelten sich zusammen. Wie sehr diese Komödie uns belustigt, kann ich Dir nicht beschreiben. […] Einige Lieder hatte er selbst wunderschön komponiert und sang sie teils uns vor. Beim Abschiede sagte er mir: ,Gute Nacht, Viktoria‘, nach der Heldin seines Stückes.“Footnote 48 Manche Gespräche konnten damals unmittelbar kreativ werden – die Dichtkunst und das Verseschmieden wurden gleichermaßen gepflegt. Aus einem poetischen „Schreibespiel“ der „Donnerstag-Jugend“ bei Staegemanns entstanden 1816 die von Ludwig Berger komponierten Ur-Müllerlieder (gedichtet von Wilhelm Müller, Hedwig Staegemann und Wilhelm und Luise Hensel). Sie wurden von Wilhelm Müller zum Zyklus der „Müllerlieder“ ausgebaut, welcher später in Schuberts Vertonung berühmt wurde.Footnote 49

1823 heiratete Hedwig Staegemann den Diplomaten Ignaz von Olfers. Nach mehreren Jahren in Neapel und Bern übernahm sie 1835 den Salon ihrer verstorbenen Mutter. Drei heranwachsende Töchter standen ihr bald zur Seite, insbesondere die Dichterin und Malerin Marie von Olfers (1826–1924).Footnote 50 Der Gästekreis war international, und seit der Ernennung Ignaz von Olfers’ zum Direktor der Königlichen Museen (1839) wurde der Salon von Hedwig von Olfers auf Wunsch König Friedrich Wilhelms IV. auch ein Treffpunkt für auswärtige Künstler. 1847 schrieb der Münchner Maler Wilhelm von Kaulbach: „[…] seidene Kleider rauschten, und die Konversation ertönte in allen Sprachen […]“. Leider gebe es „nur Tee, Tee, Tee, und sehr kleine, kleine Butterbrötchen, aber in reichlichem Maße Kunstgespräche.“Footnote 51 Man diskutierte indes auch über die Klassiker und die moderne Literatur. Im Oktober 1855 entbrannte eine Diskussion über Leben und Werk von George Sand. Marie von Olfers nahm entschieden Partei für die Dichterin: „[…] die Frauen haben es immer schlimm in der Öffentlichkeit […]. Ich wollte die Frau sehen, der man es verziehe, Liebesereignisse, wie sie in Goethes Leben [passierten], von sich zu erzählen, und hätte sie auch Goethes Feder dazu.“ Am gleichen Abend berichtete der Hausfreund Heinrich Abeken von einem Aufsatz über Goethe und Mme de Staël im Cottaschen „Morgenblatt“. Es ging um Übersetzung des Gedichts „Der Fischer“ ins Französische. Bekanntlich lockte dieser die Schützlinge der Wasserfee „hinauf in Todesglut“. Mme de Staël hatte „Todesgluth“ mit „air brulant“ übersetzt, also auf die Sonnenhitze bezogen. War das korrekt? Alle Anwesenden wurden befragt. Endlich kam die Auflösung: Goethe habe Mme de Staël berichtigt, „und sagte ihr, es sei die Kohlengluth in der Küche, an welcher die Fische gebraten würden.“ Es folgte ein ungläubiger Aufschrei der Gäste. Nur Friedrich Wilhelm Graf Redern hatte „Das Küchenfeuer“ gesagt und Goethes Diktum richtig erraten (oder er kannte den Aufsatz schon). Man überlegte, ob Goethe sich wohl einen Scherz erlaubt habe. Marie von Olfers ließ sich nicht von der Kohlenglut überzeugen: „Hat er [Goethe] aber wirklich Küchenfeuer gemeint, so hat sein Gedicht besser gesprochen als er selbst, denn ich glaube, darauf kommt weiter niemand.“Footnote 52 Auch als sich seit den 1870er Jahren die Olferssche Geselligkeit auf die intimere Form des literarischen Teetischs beschränkte, blieb das Gespräch äußerst angeregt und die enge „romantische“ Verknüpfung und Verschmelzung von Poesie, Musik und bildender Kunst erhalten. Nach dem Tod der 92jährigen Hedwig von Olfers (1891) schrieb Anna von Helmholtz, mit ihr, der „Heldin des Müller Liedes“ gehe wohl das letzte Stück des alten literarischen Berlin der Romantik zu Grabe: „Sie war […] die liebenswürdigste, hübscheste, geliebteste aller alten Damen. Zierlich wie Tante [Mme Mohl], stets zur Conversation bereit, ein anmutiges Stückchen Weiblichkeit vergangener Zeiten und Erscheinungen.“Footnote 53

Das interessanteste Pariser Beispiel für eine internationale Konversation im Zeichen von Romantik und Historismus findet sich den 1840er bis 1870er Jahren im Salon von Mary Clarke-Mohl (1793–1883). Sie war in der Abbaye-aux-Bois eine Untermieterin, Freundin und Schülerin Mme Récamiers gewesen, doch ihr Temperament glich mehr dem Mme de Staëls. Als gebürtige Britin, langjährige Freundin Claude Fauriels und Ehefrau des deutschen, in Paris forschenden Orientalisten Julius Mohl verkörperte Mary Clarke-Mohl eine Synthese aus modernem Intellekt, alter französischer Konversationskunst und romantischer Spontaneität. Ihr Schwager, der württembergische Professor Robert (von) Mohl schrieb: „Sie spricht mit Geist und Witz, ist von erstaunlicher Lebendigkeit und voll Interesse für alles Geistige, hat den Ton der besten Gesellschaft und ein feines Verständnis für die Forderungen derselben, wenngleich sie sich manches erlaubt, was einer deutschen oder französischen Frau nie einfallen würde. Ihr Wesen ist ein höchst eigentümliches Gemisch von italienischer disinvoltura, französischer Grazie und englischem, kerngesundem und gewissenhaftem Verstande.“Footnote 54 Sie liebte das Theater ebenso wie wissenschaftliche Vorträge, warb für Shakespeare und die Romane Sir Walter Scotts und war eine Freundin Elizabeth Gaskells und Florence Nightingales. Der weite Horizont des Salons schloss auch die Literaturgeschichte des Mittelalters und des Grand Siècle (Fauriel, Jean-Jacques Ampère, Victor Cousin) und die Dichtung des Orients ein. Julius Mohl (Professor am Collège de France) widmete seine Forschungen vor allem dem alten persischen Epos Schahnameh (Schāhnāme) von Firdusi (Firdausi). Eine internationale Elite durchaus unterschiedlicher Weltanschauungen traf sich hier ohne Pedanterie oder Steifheit. Vernunft und Höflichkeit waren Mme Mohl wichtig, sonstige Konventionen und äußere Eleganz interessierten sie nicht (Guizot soll erklärt haben, sie und sein schottischer Terrier hätten den gleichen Friseur).Footnote 55 Als Leopold von Ranke sie 1852 besuchte, verwickelte ihn Mme Mohl sofort in  ein „Gespräch über die Rahel“, in dem der Historiker ein fabelhaftes Französisch unter Beweis stellte.Footnote 56 Ihre junge Nichte Anna Mohl lebte ab 1852 einige Zeit bei ihr in Paris – als Frau von Helmholtz praktizierte sie später Konversation auf höchstem Niveau in ihrem Berliner Salon.

Mme Mohl beschäftigte sich intensiv mit den historischen Wurzeln der Konversationsgeselligkeit und versah ihre Biographie Mme Récamiers (1862) mit einer kleinen Geschichte der französischen Salons.Footnote 57 Als Nachlassverwalterin Claude Fauriels betonte sie stets die große zivilisatorische Rolle der französischen Frauen seit der chevaleresken Troubadourkultur der Provençe im 11./12. Jahrhundert. Konversation im Kreise der Damen sei schließlich gleichberechtigt neben die Festkultur getreten, im Hôtel de Rambouillet habe man den elegant formulierten Austausch von Gedanken und Gefühlen zur geselligen Kunstform erhoben.Footnote 58 Wie Mme de Staël, das Idol ihrer Jugend, sah Mme Mohl die wichtigste Inspiration in der Unterhaltung im Wechselspiel von Geist, Gefühl und Sprache. Sie erläuterte das so: Wirkliche Konversation sei eine Unterhaltung, in welcher individuelle Vorstellungen durch die gesellige Situation angeregt und unter Einsatz von Vernunft und Phantasie auf den Punkt gebracht würden. Solcher Gedankenaustausch, insbesondere das Umsetzen von Ideen in anschauliche Sprache, seien grundlegende soziale Bedürfnisse und ließen die Menschen im Gespräch manchmal über sich hinauswachsen.Footnote 59 Als „Seele“ des lebendigen Gesprächs (im Gegensatz zum trockenen Diskurs) betrachtete sie die Anschaulichkeit und die persönliche Anteilnahme.

Natürlich unterhielt man sich bei Mme Mohl – wie in den Salons des 17./18. Jahrhunderts – gern über Sprachpflege und die Verhandlungen der Académie Française. Mme Mohls Französisch war ausgezeichnet, mit einem leichten Flair des 18. Jahrhunderts.Footnote 60 Anna Mohl berichtet über eine Unterhaltung mit Prosper Mérimée (1853): „Er sprach von der Académie Française und von deren Verbesserungen an der französischen Sprache. Tante meinte, daß vieles in Pedanterie ausarte, allein Merimée lehnt dieses ab. Als ich ihn fragte, ob alle diese Verfeinerungen dem Menschengeschlecht Nutzen bringen oder auch nur von dem kleinsten Teil desselben verstanden werden würden, da antwortete er mir: erstens habe nur ein unendlich kleiner Teil der Menschen Geschmack und dieser dürfe nicht seines Vergnügens beraubt sein, weil Andere dasselbe nicht zu schätzen wissen. Wie wenige wissen, eine Madonna von Raffael zu beurteilen und kennen deren Wert; deshalb ist sie aber nicht weniger schön und vollkommen!“Footnote 61 Unterhaltungen über die Brief- und Konversationskultur des Grand Siècle, über Mme de Sévigné und ihre Tochter entwickelten sich im Salon Mme Mohls zu einem ebenso rational wie emotional geführten Gedankenaustausch. Anna Mohl schrieb über einen Besuch Victor Cousins: „Cousin kam auf sein Steckenpferd, Mme. de Longueville, zu sprechen, mit einem Enthusiasmus, als ob er sie täglich gesehen habe. Übrigens scheinen ihn die Damen der Fronde stark impressioniert zu haben. Madame de Chevreuse und Madame la Palatine vergleicht er an Klugheit und Capazität mit Mazarin und Retz. Mme de Sévigné setzt er zum Teil weniger hoch als ihre Tochter [Mme de Grignan], was Onkel [Julius] sehr alterierte. […].“Footnote 62 Julius Mohl war ein begeisterter Verehrer Mme de Sévignés.

3 Erinnerungskultur, Wissenschaft und Künste in der Salonkonversation des späten 19. Jahrhunderts

Überfüllte, heterogen zusammengesetzte Empfänge der „Großen Welt“ beeinträchtigten die Konversation. Selbst im Salon der Schriftstellerin Gräfin Anastasie de Circourt (1808–1863) wurde zuletzt über eine laute, „sehr eklektische, sehr gefüllte, sehr gemischte […] Gesellschaft“ geklagt – es sei „eher eine Betäubung als eine Unterhaltung“ gewesen.Footnote 63 Die hektische Gegenwart förderte in den Salonkreisen offenbar auch ein „antiquarisches“ Verhältnis zur Geschichte, insbesondere die Pflege einer oft sehr persönlich geprägten Erinnerungskultur.Footnote 64 Häufig  verband sich das mit der Lust am Fabulieren und Mythologisieren. Die Malerin und Schriftstellerin Virginie Ancelot (1792–1875) z. B. dichtete eine Komödie über das Hôtel de Rambouillet und widmete sie Mme Récamier (1842). Doch konnte Mme Ancelot auch scharf analysieren und formulierte eine (mit den Vorstellungen Mme Mohls eng verwandte) treffende Definition der Konversation unter sozio-kulturellen Aspekten der Urbanität (angeregte Unterhaltung und ständiger Gedankenaustausch in einem vertrauten Umgangskreis mit ähnlichen Wertvorstellungen).Footnote 65

Eine an historische „Monumentalität“ anknüpfende Perspektive findet sich im Salon der Prinzessin Mathilde Bonaparte (1820–1904). Die Tochter von Jérôme Bonaparte und Katharina von Württemberg verehrte ihren Onkel Napoleon I. und beschäftigte sich mit der Familiengeschichte, hielt sich indes von der Tagespolitik fern. Prinzessin Mathildes interessante Jugenderinnerungen vermitteln einen Eindruck von ihrem sprachlichen Stil.Footnote 66 Sainte-Beuve half ihr, einen literarischen Salon aufzubauen, der während des Zweiten Kaiserreichs und auch noch in der Dritten Republik bestand, mit „Freiheit des Geistes und der Unterhaltung“. Die Brüder Goncourt bewunderten sie als eine Frau, welche „durch eine vertrauliche Redeweise, durch die Lebhaftigkeit von allem, was ihr durch den Kopf geht […], jeden in angenehme Laune versetzt.“ Prinzessin Mathilde freute sich über das Buch der Brüder Goncourt „Die Frau im 18. Jahrhundert“ (1862), bedauerte indes, dass sich moderne Frauen „nicht mehr für künstlerische Dinge, für die Neuerscheinungen der Literatur interessieren […].“ Sie könne nur mit den wenigsten Frauen eine gute Unterhaltung führen.Footnote 67 Auch bürgerliche Salonnièren und Schriftstellerinnen pflegten historische Interessen. Da Judith Gautier (1845–1917), die Tochter Théophile Gautiers und Freundin Richard Wagners, viele Größen aus Literatur und Kunst kennengelernt hatte und gern davon erzählte, charakterisiert Vincent Laisney ihren Salon ausdrücklich als „sociabilité du souvenir“.Footnote 68

Eine ähnliche Erinnerungskultur gab es in den Berliner Salons. Auffallend ist, wie geistig präsent auch dort noch die Nachklänge des französischen Grand Siècle waren. Als Hildegard von Spitzemberg (1843–1914), eine alte Freundin Bismarcks, nach dessen Tod gelegentlich von internen Details erzählte, kommentierte Harry Graf Kessler: „Das Gespräch [war] etwas wie wenn man bei der Lektüre […] der Sévigné einmal ein paar Fragen […] an Madame de Grignan stellen könnte.“Footnote 69 Bei der Fürstin Marie Radziwill geb. de Castellane (1840–1915) überschnitt sich die Geschichte der Salonkonversation ganz erheblich mit der ihrer Vorfahren. Sie war eine Enkelin der Herzogin Dorothea von Dino, Talleyrand und Sagan und führte in Berlin bis ins 20. Jahrhundert einen eleganten Salon in französischer Sprache, der von vielen Politikern und Diplomaten aufgesucht wurde.Footnote 70 Jules Cambon, 1907–1914 französischer Botschafter in Berlin, fand Worte der höchsten Bewunderung für die Kunst ihrer Konversation („Elle avait à l’extrême le goût de la conversation et savait, d’un mot, provoquer et exciter les causeurs“).Footnote 71 Die Fürstin zeigte gern ihre Erinnerungsstücke an Talleyrand und hatte viel vom Konversationstalent ihrer Großmutter geerbt, deren Briefe sie 1909 publizierte. Gern sprach sie auch über die Zeit Ludwigs XIV. – die Schriftstellerin Marie von Bunsen (1860–1941) schreibt: „Wir ereiferten uns über den Herzog von St. Simon und Frau von Maintenon und fanden uns in der Bewunderung über Frau von Sévigné, ihrer Ahnin.“Footnote 72 In einigen Salons schlugen sehr betagte Gesprächspartner sogar persönliche Erinnerungsbrücken zu längst versunkenen Epochen. 1911 traf Walther Rathenau im Salon Babette Gräfin Kalckreuths (1835–1916) mit Marie von Olfers und ihrer Schwester Hedwig Abeken zusammen und ließ sich von ihnen aus der spätromantischen Schinkelzeit erzählen, von Rahel Varnhagen, Bettine von Arnim usf. Er schrieb, es sei für ihn etwas Spezielles gewesen, dass er, der „Elektrikerjunge“ (sein Vater war Gründer der AEG) im frühen 20. Jahrhundert noch einmal den „Zauberring der Romantik“ habe berühren dürfen.Footnote 73

Konversationstradition und moderne Wissenschaft begegneten sich  im Berliner Salon von Anna von Helmholtz geb. Mohl (1834–1899). Die „Lehrzeit“ im Salon ihrer Tante hatte sicher einigen Anteil daran, dass sie in der Bismarckzeit mit ihrem Salon souverän an die Spitze der Berliner Gesellschaft rückte, schon lange bevor ihr Mann, der große Gelehrte Hermann Helmholtz, den Adelsbrief erhielt.Footnote 74 In ihrem Hause verkehrte neben den Hof- und Salonkreisen eine internationale Elite aus allen Bereichen von Wissenschaft und Kunst. Insbesondere die Medizin, die Naturwissenschaften und die Technik waren vertreten. Hermann von Helmholtz betonte 1891: „Die Wissenschaft und die Kunst sind zur Zeit ja das einzig übrig gebliebene Friedensband der civilisierten Nationen […].“Footnote 75 Anna von Helmholtz hatte bezüglich der Konversation in ihrem Salon keine leichte Aufgabe, doch es gelang ihr auch bei großen Gesellschaften, die Menschen ins Gespräch zu bringen, je nach Bedarf in deutscher, französischer und englischer Sprache. Ihr Stil beeindruckte selbst anspruchsvolle französische Beobachter: „Von hervorragendem Geist und feinster Erziehung, zeichnet sie sich gleichzeitig durch jene vornehmen Manieren aus, die man außer in den Kreisen der Aristokratie in Berlin selten findet. Sie empfängt mit einer Anmut und Ungezwungenheit, um welche die Gattin manches Gesandten sie beneiden könnte. Obgleich sehr befreundet mit der Kaiserin Friedrich und mit der literarischen Welt im engsten Verkehr stehend, ist sie weder hochmütig, noch blaustrümpfig […]. Ihr Salon ist unbestreitbar einer der hervorragendsten und intelligentesten in Berlin und frei von jeder Pedanterie. Professoren, Offiziere, Musiker, Schriftsteller, Engländer, Franzosen, Russen begegnen sich dort in einem gewählten Kreise. Ich habe es erlebt, daß die Herrin des Hauses mit ihrer leicht ironisch angehauchten Anmuth die Unterhaltung in französischer Sprache leitete, wie es eine geistvolle Pariserin nicht besser gemacht hätte.“Footnote 76 Hier fand – wie bei Mme Mohl in Paris – europäische Konversation im besten Sinne statt, als gesamteuropäische Begegnung von Kunst, Kultur und Wissenschaft.

Im Spitzenbereich der Pariser Konversationskunst engagierte sich die schöne, hochbegabte Élisabeth Gräfin Greffulhe (1860–1952) für Musik, Ballett, Kunst und Literatur, entwickelte indes auch eine Vorliebe für Gespräche mit Physikern und anderen Naturwissenschaftlern.Footnote 77 Anders als Anna von Helmholtz hatte die Muse Marcel Prousts zwar keinerlei Vorkenntnisse, doch das tat der gegenseitigen Anregung offenbar keinen Abbruch. Élisabeth de Gramont erklärte, der Zauber dieser Gespräche habe darin gelegen, dass es sich um ein sehr viel subtileres Phänomen gehandelt habe als um ein direktes Verständnis.Footnote 78 Schon der Berliner Psychologe und Philosoph Moritz Lazarus hatte 1878 darauf hingewiesen, dass in der Konversation „Wissenschaft“ und „Wirklichkeit“ zusammenwachsen könnten, wenn gut geführte Gespräche abstrakte Zusammenhänge mit Leben erfüllten.Footnote 79 Offenbar wirkten Mme de Greffulhes aufrichtige Begeisterung und ihre Wissbegier überaus faszinierend, und das Aufeinandertreffen ganz unterschiedlicher Denkweisen bzw. die Notwendigkeit des allgemeinverständlichen Erläuterns inspirierte mitunter auch die Fachleute. Man fühlt sich an das 17. Jahrhundert und das Interesse in den Pariser Salons für die damalige Naturforschung erinnert. Die Konversation Mme de Greffulhes scheint in der modernen Welt noch einmal alle Qualitäten klassischer Gesprächskunst auf graziöse Weise vereint zu haben.Footnote 80 Für Salongespräche hatte stets die sehr persönliche weibliche Perspektive eine besondere Rolle gespielt. Angesichts von Frauenemanzipation und akademischer Frauenbildung im frühen 20. Jahrhundert warnte die Berliner Malerin und Salonnière Sabine Lepsius (1864–1942) ausdrücklich vor der Pedanterie nüchterner Diskussion. Im Salon als „Frauenschöpfung“ müsse man auf „öde Sachlichkeit im Gespräch“ verzichten: Die „weibliche Frau“ setze „ihren Stolz darein“, „persönlich zu bleiben – auch in der Beurteilung sachlicher Fragen. Schließt doch die Sachlichkeit alle Intuition aus […].“Footnote 81

In der Musik bildete sich durch das Zusammenwirken großer Teile der europäischen Salongesellschaft ein internationales Netzwerk der Konversation für das Werk Richard Wagners. Sehr früh, im Zweiten Französischen Kaiserreich, nahm sich in Paris die Botschafterin Österreich-Ungarns, Fürstin Pauline Metternich (1836–1921), Wagners an und setzte es durch, dass dort  1861 der „Tannhäuser“ aufgeführt wurde. In Berlin trafen sich die Anhänger des Komponisten im Salon von Marie (Mimi) Freifrau (ab 1879 Gräfin) von Schleinitz (1842–1912), einer Freundin Cosima Wagners. Die Gräfin war weltgewandt und eine Verehrerin Goethes, „ihre große Leidenschaft galt jedoch der Wagnerschen Musik“.Footnote 82 Sie heiratete in zweiter Ehe Anton Graf Wolkenstein, der in den 1890er Jahren österreichischer Botschafter in Paris war; auch dort pflegte sie die Musik und verstand es „das Gespräch zu einem Kunstwerk zu gestalten“.Footnote 83 Das ganze Netzwerk des Wagnerkreises wurde dominiert von Cosima Wagner, die öfters nach Berlin kam und dort eine souveräne gesellschaftliche Stellung innehatte. Anna von Helmholtz schätzte ihre Konversation und schrieb 1891, die Wirkung ihrer Persönlichkeit liege „in der Ruhe, der Höhe aller Anschauungen, im Zauber der Rede, die nie banal, allgemein oder unpersönlich ist und nur Selbstgedachtes in der größten Einfachheit sagt […]. Ich hatte neulich ein Dîner von zwanzig Personen – lauter gelehrte Herren und ungelehrte Frauen. Cosima hatte nach einer halben Stunde alle ganz bezaubert. Mommsen und Dilthey, Virchow, Siemens […] und was noch mehr sagen will, ebenso die Gattinnen.“Footnote 84 Freilich spielte Cosima Wagner ihre Dominanz oft rücksichtslos aus: Anna von Helmholtz klagte einmal über die „Wahnfried-Hörigkeit“ der Gräfin Schleinitz-Wolkenstein.Footnote 85 Geradezu undankbar verhielt sich Cosima Wagner gegenüber Judith Gautier, die sich jahrzehntelang für die Sache Bayreuths eingesetzt hatte. Als diese auf den reizvollen Gedanken kam, 1898 den „Parsifal“ privat in ihrem Salon als Marionettentheater mit Gesang aufzuführen, zu rein karitativen Zwecken, intervenierte Cosima Wagner und drohte mit rechtlichen Schritten.Footnote 86 Sehr erfolgreich engagierte sich die Gräfin Greffulhe dafür, dass 1899 der „Tristan“ und 1902 die „Götterdämmerung“ in Paris auf die Bühne kamen. Helene von Nostitz (1878–1944), eine Enkelin des deutschen Botschafters Georg Fürst Münster, schrieb über Mme de Greffulhe: „Es war immer ein Ereignis, wenn sie in einem Salon erschien. […] Wenn sie redete, kam eine ungewöhnlich gut geformte Sprache aus ihrem Munde, dessen feine, geschwungene Lippen immer eine zugespitzte Repartie bereithielten. […] Mit unnachahmlicher Grazie und Kultur stellte sie sich oft in den Dienst der Vermittlung zwischen Frankreich und Deutschland.“Footnote 87

Eine besonders wichtige deutsch-französische Verbindung in der bildenden Kunst schuf das Berliner Ehepaar Bernstein, ihr Vetter war Charles Ephrussi von der Gazette des Beaux-Arts in Paris. Der Jurist Professor Carl Bernstein und seine Frau Felicie (1852–1908) brachten schon 1882 die ersten impressionistischen Gemälde nach Berlin, die damals umstritten waren, doch bald einen neuen Horizont erschlossen.Footnote 88 Debatten bei Bernsteins stellten u. a. Weichen für die spätere Gründung der Berliner Sezession: „Solche Gespräche wurden von der Wirtin nicht unterbrochen, auch wenn sie sich ernst und leidenschaftlich gestalteten, und doch wußte sie zu verhindern, daß sie in Richtungsstreitereien ausarteten.“Footnote 89 Im Jahre 1900 öffnete Cornelie Richter (1842–1922), die jüngste Tochter Meyerbeers, dem Jugendstil das Tor zur Berliner Gesellschaft. In ihrem Salon hielt Henry van de Velde im Frühjahr 1900 seine revolutionären Vorträge zur modernen Innenarchitektur. „Nachher wurde mit […] näheren Freunden das Für und Wider erörtert. Eine Schärfe kam selten in ein solches Gespräch, das meistens eben nur Gespräch blieb […].“Footnote 90 Zur Kunst des Gesprächs gehörte auch die Freiheit von unmittelbarem Handlungszwang.

4 Strukturen der Salonkonversation im 19. Jahrhundert: Rahmen, Mechanismen und Entfaltung der Gespräche

Salonkonversation im 19. Jahrhundert konnte sowohl im bescheidenen wie im eleganten Rahmen stattfinden, doch ein fundamentaler Unterschied bestand in der Bewirtungsart der Salongeselligkeit, d. h. in der Entscheidung „Tisch“ oder „Tee“. Bei einer Tischgesellschaft war man in der Lage, durch die Zusammenstellung der geladenen Gäste eine harmonische Unterhaltung vorzubereiten, wenn man die „Kompositionslehre der Geselligkeit“ verstand und die Gäste gut „kontrapunktierte“.Footnote 91 Eine reine Konversationsgeselligkeit mit einfacher Bewirtung in Form eines Tees (allabendlich oder als jour fixe) stand hingegen allen im Hause eingeführten Personen offen. Hier war die Anzahl und Zusammensetzung der Gesellschaft nicht vorhersehbar. Es musste viel improvisiert werden, was reizvoll sein konnte, ggf. aber auch schwierig. In Berlin dominierten zunächst die reinen Konversationssalons, später gab es auch hier zusätzlich häufige Einladungen zum Essen. Oft wurde behauptet, die Gesprächskultur sei durch zunehmenden Tafelluxus erstickt worden, und in Paris wie in Berlin kursierte um 1900 der Witz, manche Dame glaube, einen Salon zu führen, sie habe jedoch nur einen Speisesaal. Kenner erklärten freilich mit Recht, dass dort, wo die Konversation wirklich im Mittelpunkt stehe, ein gutes Essen auch nicht schaden könne.Footnote 92 Vorwiegend in Paris gab es noch eine dritte Variante: Auf eine Tafelrunde mit geladenen Gästen folgte eine offene Teegesellschaft für den ganzen Bekanntenkreis. Das gewährleistete eine florierende Unterhaltung für den ganzen Abend, selbst wenn sich nur wenige oder schlecht harmonierende Zufallsgäste einstellten.Footnote 93 Gespräche spät abends konnten auch die amüsante Funktion einer „Konversation über die Konversation“ haben. Mme Mohl meinte: „Ich ziehe es vor, meine Freunde bei mir zu empfangen, nachdem sie die großartigeren Bälle oder Empfänge verlassen haben. Dann hört man die Bemerkungen, die Geistesblitze, die vernünftigen Ansichten und die satirischen Glossen, die sich während ihres unfreiwilligen Schweigens den ganzen Abend über aufgestapelt haben.“Footnote 94 – Musik, Dichterlesungen und die Aufführung dramatischer Szenen konnten die Konversation in den Salons mitunter ergänzen.

Die alte Form des „cercle“, die noch zu Beginn des Jahrhunderts verbreitet war, wurde mehr und mehr abgelöst durch locker arrangierte Sitzgelegenheiten, die zum Gespräch in kleinen Gruppen einluden.Footnote 95 In Berlin war oft das „allgemeine“ Gespräch am Teetisch der Mittelpunkt des Salons. Bei größeren Gesellschaften mussten allerdings zusätzliche Gesprächskreise geschaffen werden. 1864 berichtete Marie von Olfers: „Ich stiftete lauter kleine Kolonien in den Ecken, die sehr gut gediehen. In einer […] wurde gestritten, was einem lieber wäre: der wirkliche Wallenstein – der Schillersche, die wirkliche Johanna – die Schillersche, überhaupt: ob die dichterische Person oder die wirkliche!“ Woanders meinte jemand, „die Kunst sei ein Affe und von der Nachahmung her entstanden. Ich meinte, entstanden durch die Sehnsucht nach dem Ideal […]. Was sie in der dritten und vierten Ecke gesprochen, weiß ich nicht, aber es war ein Geschrei und ein Eifer, als käme wer weiß was dabei heraus.“Footnote 96 Ausgesprochen dirigistisch, aber höchst erfolgreich löste Anna von Helmholtz bei sehr großen Gesellschaften langweilige Gruppenbildungen von alten Bekannten oder Kollegen auf, um sie „in Gesprächen, die für alle gleich anziehend waren, in neuer Ordnung wieder zu verbinden. Mit unvergleichlicher Gewandtheit nahm sie den kurzen Steckbrief des Wohlergehens, der letzten Reise oder Berufsangelegenheiten auf, um so schnell und unvermerklich wie möglich zu einem Gespräch überzugehen, das in seiner Bedeutung weit über die Gesellschaftsunterhaltung hinausging, wenngleich sie den ‚Weltton‘ niemals außer Acht ließ.“Footnote 97 Als manche Salons um 1900 bisweilen Teile der Bohème in den Gästekreis integrierten, wurde die Konversation oft etwas lauter. Die humorvolle Baronin Bertha von Arnswaldt (1850–1919) in Berlin besaß eine kleine Bronzeglocke, mit der sie ihren Kreis zur Ordnung rufen konnte.Footnote 98 Eine möglichst ununterbrochene Kontinuität des Salons und seiner Stammgäste, eine stabilitas loci sowie ein harmonisches Ambiente wirkten sich positiv auf die schöpferische Muße und die Konversation aus. Über den Salon der alten Marie von Olfers heißt es: „Der Strudel der Berliner Hast drang nicht in diese stillen Räume, wo die Rauchschen Büsten und alten Biedermeiermöbel den seelischen Ausdruck der Bewohnerin ausstrahlten. Hier mäßigte sich jeder übereilte Schritt, und das Wort fand bald die Verbindung mit dem inneren Erleben vor dem ruhigen, hellblauen Auge der Dichterin.“Footnote 99

Die Salonnière musste bei der Leitung und Durchführung der Konversation zugleich zuhören, sprechen und dirigieren können, sie gab den „Ton“ eines Gesprächs an. Mme de Maillé schrieb, man dürfte ebenso wenig „conversations sérieuses“ ablehnen wie sich grundsätzlich der „causerie frivole“ verweigern – das eine sei dumm, das andere pedantisch. Die Abwechslung verbanne die Langeweile.Footnote 100 Varietas delectat, oder, wie Hedwig von Olfers zitierte: „Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux“ (Voltaire).Footnote 101 Es gab auch noch den allgemeinen Ton der guten Gesellschaft einer Epoche. Im Berlin der 1820er Jahre etwa galt „die leichte Ironie“ als „der beste Gesellschaftston“, daher müsse man „seine besten Seiten, und das sind immer die ernsthaften, in Scherz verkleiden“. Das freilich könne manchmal zur Künstelei führen. Je enger und vertrauter der Umgangskreis, desto mehr könne man im Gespräch „ganz natürlich“ sein.Footnote 102 Eine solche Natürlichkeit setzte indes wie zu Zeiten Mme de Sévignés ein gewisses Maß an verinnerlichten Werten und Formen voraus, einen Stil, das Gespür für das Passende. Auch „Esprit“ wird immer wieder als Desiderat der Salonkonversation genannt. Das Wort ist freilich vieldeutig und missverständlich. Für Mme de Maillé war der französische Esprit nicht primär mit dem Amüsanten verknüpft, sondern mit Takt, einem hochentwickelten Geschmack, einem Gespür für die feine Nuance.Footnote 103 Anne Martin-Fugier verweist auf den wichtigen Unterschied zwischen „avoir de l’esprit“ und „faire de l’esprit“ im Sinne des 19. Jahrhunderts. Beides brauchte man, denn lediglich Geist zu „haben“ (Bildung, Intelligenz) barg sogar die Gefahr trockener Pedanterie. Hingegen konnte „faire de l’esprit“ ein ganzes Feuerwerk von Bemerkungen und Erwiderungen veranlassen. Es handelte sich um eine Art kommunikative Phantasie bzw. die Fähigkeit, Anregungen und Stichworte zu geben sowie verbale Knalleffekte vorzubereiten.Footnote 104 Mme de Maillé berichtet von Mme de Montcalm, sie habe es meisterhaft verstanden, eine allgemeine Konversation in Gang zu setzen und zu dirigieren – manchmal so gut, dass sie selbst fast nicht mehr zu Wort kam.Footnote 105 In Berlin galt Bertha von Arnswaldt als „Entflammerin“ von Gesprächen, und von Fürstin Marie Radziwill heißt es, sie habe „mit einem Wort“ die Konversation herausfordern und in Schwung bringen können.Footnote 106 Der Schriftsteller und Pressemann Arthur Meyer schrieb, auch im Hinblick auf die Konversationskunst der Gräfin Greffulhe, eine gute Salonnière müsse sozusagen den Tennisschläger präsentieren, aber nicht selbst nach dem Ball schlagen.Footnote 107 Wenn eine Beobachtung von Mme de Circourt zutrifft, hatte das allerdings auch Gefahren. Mme de Circourt sprach im Zusammenhang mit der Fürstin Lieven von einer Art Berufskrankheit, die bedeutende Salonnièren befallen konnte. Sie seien so daran gewöhnt, die Konversation im eigenen Salon zu leiten – eher andere zum Sprechen zu bringen als selbst zu sprechen –, dass sie anderswo, unter vielen, manchmal eher langweilig und gleichgültig wirkten.Footnote 108

In bestimmten Situationen musste sich die Gastgeberin stärker als sonst in die Konversation einschalten, z. B. wenn die Unterhaltung abflaute. Ab und zu musste sie dem Gespräch diskret eine andere Richtung geben oder Platitüden zurechtrücken, wie es Mme Récamier so taktvoll verstand: „[…] eine liebenswürdige, niemals aber verletzende Satire bringt oft Salz und Leben in abgedroschene Gegenstände […].“Footnote 109 Zur Konversationskunst Rahel Varnhagens gehörte ein spezielles Talent, ihre Beobachtungen auf individuelle Weise sprachlich anschaulich zu machen: „[…] das Leben zu fassen; und manchmal barock, in komisch- oder tragischer Hülle, es zu nennen was ich sah.“Footnote 110 Ganz ähnlich verstand es Felicie Bernstein, „von erhöhtem Standpunkt aus“ und mit Humor erfrischende Anekdoten zu erzählen: „Ihr passierte stets Merkwürdiges: natürlich lag das Merkwürdige nicht in dem objektiven Tatbestand, sondern in ihrer subjektiven Auffassung des Erlebnisses. Und im Erzählen ihrer Erlebnisse war sie Meisterin“ (Max Liebermann).Footnote 111 Welterfahrung und Menschenkenntnis waren hilfreich: Die Kunst der Konversation bei Mme Straus profitierte von ihrer intuitiven Hellsichtigkeit gegenüber den Gedanken und Gefühlen ihrer Gesprächspartner ebenso wie von ihrem „esprit de repartie“.Footnote 112 Stilsichere Salonnièren durften sogar prekäre Themen ansprechen. Die Berlinerin Henriette von Crayen geb. Leveaux (1755–1832) hatte ein bewegtes Leben hinter sich, las gelegentlich aus Briefen ihres „musée d’amour“ und verkörperte den esprit de conversation des Rokoko noch in der Biedermeierzeit.Footnote 113 Marie von Bunsen berichtet, die greise Hedwig von Olfers habe ihren Kreis gelegentlich „durch freimütige Äußerungen auf bedenklichem Gebiet“ entzückt und Fürstin Radziwill habe die „einnehmende französische Befähigung“ besessen, „sehr gewagte Aussprüche, so die ihres wenig ehrbaren, um so witzigeren Neffen Boni de Castellane leicht und sicher vorzubringen.“Footnote 114 Da die Konversation ein Gemeinschaftsprodukt war, sollten auch möglichst viele Gäste einen Sinn für leichte Causerie, literarische Anspielungen und Bonmots haben. Höflichkeit und bei den Herren die Galanterie im passenden Ton gehörten natürlich auch dazu. Man respektierte das Individuum, die Eigenheiten, ja selbst die Eigentümlichkeiten der Gesprächspartner. Esprit und Urteil durften sich allerdings nicht vordrängen. Fürst Anton Radziwill, Gemahl der Prinzessin Luise und Komponist einer Schauspielmusik zu Goethes „Faust“, pflegte von „Parade-Ochsen“ zu sprechen, wenn jemand im Gespräch allzu selbstgefällig mit Paradoxien glänzen wollte.Footnote 115 Herman Grimm schrieb über Hedwig von Olfers: „Was sie sagte, trug immer den Schein gelegentlicher Aeußerung, und wenn sie den Nagel auf den Kopf traf, schien sie selber am meisten überrascht.“Footnote 116

Die deutsche Salonkonversation in ihren besten Formen glich der französischen durchaus, hatte indes eine Besonderheit – sie durfte stets ein wenig Dialektfärbung annehmen, vom musikalischen Wienerisch bis zu plattdeutschen Wendungen in Norddeutschland. In Berlin wurde der volkstümliche Dialekt scherzhaft oder emphatisch in die Konversation eingestreut, und oft griff man auf umgangssprachliche Formulierungen zurück, um ein unerwünschtes Pathos zu vermeiden.Footnote 117 Selbst die Fürstin Marie Radziwill verzierte ihre französischen Briefe bisweilen mit Blüten des Berliner Volkswitzes.Footnote 118 Es blieben auch französische Wendungen präsent. Als Marie von Olfers im Sommer 1848 die freiheitsdurstige Bettine von Arnim und eine ultrakonservative Bekannte Arm in Arm auf der Straße sah, kommentierte sie: „les extrêmes se touchent“.Footnote 119 An der Seine waren Dialekte nicht salonfähig, doch gab es das spezielle Pariser Großstadtflair als Lokalkolorit. Élisabeth de Gramont schreibt, Mme Straus sei als jüdische Pariserin eine besonders überzeugte („doppelte“) Pariserin gewesen. Jede Nuance der Pariser Atmosphäre habe sich im Salon von Mme Straus gespiegelt.Footnote 120

Da es hier um den Wert der Konversation geht, kann nicht auf die vielen Formen von mondanité fausse und verfehlter „Salonkonversation“ eingegangen werden, wie sie z. B. die Brüder Goncourt im Salon der Paiva (1819–1884) erlebten.Footnote 121 Es sollen nur kurz einige Beispiele genannt werden, die im Salonalltag das Eingreifen der Gastgeberin verlangten. 1801 musste Rahel Levin-Varnhagen einmal spontan improvisieren, als sich jemand einen unpassenden Witz erlaubt hatte und verlegenes Schweigen drohte. Sie entschärfte die Situation mit dem Ausruf „Ich weiß auch Saugeschichten“ und ging nach einer harmlosen Derbheit schnell zu einer französischen Anekdote über, die sie anmutig, „rasch und komisch“ erzählte. „Alles fühlte sich wie befreit, und lachte aus vollem Herzen […].“Footnote 122 Angemessene Umgangsformen wurden auch in den eher lockeren Salons der Frühromantik unbedingt verlangt. Üble Nachrede duldete man in guter Konversation nicht: Obwohl Mme Mohl das Regime Napoleons III. scharf ablehnte, verteidigte sie in ihrem Salon die Mutter der Kaiserin Eugénie gegen böswilligen Klatsch.Footnote 123 In politisch angespannten Zeiten konnten politisch erfahrene Salonnièren im Gespräch Brücken schlagen. In Berlin versuchte man sogar in der Revolutionszeit 1848, höflich und diplomatisch zu bleiben. Als die königstreue Hedwig von Olfers im August 1848 den liberalen Karl August Varnhagen zu Gast hatte, steuerte sie die Unterhaltung taktvoll an vielen Klippen vorbei. Notfalls halfen Exkurse über das schöne Wetter und die grünen Bäume: „Kam man auf gefahrvolle Stellen, so bekam die Konversation wieder einen Ruck nach der pastoralen Seite.“Footnote 124 Eine schwere Belastung für die Pariser Salonkonversation war die Dreyfus-Affäre (1894–1906), welche mit ihrer Polemik die öffentliche Meinung spaltete und gesellschaftliche Beziehungen zerbrechen ließ. Mme Straus verteidigte den Hauptmann Dreyfus, und auch Gräfin Greffulhe setzte sich für eine Revision des Prozesses ein. Doch selbst in Gesprächen über ernste Angelegenheiten gab es bisweilen heitere Momente. Felicie Bernstein erzählte gern, dass sie einmal die Tischdame Émile Zolas gewesen war. Allerdings wusste sie nichts über die Familienverhältnisse des Verfassers der berühmten Streitschrift „J’accuse“. Als sie ihm ihre Teilnahme ausdrückte, dass er im Londoner Exil (1898/99) so lange von seiner Frau getrennt gewesen sei, strahlte er sie an: „[…] die Zeit in London war die glücklichste meines Lebens“.Footnote 125 Die Gräfin Greffulhe hatte Freunde und Bekannte in allen politischen Lagern und vermochte durch ihre Konversation oft vermittelnd einzugreifen; man nannte sie daher die „Königin der Versöhnung zwischen der alten Aristokratie und der Dritten Republik“ (Enrique Larreta).Footnote 126

Salonkonversation zu dirigieren, konnte anstrengend sein, wenn man schwierige Gäste hatte. Frau von Olfers bekannte einmal ehrlich, sie habe sich an ihrem letzten „Donnerstag“ als „miserable Wirtin“ gefühlt: „Es standen verschiedene tête à tête herum, die sich ineinander verbissen hatten und aus Verlegenheit nicht wieder loskommen konnten, aber wenn man mir ein Königreich für eine Phrase gegeben hätte, ich konnte sie nicht liefern, dachte auch immer, jetzt werden sie doch wieder in den gemeinsamen Hafen einlaufen.“Footnote 127 Mme Daudet erlebte auch bei Tischgesellschaften mit illustren Gästen, dass das Gespräch bisweilen enttäuschend verlief. Sie schloss daraus, man solle nicht mehr als zwei große Männer zusammen einladen – zu viele Tenöre in einer Oper, zu viele Virtuosen in einem Orchester seien eher hinderlich.Footnote 128 Auch Mme Mohl warnte vor „Zelebritäten“, sie seien schwierige Gäste, wenn sie keine geselligen Qualitäten hätten. „Als Zelebritäten sind sie einfach langweilige Menschen. Nur weil ein Mann einen Planeten entdeckt hat, folgt daraus noch nicht, dass er annehmbar konversieren kann, selbst über seine eigenen Forschungsgegenstände […].“Footnote 129 Salonkonversation blieb immer ein wenig Experiment und Wagnis. Frau von Olfers schrieb: „Man kann oft schon eine ganze Partie Geist in seinem Salon beisammen haben, wenn’s Glück nicht gut ist, so explodiert er nicht.“Footnote 130

Unter guten Bedingungen verliefen Salongespräche, einmal angeregt, oft als von der Gastgeberin aufmerksam verfolgtes kunstvolles „Laissez-faire“, das nur ab und zu etwas justiert werden musste. Im freien Spiel der Unterhaltung war die Salonnière der Schiedsrichter. Die Gesprächsführung Mme Récamiers galt als zurückhaltend, freilich entging nichts ihrer Aufmerksamkeit. Der Berliner Rechtsgelehrte Eduard Gans betrachtete sie 1835 durch die Brille der Romantik. Mme Récamier erscheint als Turnierkönigin, welche die wortgewandten „Kämpfer, wenn sie sich mannhaft und gut geschlagen haben“ lobte. „Es wird scharf hin- und hergeredet: sehr oft berühren sich die Kämpfenden mit den Spitzen ihrer Gründe, aber wie feine und gewandte Männer verwunden sie sich nicht.“Footnote 131 Gespräche entfalteten sich je nach Thema linear, variierend, verzweigend, vertiefend. Im April 1843 kann man im Gespräch bei der Fürstin Lieven in Paris eine Art transatlantischen Staffellauf finden, von der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika über das Erdbeben in Guadeloupe (Karibik, Naturkatastrophe) bis zum großen Kometen vom Frühjahr 1843 (Naturerscheinung). Das Ernste wurde vom Heiteren flankiert (passende Anekdoten, Karikaturen).Footnote 132 Eher das Thema umkreisend entwickelte sich eine Konversations-Sequenz im Salon Mme de Boignes, in welcher es um eine Romreise und den Kirchenstaat ging. Man erinnerte sich zuletzt des verstorbenen Kardinalstaatssekretärs Consalvi, von dem Kanzler Pasquier einiges zu erzählen wusste. Mme de Dino ergänzte noch eine Anekdote, die den Kirchenmann als Politiker mit dramatischem Talent zeigte: Als Consalvi mit Talleyrand auf dem Wiener Kongress über die Restitution von Ländereien des Kirchenstaats verhandelte, erklärte er, wohl nicht ohne Hintersinn, Talleyrand verliere doch nichts dabei, dem Papst ein paar Stückchen Land auf der Erde zurückzugeben – dafür bekomme er ja dann später droben im Himmel alles, was er wolle. Mit großer Geste habe Consalvi dabei die Augen und die Hände zum Himmel erhoben.Footnote 133 Natürlich ging es keineswegs immer um Politik, Geschichte oder Literatur. Tagesneuigkeiten wie spektakuläre Kriminalsachen lösten überall lebhaftes Interesse aus. Henri de Régnier kritisierte 1891 etwas unfair an einer Unterhaltung bei Mme Straus, man habe zwar fein und elegant, aber doch eigentlich „wie in einer Portiersloge“ die Sensation des Tages besprochen, den Fall einer Giftmörderin.Footnote 134 Dem kann man entgegenhalten, dass auch der Mord an der Herzogin de Choiseuil-Praslin (1847) ein Thema in den besten Salons gewesen war und die Geschichte der Giftmischerin Mme Voisin sogar in den Briefen Mme de Sévignés (1680) nachzulesen ist.

Salonkonversation konnte und durfte auch lehrreich sein, aber nicht pedantisch. Marie von Olfers meinte über die didaktischen Nebeneffekte: „Aus einem Gespräch lernt man mehr als aus allen Büchern und Stunden. Die Eigentümlichkeit des vortragenden Menschen kommt dabei zu Hilfe […].“Footnote 135 Das Erkenntnisfördernde des Gesprächs hatte schon Heinrich von Kleist erläutert. Anknüpfend an das Phänomen der Blockaden von Examenskandidaten in der Prüfung schrieb er: „Wenn diese jungen Leute sich in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeitlang unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit, durch Vergleichung, Absonderung und Zusammenfassung der Begriffe, die Definition gefunden haben.“Footnote 136 Da die frühen Salonnièren einst die Gesprächstheorie des Renaissancehumanismus für ihre Frauenzimmer-Geselligkeit adaptiert hatten, vertrug die Salonkonversation traditionell durchaus ernsthafte, ja philosophische Sequenzen. Bei Rahel Varnhagen erinnert manches an Montaigne und Shaftesbury: „Wer sich ehrlich fragt, und sich aufrichtig antwortet, ist mit allem, was ihm im Leben vorkommt, immerfort beschäftigt, und erfindet unablässig, es sei auch noch so oft und lange vor ihm erfunden worden.“Footnote 137 Sie galt, wie Mme de Staël oder Mme Mohl, als ein weiblicher Sokrates und als Hebamme der Gedanken ihrer Freunde.Footnote 138 Ihre offene Dynamik des fragenden Erkenntnisfortschritts ist nahe an der pluralistischen Hermeneutik Schleiermachers angesiedelt, was hier nicht vertieft werden kann.Footnote 139 Dabei wirkte sie keineswegs dozierend. In besonderem Maße beherrschte Rahel Varnhagen die Kunst, elegant von einer Gesprächsebene in die andere zu wechseln und von aktuellen Tagesthemen zum Allgemeinen vorzudringen. Im März 1830 erläuterte sie den politischen Charakter der Biedermeierzeit an der Person der Sängerin Henriette Sontag. Seit 1815 sei „das Große und Erhabene geschwunden, das Mäßige, das Anmuthige“ hingegen an seine Stelle getreten. In der politischen wie in der sozialen Landschaft Europas sei derzeit ein „Gemisch von allem“ attraktiv, „ein artiges Betragen, gefällige Eleganz, sittsame Zurückhaltung bei gehöriger Lebhaftigkeit“. Im Künstlerischen sei das von Henriette Sontag verkörpert, „und so ist sie denn“, schloss Rahel, „ein Ausdruck des politisch-sozialen Eklektizismus unsrer Zeit, die Künstlerin, wie unsre Zustände sie hervorbringen, tragen, erlauben.“Footnote 140 Auch im 19. Jahrhundert betrachtete man hervorragende Konversation wie ein Kunstwerk. Frau von Olfers berichtete 1827 von einem geistvollen Wortwechsel zwischen dem General Ernst von Pfuel und Wilhelm von Humboldt: „Sie wissen den Scherz so gut in die Bedeutendheit ihrer Reden und Gedanken zu mischen, daß man dabei sitzt, wie vor einem Kunstwerk, welches, leicht und gefällig in der Erscheinung, dennoch durch seine Vollendung zu erkennen gibt, daß eine ruhige Weisheit der spielenden Phantasie dabei geholfen hat.“Footnote 141

Die leichte Kunst der Causerie im Salon hatte häufig eine tiefere Dimension von Erfahrung und Lebensart. Das zeigt ein Gespräch, welches an der Schwelle des 20. Jahrhunderts noch einmal sehr viel vom Geist der klassischen Konversation repräsentiert, bevor die Gesprächskultur des „Alten Europa“ in der Katastrophe von 1914 zusammenbrach. Es entspann sich im Januar 1900 auf Französisch unter den Freunden der Fürstin Marie Radziwill bei einem Essen in der italienischen Botschaft zu Berlin. Der gerade zwanzigjährige Daniele Varè, welcher damals bei dem berühmten Joseph Joachim das Geigenspiel studierte und noch unsicher war, ob er Diplomat werden sollte, schildert diesen Abend in seinen Lebenserinnerungen. Nachdem man über verschiedene andere Dinge geplaudert hatte, nahmen sich die älteren Herrschaften des jungen Mannes an. Der preußische General Julius von Verdy du Vernois riet ihm vor allem zu Gelassenheit und Humor: „Lachen Sie über Erfolge, lachen Sie über Mißerfolge. Lachen Sie darüber, wie unsere Welt regiert wird. Lachen Sie über die anderen und vor allem: lachen Sie über sich selbst!“ Freundlich ergänzte die Fürstin Radziwill: „Sie müssen also einen neuen Typus schaffen […]. Den Lachenden Diplomaten. So etwas wie ‚Der Lachende Philosoph‘.“ (Gemeint ist Demokrit.) Botschafter Carlo Graf Lanza di Busca mahnte zur Vorsicht, es sei besser, nur „innerlich zu lachen“, während der Maler Edoardo de Martino das Sprichwort zitierte: „Les heureux ne rient pas, ils sourient.“ Nun lud die Fürstin den jungen Mann ein, in ihren Salon zu kommen: „Wenn Sie wirklich Diplomat werden wollen […], dann suchen Sie mich doch einmal auf dem Pariser Platz auf. Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, eine Großnichte Talleyrands. Alle Diplomaten kommen zu mir.“ Sie wandte sich an den Grafen Lanza: „Oder nicht, Monsieur l’Ambassadeur?“ Mit „altmodischer Galanterie“ habe der Botschafter ihre Hand an seine Lippen geführt und erwidert. „Ist es ein Wunder? […] Die Diplomatie liegt Ihnen im Blut. Neben Ihnen sind wir alle nur Amateure.“Footnote 142

Gerade in dieser heiteren und galanten Szene wird deutlich, dass die Kunst der Konversation in ihren besten Ausprägungen noch sehr viel mehr ist als ein geistvoller Wortwechsel – nämlich ein freundliches Entgegenkommen, ein menschliches Miteinander, getragen von Lebensweisheit und der „Grazie des Herzens“ (Rahel Varnhagen).Footnote 143