1 Einleitung

Soziale Arbeit als „Idee“ und Praxis, so wie wir sie bei allen historischen Wandlungen auch heute noch wahrnehmen, verstehen und praktizieren, ist das Produkt von gesellschaftlichen Entwicklungen während des 19. Jahrhunderts, die untrennbar mit dem Aufstieg und der Durchsetzung einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Westeuropa und Nordamerika verbunden sind. Im Gefolge einer vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts forciert durchgesetzten liberal-kapitalistischen Marktgesellschaft bildeten sich die Konturen eines personenbezogenen sozialen Hilfesystems heraus, das sich alsbald zu einem Dispositiv von privaten und öffentlichen Institutionen und Initiativen, rechtlich-politischen Regelungen und bürokratischen Verfahrensweisen, wissenschaftlichen Diskursen und professionellen Praktiken formierte. Dieser äußerst heterogene Komplex von aufeinander bezogenen Institutionen, Diskursen und Praktiken wurde schon bald als „social work“, „Sozialarbeit“ und/oder „Sozialpädagogik“ (heute: Soziale Arbeit) beschrieben.

Als institutionalisierte Reaktion auf die mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation einhergehenden Konflikte und Widersprüche und den daraus resultierenden sozialen Verwerfungen, Kämpfen und Ungleichheiten stellte die Soziale Arbeit von Anfang an das Moment der individuellen, der persönlichen und erzieherischen Hilfe als Spezifikum ihrer Handlungsorientierung in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses. Die damit verbundene Konzentration auf „Einzelne“ und „Familien“ bedingte wiederum spezifische individualisierende und pädagogisierende Formen und Methoden der Bearbeitung von Konflikten und der Bewältigung von Ressourcenmängeln, die durch Armut, Diskriminierung und soziale Ausschließung erzeugt werden. Diese Form der Institutionalisierung einer individualisierenden und pädagogisierenden „Abhilfe“ sozialer Mängellagen konnte allerdings – quantitativ und qualitativ – so erfolgreich nur ins Werk gesetzt werden im Rahmen eines seit dem späten 19. Jahrhundert etablierten und nach und nach expandierenden sozialstaatlichen Arrangements. Als Teil dieses später vielfach als „das Soziale“ beschriebenen Ensembles sozialstaatlicher Institutionen machte sich die Soziale Arbeit Aufgaben der gesellschaftlichen Regulierung, d. h. der Hilfe und Unterstützung, der Kontrolle und Disziplinierung zu eigen, die sich auf spezifische gesellschaftliche Gruppen richteten, die über die konventionellen Mechanismen und Strukturen der sozialstaatlichen Sicherung nicht erreicht bzw. nicht „integriert“ werden konnten. Diese Gruppen (die „gefährlichen Klassen“, die „Verwahrlosten“, die „Irren, die „Kriminellen“, etc.) wurden und werden zum Gegenstand einer besonderen Form der „Befürsorgung“, bei der davon ausgegangen wurde und wird, dass sie spezifische Kompetenzen der Kommunikations- und Beziehungsgestaltung, der Initiierung von Verhaltens- und Bewusstseinsänderungen, der Erziehung und Ressourcenerschließung – also professionelle Soziale Arbeit im gängigen Verständnis – erfordert(e).

Die mit dieser Entwicklung begründete, von Anbeginn an hegemoniale Tradition einer individualisierenden und pädagogisierenden Sozialen Arbeit, die soziale Konflikte und Widersprüche in im „Einzelfall“ bearbeitbare individuelle und familiale Probleme transformiert(e), blieb allerdings seither – auch innerhalb der Sozialen Arbeit – nie ohne Widerspruch und Kritik (von der grundsätzlich skeptisch-distanzierten Haltung weiter Teile der Arbeiterbewegung einmal ganz abgesehen). D. h. bereits mit der Etablierung der modernen Sozialen Arbeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts treten in ihr beide Paradigmen – das traditionelle wie das kritische – in ihren uns heute noch vertrauten Grundzügen in Erscheinung. Um diese konträren (und in der Folgezeit in zahlreichen Modifikationen und Nuancierungen weiterentwickelten) Positionierungen in der Sozialen Arbeit zu verdeutlichen, sollen im Folgenden exemplarisch zwei frühe Exponentinnen der jeweiligen paradigmatischen Orientierung in der Sozialen Arbeit vorgestellt und auf ihre theoretischen und praktischen Implikationen hin untersucht werden: Eine eher traditionell zu nennende Soziale Arbeit, die von Mary E. Richmond (1861–1928) und der mit ihr verbundenen Charity Organisation Society (COS) repräsentiert wird, und die Tradition einer kritischen Sozialen Arbeit, für die Jane Addams (1860–1935) und die mit ihrem Namen untrennbar verbundene Settlement-Bewegung beispielhaft stehen. Dabei wird bei beiden Exponentinnen Sozialer Arbeit die Formierungsphase ihrer Positionierung in den 1890er Jahren, in der die grundlegenden theoretischen wie praktischen Differenzen beider Ansätze am deutlichsten hervortreten, vorrangig in den Blick genommen. Dieser Versuch einer Kontrastierung zweier für die Soziale Arbeit grundlegender Positionierungen ist in erster Linie auf die Akzentuierung der Differenzen gerichtet, um die Konturen der jeweiligen Perspektive umso deutlicher hervortreten zu lassen. Punktuelle Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte, wie sie sich realgeschichtlich mit der zunehmenden Institutionalisierung, Professionalisierung und „Breitenwirksamkeit“ der Settlement-Bewegung auf der einen und einer größeren Anpassungsbereitschaft der COS an den sozialreformerischen Zeitgeist Ende des 19. Jahrhunderts auf der anderen Seite manifestierten (vgl. Davis 1994, S. 195; Eberhart 2009, S. 84), bleiben demgegenüber weitgehend unberücksichtigt.

2 Die Charity Organisation Society (COS ), Mary E. Richmond und die Tradition einer vorkritischen Soziale Arbeit

Mary Ellen Richmond und die mit ihr verbundene Perspektive einer individualisierenden Sozialen Arbeit stehen in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung der im 19. Jahrhundert im angelsächsischen Raum einflussreichten Organisationsform der freien Wohlfahrtspflege, der so genannten Charity Organisation Society (COS). In den 1870er Jahren ins Leben gerufen – in London 1869 unter der Bezeichnung Society for the Organization of Charitable Relief and Repression of Mendicity, in den USA nach dem Londoner Vorbild erstmals 1877 in Buffalo (vgl. Agnew 2004, S. 67, 227; Katz 1996, S. 75) – war es neben dem offen bekundeten Repressionsauftrag das vorrangige Anliegen der unter dem Dach der COS organisierten Sozialen Arbeit, das bestehende System der (Armen-)Hilfe effektiver, rationeller und damit kostengünstiger zu gestalten. Hintergrund für das Ansinnen einer systematischen Restrukturierung der (Armen-)Hilfe war die Einschätzung, dass die Strukturen und Praktiken der (Armen-)Fürsorge insgesamt durch einen unüberschaubaren organisatorischen und inhaltlichen „Wildwuchs“ und ein unkoordiniertes Nebeneinander von kommunalen, kirchlichen und privaten Hilfeinstanzen gekennzeichnet waren. Insbesondere die Vielzahl der ungeordneten und unkontrollierten privaten Wohltätigkeitsorganisationen und -aktivitäten trugen aus Sicht der COS zu einer – auf’s Ganze gesehen – unsystematischen, willkürlichen und damit „irrationalen“ Mittelvergabe bei, die sich insbesondere an der Unterstützung „unwürdiger“ Armer, an Mehrfachunterstützungen oder – seltener – an Nichtunterstützungen von „wirklich“ Bedürftigen ablesen ließ. Aus diesem vielfach beschriebenen und beklagten Szenario einer desorganisierten (Armen-)Hilfe wurde regelmäßig die Gefahr einer Demoralisierung der Unterstützungsempfänger, d. h. vor allem eine Unterminierung ihres Arbeits- und Selbsthilfewillens und die Beförderung einer passiven Versorgungsmentalität bei gleichzeitiger Bedürfnisexplosion abgeleitet (vgl. Richmond 1899, S. 73 ff.).

Grundlage dieser Einschätzung bildete eine letztlich individualisierende und moralisierende Bewertung und Erklärung von Armut. Armut und Arbeitslosigkeit wurden im Verständnis der COS (und mit punktuellen Einschränkungen auch bei Mary Richmond) als Ausdruck und Ergebnis eines „unsittlichen Lebenswandels“, einer „undisziplinierten menschlichen Natur“, eines „moralischen Defekts“ und/oder einer individuellen „Lebensführungsschuld“, ggf. auch als Strafe Gottes interpretiert.Footnote 1 „Schlechte Gewohnheiten“ stellten nach Richmond (1899, S. 18) nicht nur ganz allgemein eine der maßgeblichen Ursachen für z. B. Arbeitslosigkeit dar, die sich ihrer Einschätzung nach unter „normalen Bedingungen“ bei entsprechenden individuellen Willensanstrengungen und Fähigkeiten ohnehin grundsätzlich vermeiden ließ (ebd., S. 16); in einem spezifischeren Sinne war es nach Richmond unabweisbar, dass Fragen des individuellen Verhaltens und des Lebensstils (z. B. Trinkgewohnheiten, „Zügellosigkeit“, etc.) letztlich die Ursachen von Armut, Elend und „Verfall“ darstellten (ebd., S. 29).

Im Gefolge der schweren Wirtschaftskrise ab 1893 mit ihren weithin sichtbaren, die öffentlich wie privat organisierte Wohlfahrtspflege systematisch überfordernden Auswirkungen und dem gleichzeitigen Aufstieg der Settlement-Bewegung als einer konkurrierenden (Erklärungs- und Handlungs-)Perspektive in der Sozialen Arbeit sah sich Mary Richmond allerdings veranlasst, sozialen Faktoren bei der Erklärung von Armut und Arbeitslosigkeit einen höheren Stellenwert einzuräumen und ein bis dahin präferiertes, ausschließlich individualisierendes Erklärungsmodell zumindest im Ansatz zu relativieren (ohne es jedoch jemals grundsätzlich in Frage zu stellen).

(…) occupied as we are with individuals, we are likely to exaggerate the importance of those causes of poverty that have their origin in the individual. We are likely to over emphasize the moral and mental lacks shown in bad personal habits, such as drunkenness and licentiousness, in thriftlessness, laziness, or inefficiency; (…) on the other hand, those who are engaged in social service often exaggerate the causes of poverty that are external to the individual. Bad industrial conditions and defective legislation seem to them the causes of nearly all the distress around them. (…) The truth lies somewhere between these two extremes; the fact being that the personal and social causes of poverty act and react upon each other, changing places as cause and as effect, until they form a tangle that no hasty, impatient jerking can unravel. (Richmond 1899, S. 4)

Das von Richmond hier favorisierte „multifaktorielle“ Erklärungsmodell, das „Wahrheit“ und „Objektivität“ in einer – konsens- und integrationsfähigen – „goldenen Mitte“ zwischen vereinseitigenden Extremen sucht (für deren eine – die gesellschaftliche – Seite unausgesprochen die konkurrierende Settlement-Bewegung stand), ist ein in der Sozialen Arbeit bis auf den heutigen Tag gängiges und vielfach „geschätztes“ Deutungsmuster, sei es von Armut und Arbeitslosigkeit oder sonstigen so genannten sozialen Problemen. Ebenso geläufig ist es allerdings auch bis in die Gegenwart hinein, dass mit dieser individuelle und soziale Ursachen kombinierenden „multifaktoriellen“ Armutserklärung in letzter Instanz doch wieder auf das Individuum und seine persönlichkeitsspezifischen Merkmalsausprägungen fokussiert wird. So auch im Fall von Richmond, wenn sie behauptet, dass letztlich als maßgeblicher Faktor die individuelle Persönlichkeitsstruktur, altmodischer ausgedrückt, der „Charakter“ im Mittelpunkt der Problembeschreibung stehen muss.

(…) character is at the very centre of this complicated problem (der Armut, R.A.); character in the rich, who owe the poor justice as well as mercy, and character in the poor, who are masters of their fate to a greater degree than they will recognize or than we will recognize for them. To ignore the importance of character is a common fault of modern philanthropy. Rich and poor alike are pictured as the victims of circumstances, of a wrong social order. (Richmond 1899, S. 4)Footnote 2

Die inhaltliche Bestimmung von Armut als letztlich individuell zu verantwortendes Defizit und Versagen (und nicht als Ergebnis einer „falschen“ sozialen Ordnung) hatte im Umkehrschluss zur Folge, die Armenfürsorge von den (Grund- und Verfahrens-)Prinzipien her so zu gestalten, dass Hilfe nicht ungewollt als Belohnung einer „Charakterschwäche“ oder eines „unsittlichen“ Lebenswandels, sondern als Anreiz für die Aufrechterhaltung und Stärkung der Arbeitsmoral und des Willens zur Selbstsorge wirkte. Unermüdlich kritisierte Richmond denn auch den von ihr immer wieder konstatierten Sachverhalt, dass zwar „gut“ gemeinte, aber „schlecht“, und das heißt unprofessionell praktizierte Wohlfahrtspflege nicht nur eine „hoffnungslose Verschwendung“ von Ressourcen darstellt, sondern wie ein durch „milde Gaben“ subventioniertes Förderprogramm für „Faulheit, Laster, Kriminalität und Krankheit“ wirkt (vgl. Wenocur und Reisch 1989, S. 31; vgl. auch Richmond 1897, S. 81).

Um den Anspruch „rationeller“ Hilfe einzulösen, war es nach COS-Ideologie unerlässlich, organisatorische Strukturen, Techniken und Praktiken zu entwickeln, die den Willen zur Selbsthilfe und Selbstsorge systematisch forderten und förderten. Jede Form der Intervention, der Unterstützung, der Beratung und Begleitung, die auch nur im Verdacht stand, die „legitimen“ Ansprüche an eine eigenständige, selbstverantwortliche Subsistenzsicherung von Einzelpersonen oder Familien zu unterminieren, galt es bei einer Sozialen Arbeit, die den Prinzipien der „Selbsthilfe“ verpflichtet war, strikt zu unterlassen bzw. in ihren Folgewirkungen abzumildern. In ihrem Anspruch, dem für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft konstitutiven Prinzip einer eigenverantwortlichen, individuellen Reproduktion durch Lohnarbeit mit den Mitteln der Sozialen Arbeit Geltung zu verschaffen, zog Richmond sogar in Erwägung, bei männlichen „Familienernährern“, die ihren „natürlichen“ familiären Verpflichtungen der Existenzsicherung nicht nachkamen, die Entziehung aller materiellen Unterstützungsleistungen zu empfehlen – auch um den Preis eines (allerdings für sie nur scheinbar) gesteigerten „Leidens“ der davon betroffenen Kinder (vgl. Richmond 1897, S. 80).

An anderer Stelle bekräftigt Richmond unter Bezugnahme auf eine der zeitgenössischen Autoritäten der Fürsorgetheorie und -praxis, Josephine Shaw Lowell, das liberalkapitalistische (Fürsorge-)Prinzip, wonach bei gegebener Arbeitsfähigkeit des „Familienernährers“ durch materielle Unterstützungsleistungen die „natürlichen“ Ressourcen der Selbsthilfe dauerhaft „geschwächt“ und infolgedessen nicht nur die unmittelbaren Hilfeempfänger, sondern – nach dem Muster der Verbreitung einer Infektionskrankheit – das gesamte soziale Umfeld (Familienangehörige, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Stadtteil) durch das „Lehrstück“ einer „unverdienten“, weil letztlich „unnötigen“ Hilfe nachhaltig demoralisiert und in ihrem Selbsterhaltungswillen „beschädigt“ und geschwächt werden:

There are many families in every city who get relief (only a little to be sure, but enough to do harm) who ought never to have one cent, – families where the man can work, but will not work. The little given out of pity for his poor wife and children really intensifies and prolongs their suffering, and only prevents the man from doing his duty by making him believe that, if he does not take care of them, someone else will. (zit.n. Richmond 1899, S. 80)Footnote 3

Angesichts eines derartigen Erklärungsmusters – aus dem respektablen, aber unreflektierten Impuls, Abhilfe für „unverschuldetes Leiden“ durch materielle Unterstützung schaffen zu wollen, wird unter der Hand ein „Lernprogramm“ für Arme, dessen pädagogische Lektionen letztlich in eine Korrumpierung des Selbsthilfewillens münden müssen – ist es nur konsequent, wenn Richmond den (marktförmig hergestellten) Zwang zur Lohnarbeit als den zentralen „erzieherischen“ Mechanismus der (Selbst-)Disziplinierung, der (Selbst-) Kontrolle und (Selbst-)Erhaltung betrachtet. Nicht so sehr die Leitidee einer solidarischen, in gesellschaftliche Verantwortung gestellten und auf Rechtsansprüche gegründeten Sicherung vor sozialen Risiken (von Richmond [1896, S. 45] gern als „Staatssozialismus“ abgetan), sondern der „zwanglose Zwang“ zur marktvermittelten, lohnarbeitsförmigen Reproduktion stellte – gewissermaßen im Vorgriff auf moderne Workfare-Konzepte – das beste moralische und deshalb auch soziale Schutz- und Erziehungsmittel dar, das unter Mithilfe der Sozialen Arbeit praktisch umgesetzt werden konnte:

(…) what is a man’s best protection from bad habits, from disease, selfishness, and vice. Everyone will agree, I think, that it is work. If a man pays all his family and personal expenses, including his own drink bill, from the earnings of his own hard work, he is more likely than not to be a fairly sober, honest citizen. What a folly, then, to make it possible for a man voluntarily to live without work! What more folly to make it possible for the head of a family to do so!” (Richmond 1897, S. 80)

Auch um das traditionelle Modell der bürgerlich-patriarchalen Familie abzusichern, dem Richmond (1899, S. 23 ff.) in der Rollenverteilung von „männlichem Ernährer“, weiblicher Haus- und Erziehungs-„Gehilfin“ und „gehorsamsbereiten“ Kindern vorbehaltlos anhing, musste für arbeitsfähige Männer jede Alternative zur Reproduktion durch Lohnarbeit versperrt werden. Materielle Unterstützung und Hilfe galt es so zu strukturieren, dass jenseits von – bedingt – anerkennungswürdigen Gründen der Arbeitsunfähigkeit und Unterstützungsnotwendig (Krankheit, Behinderung, kleine Kinder von Witwen), für potenzielle Hilfeempfänger institutionelle Barrieren errichtet wurden, die ein (Über-)Leben ohne Lohnarbeit weitgehend unmöglich machten (vgl. Richmond 1899, S. 16).

Ein zentrales Mittel, um den Zugang zu nicht-lohnarbeitsförmigen Alternativen der Subsistenzsicherung zu versperren, bildete dabei neben dem staatlichen Einsatz des Strafrechts zur Kriminalisierung (klassen-)spezifischer Überlebenstechniken von unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen vor allem die im Rahmen der „Fürsorge“ vorgenommene Selektion der „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen. Die Differenzierung der Armen in „würdige“ und „unwürdige“ hatte in der (bürgerlichen) Armenfürsorge bereits eine lange Tradition (vgl. Katz 1996 für die USA; Sachße und Tennstedt 1998 für Deutschland), ehe sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der COS in einer nunmehr „verwissenschaftlichten“ und damit weiter systematisierten und rationalisierten Version fortgeschrieben wurde. Mit der Trennung in „ehrbare“ – weil aus respektablen Gründen in Not geratene Arme – und „unehrbare“ – weil durch individuell zu verantwortende moralische Schwäche in Mängellagen verwickelte Arme – wurde bewusst auf Abschreckungswirkungen gezielt, die die ausgesonderten „Unwürdigen“ einer unverblümten Stigmatisierung aussetzten, die mit Diskriminierungen und Degradierungen als öffentlichkeitswirksame „moralische Lektion“ für alle Armen wirksam werden sollte.

Mary Richmond maß allerdings – darin durch und durch Repräsentantin eines „modernen“, wissenschaftlich-positivistischen Zeitalters – dieser althergebrachten, primär moralisch begründeten Klassifikation (vordergründig) keine allzu große Bedeutung für die Soziale Arbeit zu, im Gegenteil:

The words ‚worthy‘ and ‚unworthy‘ mean very little; they are mere catchwords to save us from thinking. When we say that people are ‚worthy’, we mean, I suppose, that they are worthy of material relief, but no one is so worthy as to be absolutely relief-proof. If relief is given without plan or purpose, it will injure the worthiest recipient. On the other hand, an intelligent visitor can often see his way clear to effect very great improvements in what are called ‚unworthy’ cases, and may find material relief a necessary means to this end. (Richmond 1899, S. 78)

D.h. Richmond ersetzte den traditionellen fürsorgepolitischen Auftrag einer nach moralischen Maßstäben erfolgenden Feststellung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen durch die Aufgabe einer individualisierenden „sozialen Diagnostik“, die vorrangig auf die „objektiv-wissenschaftliche“ Ermittlung von unausgeschöpften Ressourcen und (Selbsthilfe-)Potenzialen, von verborgenen Fähigkeiten und vernachlässigten Handlungsoptionen gerichtet ist und dabei – gewissermaßen im Vorgriff auf systemische bzw. sozialökologische Ansätze in der Sozialen Arbeit (vgl. Healy 2005, S. 132 ff.) – die „Klienten“ in ihren „natürlichen“ sozialen Bindungen und Netzwerken (Familien-, Verwandtschafts-, Freundschafts-, Nachbarschaftsverhältnisse) in den Blick nimmt (vgl. Richmond 1899a, S. 123). „Moralische Schwäche“ wird in eine von Moralisierung scheinbar freie wissenschaftlich-objektive Bestandsaufnahme individueller Kompetenzen und damit in „Defizite einer sozialen und psychologischen Anpassungsfähigkeit“ übersetzt. Diese Umorientierung der Beurteilungskriterien von „würdig/unwürdig“ zu „kompetent/inkompetent“, die schließlich in ihrem wichtigsten Werk „Social Diagnosis“ (1917) kulminierte, fiel Richmond umso leichter, als sie letztlich eine systematische Entmaterialisierung (und in der Konsequenz Psychologisierung) der Sozialen Arbeit betrieb (vgl. Richmond 1899a, S. 122), in der die Klassifikation in „würdige“ und „unwürdige“ Hilfeempfänger allein schon deshalb eine untergeordnete Rolle einnehmen musste, als materielle Unterstützung lediglich ein punktuell einzusetzendes und auf Ausnahmen zu beschränkendes Vehikel der psychosozialen „Rehabilitation“ sein durfte (vgl. Richmond 1899, S. 78). Im Unterschied zu einer Arbeit am Sozialen, die im Anschluss an Jane Addams Soziale Arbeit als Infrastrukturarbeit begreift und die Kompensation materieller Mängellagen als in sich selbst gerechtfertigt sieht, waren in Richmonds (Sozial-)Pädagogik der Lebensführung verbesserte Lebensverhältnisse zuletzt immer Ergebnis einer verbesserten individuellen Kompetenz der Lebensgestaltung, sprich der Selbstdisziplin, der Arbeitswilligkeit, der Leistungsbereitschaft und Unabhängigkeit.Footnote 4

Um nun die Prinzipien einer im Sinne Richmonds und der COS modernen, gerechten und effektiven Armenfürsorge realisieren zu können, wurde als Lösungsstrategie eine umfassende Rationalisierung, d. h. eine Vereinheitlichung und Systematisierung der Armenhilfe vorgeschlagen, in deren Rahmen die COS gewissermaßen als Clearingstelle, als zentrale Koordinierungsinstanz und übergeordnetes Kontrollorgan fungieren sollte. Konkret hieß das: 1. Registrierung aller Hilfesuchenden, 2. detaillierte Ermittlung der individuellen Lebens- und Familienverhältnisse der Hilfesuchenden, um die Hilfebedürftigkeit bzw. Selbsthilfekompetenz feststellen und die „würdigen“ von den „unwürdigen“ Armen scheiden zu können, und schließlich 3. Vermittlung an private und/oder kommunale Hilfestellen. In dieser Aufgabentrias von Registrierung, Ermittlung und Vermittlung war die COS – wie erwähnt – programmatisch darauf festgelegt, selbst keine materielle Hilfe zu leisten. Das hatte zur Folge, dass mit der für den COS vorrangigen fallbezogenen Ermittlungs- und Prüfungstätigkeit ein methodischer Aspekt in den Mittelpunkt der Sozialen Arbeit rückte, der seinerzeit „friendly visiting“ oder „Armenbesuch“ (vgl. Richmond 1899) und später in der von Mary Richmond systematisierten und verwissenschaftlichten Form „social casework“ oder „soziale Einzelfallhilfe“ genannt wurde (vgl. Richmond 1922, 1917).

Die Methode des „friendly visiting“, die an in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Praktiken des „Armenbesuchs“ anknüpfte, wurde in der COS von ehrenamtlich tätigen Frauen (vornehmlich aus höheren gesellschaftlichen Schichten) mit dem Ziel angewandt, im Rahmen von Hausbesuchen in strukturierter Weise „objektive Daten“ über die individuellen, familiären und nachbarschaftlichen Lebensverhältnisse als Entscheidungsgrundlage für Hilfeersuchen zusammen zu tragen und zu dokumentieren. Das zentrale Element in dieser Form einer systematisierten und individualisierten Wissenserhebung bildete dabei die so genannte Beziehungsarbeit, d. h. der Aufbau einer persönlichen Beziehung und eines Vertrauensverhältnisses. Die auf dieser Grundlage hergestellten „Nahverhältnisse“ mit ihren „aufmerksame(n) und wissbegierige(n) Präsenzen“ (Foucault 1983, S. 48) stellten wiederum die Basis dafür dar, mit den „richtig“ gestellten Fragen die „richtigen“ Informationen zu erhalten und damit ein „stimmiges“ Bild der Lebenssituation der Betroffenen zu zeichnen, das im Weiteren die Grundlage für die „richtigen“ Ratschläge für die individuelle Lebensgestaltung und damit die Beseitigung der Ursachen von Armut darstellte (die ja nach COS-Ideologie primär in der Person des Hilfesuchenden begründet liegen).

Der Qualität der Beziehungsgestaltung zwischen Armenbesucher und Hilfesuchendem kam vor diesem Hintergrund ein zentraler Stellenwert in der COS-Arbeit zu. Die Qualität dieser besonderen Beziehungskonstellation „Helferin-Hilfesuchende“, die sich einerseits an der Gewinnung „objektiven“ Wissens und andererseits an der Akzeptanz und Realisierung „guter“ Ratschläge bemaß, war dabei stets von zwei Seiten her „gefährdet“. Zum einen dadurch, dass die ehrenamtlichen Armenbesucherinnen angesichts akuter Notsituationen und drückender Armut sich von „Mitleid“ und „Sentimentalität“ überwältigen und zu (privaten) materiellen Hilfeleistungen hinreißen ließen (vgl. Richmond 1899, S. 36, 75 f.), was dem Motto der COS-Arbeit: „Keine Almosen, aber eine Freundin“ („no alms but a friend“) zuwiderlief. Und zum anderen erwies sich die Organisation der „Verständigungsverhältnisse“ als ein äußerst fragiles und störanfälliges Unterfangen, insofern die soziale Distanz, die mit der (bildungs-) bürgerlichen Herkunft der Armenbesucherinnen und dem (sub-)proletarischen Hintergrund der Armen gegeben war, sich in Schwierigkeiten der Beziehungsaufnahme und -gestaltung niederschlagen konnte, die es im Interesse einer umfassenden und detaillierten Wissenserhebung durch „unverstellte“ Kommunikation und „objektive“ Einblicke in die Lebenswelt der Armen zu überwinden galt.

An diesem Punkt setzte nun Mary Richmond, die ab 1889 in der COS in Baltimore tätig war (vgl. Agnew 2004, S. 5), mit ihrem Bemühen ein, das zentrale Element der Wissenserhebung in Verbindung mit der Beziehungsgestaltung in der Einzelfallhilfe so weit zu systematisieren und in der Folge zu verwissenschaftlichen und zu professionalisieren, dass damit ein Optimum an Erfolg, und das hieß in der Lesart von Mary Richmond eine Steigerung der Veränderungsbereitschaft im Verhalten der Armen bei gleichzeitiger Reduzierung der materiellen Kosten der Armenhilfe, erzielt werden konnte. Um das zu erreichen, traten für Richmond Fragen der Effektivität und Effizienz in der Sozialen Arbeit und das damit verbundene Interesse an Fragen der Organisation von einzelfallbezogenen Hilfeprozessen in den Vordergrund. „The best way to render a human institution unnecessary is to make it as nearly perfect as possible (…) good administration is the best hope of all our charities, public and private, (…).“ (Richmond 1896, S. 48) Mit ihrer ursprünglichen Qualifikation als Buchhalterin und ihrer Tätigkeit in mittelständischen Unternehmen vor ihrem Wechsel zur COS (vgl. Müller 1993, S. 112 f.), brachte Richmond den hierfür erforderlichen „unternehmerischen Sachverstand“ mit in die Praxis Sozialer Arbeit.Footnote 5

In diesem Anspruch einer umfassenden Rationalisierung von „Hilfe“ in Verbindung mit einem Armuts- und Hilfeverständnis, das die Ursachen von Armut primär im Individuum verortet und infolgedessen keine materiellen, sondern in erster Linie pädagogisch-psychologische, auf Verhaltensänderung gerichtete Unterstützungsleistungen vorsieht, verdichtet sich eine zentrale Weichenstellung in der Entwicklung der modernen Sozialen Arbeit. Es ging in Richmonds Ansatz nicht (mehr) darum, auf eine direkte materielle Investitionen in die Armen und das hieß letztlich auf eine politisch zu organisierende Umverteilung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums hinzuarbeiten (ein Ziel, das weite Teile der organisierten Arbeiterbewegung verfolgten). Vielmehr galt es mit dieser Weichenstellung vorrangig in die Professionalisierung der Sozialen Arbeit, sprich in die Verberuflichung und die „wissenschaftliche“ Qualifikation der (Armen-)Helferinnen zu investieren (vgl. Müller 1993, S. 113). D. h. aus einer spezifischen, individualisierenden und letztlich moralisierenden Armutserklärung der COS und Mary Richmonds leitete sich eine spezifische, personalisierende und pädagogisierend-psychologisierende Handlungsstrategie ab, die – von Richmond sukzessive zur nahezu universellen Methode der so genannten sozialen Einzelfallhilfe weiterentwickelt – wiederum einer soliden wissenschaftlichen Basis und „professionellen“ Vermittlung spezifischer Handlungskompetenzen bedurfte, wollte sie dem von den etablierten Professionen „vorgelebten“ Anspruch einer strukturierten und systematisierten Praxis sozialer Hilfe genügen. Mit den beiden sich wechselseitig bedingenden Komponenten einer Verwissenschaftlichung ihrer Grundlagen und der Professionalisierung ihrer Ausübung suchte Mary Richmond der Sozialen Arbeit einen „ausgewiesenen“ Rahmen bzw. ein Feld der allgemein anerkannten Problembearbeitung abzustecken, das es ihr ermöglichte, sich unter Bedingungen verschärfter Konkurrenzverhältnisse um knappe Ressourcen und die Ansprüche auf Problembearbeitung durch „benachbarte“ Professionen (der Medizin, der Psychiatrie, der Polizei, etc.) dauerhaft zu behaupten (vgl. Richmond 1917, S. 36).Footnote 6

Angesichts dieser Ausgangslage ist es nur folgerichtig, dass Mary Richmond einen besonderen Nachdruck auf die Qualifikation/Ausbildung der „Armenbesucherinnen“ und die Vermittlung spezifischer, mit der Einzelfallhilfe verbundener Handlungskompetenzen legte.Footnote 7 Dabei ging es zunächst – vor aller Vermittlung praktisch-technischer Handlungskompetenzen – um die fundamentale Frage der Grundhaltung, mit der die Soziale Arbeit betrieben werden sollte. Für Richmond hieß das, qua Qualifikation eine grundlegende Rationalisierung der „Nächstenliebe“ und eine umfassende Disziplinierung der Hilfeimpulse zu gewährleisten, die – wie wir oben gesehen haben – als spontane, „ungebändigte“ Triebkräfte der Zuwendung eine stets gegenwärtige Bedrohung eines rationellen, geordneten und zielgerichteten Hilfeprozesses darstellten. „Gute Absichten“ stellten zwar ein notwendiges und von Richmond auch entsprechend gewürdigtes Element des Hilfeprozesses dar (vgl. Richmond 1890, S. 40), gleichwohl reichten sie als – letztlich – diffuses und instabiles moralisches Fundament bei weitem nicht für eine professionelle Praxis der Sozialen Arbeit hin (vgl. Richmond 1917, S. 25, 1897a, S. 86, 1899, S. 6). Um nicht die übergeordneten Ziele der Selbsthilfe und Unabhängigkeit zu desavouieren, bedurften die „ungesteuerten“ Hilfeimpulse der „Organisation und Lenkung“ (Richmond 1890, S. 40) durch anleitende „Ausbildung“, so dass sie sich als „gezähmte“, selbstdisziplinierte Nächstenliebe, als „love in harness“ (Richmond 1897, S. 82) mit einem Höchstmaß an Effektivität und Effizienz verbinden ließen (vgl. auch Richmond 1900, S. 141).

Zur Gewährleistung dieser selbstkontrollierten, „reflexiven“ Hilfepraxis bedurfte es nach Richmond vor allem einer „wissenden“ und zur Unterscheidung fähigen Nächstenliebe oder – in ihren Worten – einer „love with discernment“ (1897, S. 82), die jede Form der Unterstützung auf ein detailliertes Wissen über die jeweilige Armenfamilie gründete (vgl. Agnew 2004, S. 143). Im Versuch einer elaborierten Weiterentwicklung der COS-Systematik stand für Mary Richmond dabei die wissenschaftlich fundierte Vermittlung insbesondere von drei Kernkompetenzen der sozialen Einzelfallhilfe im Vordergrund des Qualifizierungs- bzw. Professionalisierungsanspruchs:

  1. 1.

    Die Kunst der Ermittlungsarbeit, d. h. der systematischen Datenerhebung, die die unerlässliche Grundlage für eine „Diagnose“ hinsichtlich der „sozialen Fehlanpassung“ der Armen darstellte.Footnote 8 Richmond entwickelte in diesem Zusammenhang eine ganze Technologie systematisierter Wissenserhebung, der kein Detail zu geringfügig und zu nebensächlich sein durfte, um nicht zum Gegenstand der geduldigen Analyse und ordnenden Reflexion zu werden (vgl. Richmond 1899a, S. 121 f.; 1896, S. 44). Dabei sollte die von Richmond beabsichtigte Wissensermittlung mehr sein als die bis dahin gängige, relativ pauschale und oberflächliche moralische Bewertung von Zuständen und Sachverhalten, die über die Befolgung einiger „technischer“ Regeln (des Hausbesuchs, der Beziehungsgestaltung, etc.) gewonnen wurde (vgl. Richmond 1917, S. 29). Mit der systematischen Erhebung eines „gültigen“ Wissens sollte vielmehr in die „Tiefendimensionen“ einer innerpsychischen Dynamik der Motive, der Erinnerungen, der Aspirationen, der Stimmungen, der Leidenschaften, der Lebensläufe und Lebenspläne, etc. eingedrungen werden. „By knowledge of character more is meant than whether a man is a drunkard or a woman is dishonest; it means knowledge of the passions, hopes, and history of people; where the temptation will touch them, what is the little scheme they have made of their lives, or would make, if they have encouragement; (…); how to move, touch, teach them.“ (Octavia Hill zit.n. Richmond 1917, S. 30)Footnote 9 Mit einer systematisierten Akkumulation und Ordnung von Wissen wurden Verhältnisse und verdeckte Zusammenhänge, Ursachen und unbeabsichtigte Wirkungen, Inkonsistenzen und wiederkehrende (Verhaltens-)Muster sichtbar (vgl. Richmond 1917, S. 50), die nicht nur ein neues und breiteres Spektrum an Interventionsmöglichkeiten eröffneten, sondern auch die Notwendigkeit offen represssiver Maßnahmen in den Hintergrund treten ließen.Footnote 10

  2. 2.

    Die Kunst der Beziehungsarbeit, die die Klassenspaltung oder – in Richmonds (1890, S. 41) Sprachgebrauch – die Kluft zwischen „Arm“ und „Reich“ zum Gegenstand einer systematischen Reflexion mit dem Ziel machte, die offensichtlichen lebensweltlichen Diskrepanzen, die eine endlose Quelle von wechselseitigem Unverständnis und Misstrauen, von Fehleinschätzungen und verzerrten Wahrnehmungen (und damit letztlich auch eine Quelle „unbrauchbaren“ Wissens) darstellten, mit Hilfe eines Inventars methodischer Vorkehrungen zu überbrücken oder zumindest zu minimieren. Unter dem programmatischen Leitmotiv der „Freundschaft“ und „Partnerschaft“ (vgl. Richmond 1899, S. 12, 81, 1890, S. 40) als Basis einer „helfenden Beziehung“, mit dem eine von Grund auf hierarische und von einseitigen Abhängigkeitsverhältnissen bestimmte Beziehungsstruktur ideologisch („egalitär“) überhöht und vernebelt wurde, rückten methodisch-„technische“ Aspekte der Beziehungsgestaltung in den Vordergrund. So z. B. das Problem der Anbahnung und Gestaltung von Erstkontakten (vgl. Richmond 1930, S. 408) oder die Kunst, Fragen so zu stellen, dass sie ein tragfähiges Vertrauensverhältnis herstellten, um darauf aufbauend ein unverstelltes „wahres“, für die weiteren Interventionen nutzbares Wissen hervorzubringen (vgl. Richmond 1896a). Und schließlich galt es – wiewohl am wenigsten detailliert ausgeführt und analysiert – Handlungskompetenzen im Hinblick auf

  3. 3.

    die Kunst der Beratung in Fragen der Lebensführung zu entwickeln. Die systematisch-methodisch hergestellten „freundschaftlichen“ Beziehungsverhältnisse und die auf ihrer Grundlage erzeugten Wissensbestände sollten als Medium einer angestrebten Verhaltensänderung, d. h. als Motor für eine Entfesselung der Selbsthilfekräfte und der Erziehung zu Arbeits- und Leistungsbereitschaft eingesetzt werden, um die Klienten als „autonome“ Individuen wieder ins „richtige“ Verhältnis zur Gesellschaft zu setzen (vgl. Richmond 1917, S. 39, 29).

Vorbild und zentraler Bezugspunkt sowohl für die Qualifizierung der Sozialarbeiterinnen wie für die theoretische Begründung der sozialen Einzelfallhilfe und der Sozialen Arbeit insgesamt bildete dabei für Richmond das Modell der Medizin als (angewandter) Wissenschaft und (wissenschaftlich begründeter) Praxis (vgl. Wendt 1990, S. 237; Müller 1993, S. 115 f.). Die Medizin war für Richmond ein Fixpunkt in der (Weiter-)Entwicklung der Sozialen Arbeit nicht allein wegen ihres gesellschaftlichen Status als im Wissenschaftssystem fest etablierter Disziplin und allgemein anerkannter Profession, die über die Definition einer gemeinsam geteilten Wissensbasis und die machtbewusste Organisation berufsständischer Interessen ein relatives Monopol der Problemdefinition und -bearbeitung in Fragen von Krankheit und Gesundheit durchgesetzt hatte – das galt und gilt in vergleichbarer Weise auch für die Rechtswissenschaften und die entsprechenden juristischen Professionen (vgl. Richmond 1917, S. 5). Die Relevanz des Modells „Medizin“ für die Soziale Arbeit geht noch weit darüber hinaus. Neben dem der Medizin direkt entlehnten Vokabular, das auf einen nicht nur metaphorischen Gebrauch medizinischer Begriffe und Kategorien schließen lässt (so z. B. wenn Richmond selbstverständlich von „sozialer Diagnose“, von „Symptomen“, von „Behandlung sozialer Krankheiten“ [„doctoring social diseases“], von „Ansteckung“ und „Heilung“ spricht, vgl. Richmond 1899, S. 25, 29, 1897a, S. 100 f., 1917, S. 33 f.), war es vor allem das Schlüsselelement der medizinischen Praxis – das Arzt-Patient-Verhältnis – das das Grundmuster, gewissermaßen das Paradigma einer Ausdeutung und Gestaltung des HelferIn-KlientIn-Verhältnisses bildete. In Analogie zur Konfiguration des Arzt-Patient-Verhältnisses in der Medizin zielte Richmond auf eine durch Expertenstatus und hierarchische (Interaktions- und Kommunikations-)Ordnung ausgewiesene Professionalisierung der Sozialen Arbeit.Footnote 11

Durch die engen Verbindungen der COS Baltimore mit der Johns-Hopkins-Universität und hier insbesondere mit der medizinischen Fakultät möglicherweise bestärkt, sah Richmond in der klinischen Praxis der ärztlichen Ausbildung mit ihrer ausdrücklichen Anwendungsorientierung und dem spezifischen Verhältnis, in dem sich in der Medizin praktische Spezialisierung und gemeinsam geteilte Wissensbasis darstellten, den Prototyp sozialarbeiterischer Qualifikation. Da „Helfen“ analog zur ärztlichen „Heil“-Kunst primär als eine praktische Tätigkeit verstanden wurde, sollten dem Bezug zur Praxis und Praxiserfahrungen – bei allem Nachdruck, den Richmond auf eine wissenschaftliche Fundierung legte – im Vergleich zur akademischen und theoretischen Bildung eine deutlich höhere Priorität zukommen (vgl. Agnew 2004, S. 146). Die klinischen Erfahrungen, die angehenden ÄrztInnen im Rahmen eines Medizinstudiums über Fallbesprechungen im Modus der Visite vermittelt werden („‚bedside opportunities‘ in medical instruction“) sollten ihre Entsprechung im Studium der Sozialen Arbeit in arbeitsfeldbezogenen Praxiserfahrungen mit Fallanalysen und –reflexionen finden („case work opportunities“, [Richmond 1917, S. 32; vgl. hierzu auch Wenocur und Reisch 1989, S. 68]). Die eingeforderte Dominanz der praktischen Arbeit sollte sich in einer relativen Distanzierung von Akademisierungsbestrebungen (und damit zu Universitäten) niederschlagen bei einer gleichzeitigen Betonung der Notwendigkeit einer engen Kooperation mit in der Praxis verorteten Organisationen der Sozialen Arbeit (vgl. Wenocur und Reisch 1989, S. 62).

(…) it should never be forgotten that emphasis is to be put on practical work rather than on academic requirements. Vital connection, therefore, would of necessity be made with the public and private charities of the city. Here students could observe the actual work of charity, and take part in it under the daily supervision of their instructors. Theory and practice would go hand in hand (…). (Richmond 1897a, S. 103)

Im Gefolge dieser auf Kosten theoretischer Inhalte erfolgenden Akzentuierung der Praxis in Verbindung mit „Beziehungsarbeit“ als Basis des Helfer-Klient-Verhältnisses, gewannen für die Soziale Arbeit insbesondere fallanalytisch nutzbare Wissensbestände, zunächst der Psychologie, später der Psychiatrie eine privilegierte Bedeutung, der gegenüber sozialwissenschaftliches/soziologisches Wissen einen nachgeordneten Stellenwert einnahm.Footnote 12

Ebenso wichtig für die Entwicklung der Sozialen Arbeit war allerdings ihr dem medizinischen Modell entlehntes und in die Soziale Arbeit übertragenes Wissenschaftsverständnis. Dem naturwissenschaftlichen Verständnis der Medizin entsprechend geriet Soziale Arbeit als Wissenschaft zu einem durch und durch positivistisch gefärbten Unternehmen. Das medizinische Modell bestimmte nicht nur die Logik der „Diagnose“ und „Therapie“, insofern anhand einer spezifischen körperlichen bzw. sozialen Symptomatik (z. B. Fieber, Entzündungen bzw. Armut, Alkoholkonsum) auf die jeweiligen individuellen körperlichen bzw. persönlichkeitsspezifischen Ursachen (bakterielle Infektion bzw. problematischer Lebensstil) geschlossen und daraus die entsprechenden „therapeutischen“ Interventionen (Medikamente, Bettruhe bzw. Ratschläge zu besseren Haushaltsführung oder „Enthaltsamkeit“) abgeleitet wurden. Das naturwissenschaftliche Vorbild der Medizin machte auf der Grundlage seiner positivistischen Logik der Diagnose jeden Hilfesuchenden zu einem konkreten „Fall“, zum dinglichen Exemplar einer allgemeinen, abstrakten Klasse von Krankheiten bzw. Abweichungen von sozialen Anpassungs- und Lebensbewältigungserfordernissen und damit tendenziell zum „Objekt“ (sozial-)technischer Eingriffe. So liest sich „Social Diagnosis“ über weite Strecken wie eine ausgefeilte Betriebsanleitung zur wissenschaftlich fundierten, nüchtern distanzierten Optimierung der Wissensermittlung und einer darauf gegründeten „Fallbearbeitung“.Footnote 13 Die darin zum Ausdruck kommende Form der Verdinglichung steht in einem eigentümlichen und unaufhebbaren Widerspruch zu dem ansonsten vielfach beschworenen egalitären, kommunikativen und reziproken Moment der „Freundschaft“ und „Partnerschaft“ als Grundlage der Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit.

Diese Position bestimmte wiederum auch das Forschungsverständnis und die damit korrespondierende Forschungspraxis. Die entscheidende Weichenstelllung nahm Richmond dabei im Hinblick auf die besondere Qualität des Wissens, das über Forschung generiert werden sollte, vor. Während die in der Tradition der Settlement-Bewegung stehende Forschung (z. B. in Gestalt der Hull-House Maps and Papers) der Leitfrage nachging, was Armut ist, d. h. welche Arbeits-, Wohn- und sanitären Verhältnisse die Armutslagen eines Arbeiterviertels bestimmten (siehe unten), war es das ausgewiesene Anliegen einer Forschung im Sinne Richmonds, der Frage nachzugehen, wer die Armen sind, „to know them as they really are“, wie Richmond (1899, S. 6, 2) formulierte, d. h. die „Armen“ in der unabsehbaren Vielfalt „biopsychosozialer“ Einflüsse und Faktorenkombinationen, individueller Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale, spezifischer Wertorientierungen und Verhaltensweisen zu „erfassen“. Nur auf der Grundlage einer systematisierten Akkumulation eines „objektiven“ Wissens, wer die Armen wirklich sind, ließen sich in der Praxis der Einzelfallhilfe die „richtigen“ Fragen stellen und die „richtigen“ Interventionen ableiten. Im Sinne einer Forschung in und aus der Praxis für die Praxis wurde diese mithin zu einem Mittel der Generierung von Wissen, das – aus den KlientInnen extrahiert und im weiteren Forschungsprozess „zugerichtet“ und nützlich gemacht – als anwendungsorientiertes Kontroll- und Regulierungswissen zur Optimierung der Handlungs- und Steuerungskompetenzen in die Praxis der sozialen Einzelfallhilfe rückgekoppelt wurde.

In den 1880er und 90er Jahren entwickelte sich in den USA mit der so genannten Settlement-Bewegung der bewusste Gegenentwurf zu der von Mary E. Richmond und der COS repräsentierten Form der Hilfe/Sozialen Arbeit. Die Settlement-Bewegung, von der Jane Addams lediglich die prominenteste unter einer Reihe bedeutender Repräsentantinnen ist, stellt unter vielerlei Gesichtspunkten – wie im Folgenden zu zeigen versucht wird – die Antithese zur hegemonialen Sozialen Arbeit im Geiste Mary Richmonds und der COS dar.

3 Die Settlement-Bewegung, Jane Addams und die Tradition kritischer Sozialer Arbeit

Wie die Charity Organisation Society (COS) hat auch die Settlement-Bewegung ihren Ursprung zunächst im viktorianischen England des 19. Jahrhunderts. Von einem christlich- humanistischen Bildungsidealismus und „missionarischen Zivilisierungs“-Eifer getragen, gründeten Henrietta und Samuel Barnett, der 1869 noch zu den Gründungsmitgliedern der Londoner COS zählte (vgl. Webb 1984, S. 240), im Jahre 1884 in einem der verrufensten Armenviertel im Osten Londons Toynbee Hall. Der Grundidee nach sollte Toynbee Hall als ein Gemeinschaftsstätte fungieren, in der die Privilegierten der britischen Gesellschaft, d. h. die zukünftigen politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten des Landes, über einen längeren Zeitraum hinweg inmitten von Armutsverhältnissen leben und in der unmittelbaren Lebenswelt der Slumbewohner aus erster Hand Erfahrungen und Anschauungsmaterial gewinnen sollten, die sich dann – so die optimistische Hoffnung der Barnetts – als Ausdruck eines „praktischen Sozialismus“ in zukünftigen Sozialreformen nieder schlugen. Das – durchaus paternalistische – Ziel, das bürgerliche Privileg der Bildung den Armen und Arbeitern zu vermitteln, um sie damit auf ein „höheres Niveau“ der (bürgerlichen) Lebensformen zu heben, verband sich dabei mit der grundsätzlichen Erwartung, die zunehmend sichtbarer werdende Klassenspaltung der britischen Gesellschaft wenigstens teilweise überbrücken zu können. 1888 besuchte Jane Addams auf einer Europareise ebenjenes Toynbee Hall (vgl. Addams 1910, S. 56 f.) und gründete – von den Eindrücken beflügelt und in ihren Plänen bestärkt in die USA zurück gekehrt – ein Jahr später mit einer Reihe von Mitstreiterinnen ihr „eigenes“ Settlement in Chicago, das so genannte Hull-House.Footnote 14

Dass sich die Gründung von Hull-House in Chicago vollzog, kam angesichts der spezifischen sozioökonomischen und politisch-kulturellen Verhältnisse nicht von ungefähr. Chicago war seinerzeit nach New York, wo 1887 das erste Settlement der USA gegründet wurde (vgl. Davis 1994, S. 10), die zweitgrößte Stadt des Landes. Im Vorfeld der Gründung von Hull-House wurde Chicago in den 1870er und 80er Jahren von atemberaubenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungsdynamiken erfasst. Mit der Entfaltung eines unregulierten Industriekapitalismus, mit einem administrativ weitgehend ungesteuerten („wilden“) Urbanisierungsprozess, mit einer beispiellosen Bevölkerungsexplosion (die Zahl der Einwohner stieg binnen eines halben Jahrhunderts von rd. 30.000 anno 1850 auf mehr als 1 Mio. im Jahr 1890) und mit weitgehend unkoodinierten Migrationsbewegungen (die Stadt war zu dieser Zeit zu zwei Dritteln und mehr von MigrantInnen bevölkert), brachen in Chicago gewaltige soziale und politische Konflikte, Klassenkämpfe und Auseinandersetzungen hervor, die in maßgeblichen Teilen des städtischen Bürgertums – auch des aufgeklärt-liberalen – die Sorge um die gesellschaftliche Ordnung und Stabilität der Stadt und des Landes auf die Tagesordnung setzten. (vgl. Trattner 1999, S. 164 f.; Eberhart 2009, S. 47 ff., S. 58; Pinhard 2009, S. 62 ff.)

Von diesen epochalen gesellschaftlichen Veränderungen herausgefordert – und angetrieben von einem zunächst stark religiös gefärbten (und später zunehmend säkularisierten) moralischen Impetus, als Nutznießerinnen einer privilegierten Lebenslage den Verpflichtungen einer in der „weiblichen Natur“ begründeten Verantwortung für das Gemeinwesen nachkommen zu müssen – ließ sich nach dem Muster von Toynbee Hall eine Reihe von jungen, vornehmlich dem – gehobenen – (Bildungs-)Bürgertum entstammende Frauen inmitten eines Chicagoer Armen- und Arbeiterviertels nieder, um aktiv gestaltend in die lebensweltlichen Verhältnisse des Stadtteils und seiner Bewohner einzugreifen.Footnote 15 Binnen kürzester Zeit schuf dabei diese Gruppe junger Frauen mit Hull-House eine Einrichtung, die zu einem äußerst vitalen und dynamischen Zentrum lokaler und überlokaler sozialer Initiativen, intellektueller Diskussionen, kollektiver Organisationsbemühungen, sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte, politischer Aktivitäten und kultureller und (sozial-)pädagogischer Angebote wurde.

Auf der allgemeinsten Ebene lassen sich die grundlegenden Unterschiede in der Konzeptualisierung der jeweiligen Projekte von Mary Richmond und Jane Addams folgendermaßen benennen: Hier das Projekt einer nach dem etablierten Modell der Medizin vorangetriebenen Professionalisierung der Sozialen Arbeit, deren fundamentalstes Strukturelement das dyadische Interaktionsverhältnis von „ArmenbesucherIn“ und „KlientIn“ und die darauf gründenden Erweiterungen zum sozialen Nahfeld hin – Familie, Nachbarschaft – darstellt. Mit dieser bewusst kleinräumig zugeschnittenen Perspektive verbindet sich bei Mary Richmond ein geradezu mikroskopischer Blick, der die unmittelbaren Interaktionsverhältnisse zum Gegenstand einer detailversessenen Wissenserhebung macht, mit der immer weiter und tiefer reichende Möglichkeiten einer Optimierung und „Objektivierung“ der Urteils- und Handlungsfähigkeit im einzel- bzw. familienbezogenen Hilfeprozess erschlossen werden sollen. Und dort – der Kontrast könnte auch unter sozialen Gesichtspunkten nicht größer sein – das Projekt eines Settlements, das nicht weniger als eine alternative Lebensform darstellte bzw. kreierte und das „nur“ aus dem Blickwinkel eines traditionellen Verständnisses von Sozialer Arbeit beschreiben zu wollen, notwendig zu kurz greift. Mit Hull-House wurde ein „neuer“ Typus von kollektiven, primär weiblich geprägten „autonomen“ Lebens- und Arbeitszusammenhängen geschaffen, ein offenes soziales und intellektuelles Experimentierfeld, in dem im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung auf dezente, im Kern aber umso spektakulärere Weise an Grenzverschiebungen im Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre, im Geschlechter-, Klassen- und Generationenverhältnis, im Verständnis des Politischen und des Sozialen, usw. gearbeitet wurde (vgl. hierzu vor allem Pinhard 2009). Bei diesen – unterschiedlich erfolgreichen – Versuchen, etablierte politische, ökonomische, soziale und kulturelle Markierungen zu verschieben oder zu verwischen, lag dem Settlement die – implizite – Prämisse zugrunde, dass sein sozialer Ort (Arbeiter- und Migrantenviertel) zugleich immer auch ein spezifischer Erfahrungs- und damit Erkenntnisort ist, der Einfluss auf die Analyse-, Forschungs- und Handlungsperspektive nimmt. Diese untergründige, durch die öffentliche Assoziation mit „Wohltätigkeit“ allerdings „ehrbar“ gemachte Subversion ist vielleicht – so viel sei schon hier in der Bewertung vorweggenommen – die bemerkenswerteste Leistung von Jane Addams und Hull-House.

Auf der Grundlage dieser Haltung, mit der Hull-House von Jane Addams und ihren Mitstreiterinnen Ellen Gates Starr, Julia Lathrop, Florence Kelley u. a. ins Leben gerufen und in der Folgezeit gestaltet und „betrieben“ wurde, lassen sich eine Reihe von elementaren Differenzen zum sozialarbeiterischen Ansatz Mary Richmonds und der COS benennen. Das beginnt beim Rollenverständnis und den Selbstbeschreibungen, mit denen die Mitglieder von Hull-House den Slumbewohnern – dem Anspruch, wenn auch nicht immer dem realen Handeln nach – gegenüber traten. In der unmittelbaren Nachbarschaft der Armen und Arbeiter zu leben, Teil ihrer Lebenswelt zu werden, wurde zunächst als ein Prozess der Selbstbildung begriffen, der die notwendige Voraussetzung für qualifizierte Beiträge zur Analyse und praktischen Veränderung der Lebensbedingungen der Bewohner darstellte: (…) the sharing of the life of the poor is essential to the understanding and bettering of that life“ (Addams 1895, S. 138).Footnote 16

Dieses auf die Rolle des „Helfers“ bezogene selbstreflexive Moment, das im Unterschied zu Richmonds sozialer Einzelfallhilfe nicht auf die Veränderung des einzelnen „Klienten“, sondern zunächst auf eine Selbstveränderung der Settlement-BewohnerInnen durch ein Lernen von und mit den Bewohnern des Armenquartiers zielte, hatte wiederum eine Haltung zur Folge, die vermeintlich offensichtliche moralische Gewissheiten, das was „gut“ und was „böse“, was „würdig“ und was „unwürdig“, was „ehrlich“ und was „unehrlich“ ist, merklich relativierte (vgl. Ehrenreich 1985, S. 61). Wie Jane Addams (1899, 1909, S. 11–34) in den Glanzstücken einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den möglichen Widersprüchen und komplexen Verwicklungen einer „helfenden Beziehung“ nach dem traditionellen Muster der COS deutlich macht, tritt an die Stelle vorab gegebener moralischer Eindeutigkeiten eine offene „explorative“ Haltung, die Lebenszusammenhänge, Situationen, Verhalten, etc. über einen verstehenden Zugang in ihren spezifischen Kontexten und Ambivalenzen zu erschließen sucht, und zwar in den subjektiven Sinnzusammenhängen und Bedeutungsgebungen der Betroffenen. Jane Addams formuliert hier eine der zentralen Prämissen einer kritischen Sozialen Arbeit, indem sie sich in ihrem Zugang zur Lebenswelt der Arbeiter- und Armenbevölkerung explizit von einem absoluten, a-historischen und dekontextualisierten Normverständnis distanziert (so als könnten normative Maßstäbe vorab und unabhängig von Kontextvariablen wie Zeit, Situation, Ort, etc. universelle Geltung beanspruchen). Vielmehr gilt es in ihrer Perspektive, das jeweilige (Arbeits-, Freizeit-, Spar-, Erziehungs-, Konsum-)Verhalten aus den konkreten materiellen (vor allem ökonomischen) Kontextbedingungen als „sinnhafte“, „rationale“ und situativ „angemessene“ Handlungsstrategien zur Bewältigung „schwieriger Situationen“ zu rekonstruieren. Wird dieser elementare Anspruch einer kontextbezogenen Relativierung normativer Maßstäbe nicht eingelöst, sondern ein abstraktes, situationsunspezifisches Normverständnis zur Grundlage des Hilfeprozesses gemacht, dann treten nach Addams Kommunikations- und Interpretationsprobleme in einem Ausmaß und einer Qualität auf, die geeignet sind, auch die „besten“ Absichten der Hilfe zu konterkarieren.

Jane Addams hat diesen Zusammenhang an der seinerzeit gängigen Praxis des „Armenbesuchs“ klarsichtig beobachtet und benannt. Bei einer mangelnden Reflexion, Relativierung und Relationierung des eigenen lebensweltlich-normativen Hintergrunds seitens der „HelferInnen“ treffen zwei Erfahrungswelten aufeinander, deren Verhältnis zwangsläufig von konfliktträchtigen wechselseitigen Miß- und Unverständnissen und „Hilflosigkeit“ geprägt sein wird. So sollen z. B. die Armenbesucherinnen Verhaltensansprüche repräsentieren und aktiv vermitteln (das heißt i. d. R die „KlientInnen“ konsequent zu Lohnarbeit und Konsumverzicht, zu Sparanstrengungen und ökonomischer Haushaltsführung, etc. anhalten), die nicht – zumindest nicht bestimmender – Teil ihrer Lebenswirklichkeit sind (und wovon sie letztlich auch nicht sonderlich viel „verstehen“), während das, wovon sie aufgrund ihres sozialen Status‘ und ihres erfahrungs-und lebensgeschichtlichen Bildungsprozesses Kenntnis haben (z. B. von Latein) weitgehend nutzlos für ihre Arbeit ist.Footnote 17 „Because of this diversity in experience”, schlussfolgert Addams (1902, S. 18), „the visitor is continually surprised to find that the safest platitude may be challenged.“ Bis hierher dürften Addams und Richmond sich noch einig gewesen sein. Aber bereits bei der Frage, welche Konsequenzen aus dieser einem statischen und absoluten Normverständnis geschuldeten Diskrepanz in der Deutung von Praxissituationen resultieren müssen, endet schon wieder die Gemeinsamkeit. Addams macht das an mehreren, für die Soziale Arbeit geradezu paradigmatischen Beispielen, deutlich.

So ist z. B. die Erwartung des Sparens, wie sie von Armenbesucherinnen regelmäßig und mit Nachdruck an die KlientInnen herangetragen und als Grundlage ihrer Klassifikation genutzt wird, angesichts der generellen Lebenslage der Armutsbevölkerung für Addams eine unangemessene, weil von den realen materiellen Lebensbedingungen abstrahierende Zumutung.“(…) saving, which seems quite commendable in a comfortable part of town, appears almost criminal (!) in a poorer quarter where the next-door neighbor needs food, even if the children of the family do not.” (Addams 1902, S. 18)Footnote 18 Noch aufschlussreicher arbeitet Addams die eklatanten Diskrepanzen in den spezifischen Erfahrungswelten und Bedeutungszuschreibungen im Hinblick auf die seinerzeit vehement moralisierten Themenkomplexe „Saloon/Alkoholkonsum“ und „Kindererziehung/Kinderarbeit“ heraus. Den nachdrücklichen Beschwörungen der „Schrecken des Saloons“, die im Zuge einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstarkenden Prohibitionsbewegung i.d. R mit moralischen Appellen zur Abstinenz (oder zumindest zur Mäßigung) einher gingen, stellt Addams (1902, S. 18 f.) schlicht die realen Erfahrungswerte der (männlichen) Kneipenbesucher gegenüber, die damit alles andere als „Schrecken“ verbinden, sondern Werte wie Geselligkeit und Freundschaft, Solidarität und informelle Hilfe in Notsituationen (Miete, Essen, etc.), die im Unterschied zur formellen Armenhilfe keine detaillierte Bedürftigkeitsprüfung und keine langwierigen Antrags- und Genehmigungsprozeduren voraussetzten. Addams’ unvoreingenommene Anerkennung der positiven sozialen Funktionen des „Saloons“ wiegt umso schwerer, als sie sich als dezidierte Prohibitionsbefürworterin (vgl. Davis 2000, S. 276 f.) dazu genötigt sah, ihre eigenen, tief eingewurzelten normativen Orientierungen zu kontextualisieren und „kritisch“-distanziert zu relativieren. Ähnliches gilt auch im Hinblick auf Kinderarbeit und Kindererziehung. Die Selbstverständlichkeit einer ausbeuterischen Kinderarbeit und die oft als hart und gefühllos wahrgenommenen Methoden der Kindererziehung in der Armutsbevölkerung wurden nach einem gängigen Erklärungsmuster bevorzugt an spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und sittlichen Entwicklungsniveaus der „Erziehungsberechtigten“, sprich am niederen Stand ihrer „Zivilisierung“, ihrer „charakterlichen Verrohung“ und „grenzenlosen Geldgier“ festgemacht. Die spezifischen materiellen Lebensbedingungen, die Kinder zu einem notwendigen Teil der Existenz- und vor allem der Alterssicherung werden ließen, blieben dabei weitgehend ausgeblendet. „The charity visitor”, so Addams (1902, S. 24), „whose family relation is lifted quite out of this, does not in the least understand the industrial foundation of this family tyranny.“Footnote 19

Ein letztes und vielleicht instruktivstes (weil im Bereich formeller Normen angesiedeltes) Beispiel für die Folgen eines normativen Absolutismus in der Sozialen Arbeit stellt die Auseinandersetzung Addams’ mit der Jugendkriminalität dar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Öffentlichkeit allenthalben ein besorgniserregender Anstieg der Jugendkriminalität konstatiert, der in einem auch heute noch vertrauten individualisierenden Erklärungsmuster bevorzugt mit einer zunehmenden „Verrohung“ und „Verwahrlosung“, mit – biologisch, psychisch und/oder sozial begründeten – „Defiziten“ und „Defekten“ der Jugendlichen in Verbindung gebracht wurde. Dem gängigen Blick auf „Jugend“ (in ihrer „Gefährdung“ und „Gefährlichkeit“) stellt Addams eine Perspektive gegenüber, die vorrangig die nachhaltig veränderten Kontextbedingung von „Jugend“ im Zeitalter des Industriekapitalismus in den Blick nimmt. Ausgehend von der Annahme eines „natürlichen“ Bedürfnisses von Jugendlichen nach Abenteuer und Spannung, nach Unterhaltung und Waghalsigkeit, nach Selbstdarstellung und Phantasie haben sich nach Addams nicht so sehr die Motive und die Qualität des Verhaltens von Jugendlichen verändert, sondern in erster Linie die Bedingungen der gesellschaftlichen Reaktion auf „jugendtypisches“ Verhalten. Ohne einer Idealisierung des ländlichen Lebens bzw. umgekehrt einer Dämonisierung des modernen Großstadtlebens zu verfallen, registriert Addams eine wesentliche Veränderung des gesellschaftlichen Interpretations- und Reaktionsrahmens: Aus einem im ländlich-agrarisch geprägten Kontext in den Alltag integrierten und weitgehend ohne kriminalisierende Reaktionen bearbeiteten jugendlichen (Abenteuer- und Spiel-)„Trieb“ wird in einem (groß-)städtischen und formal hochgradig „verregelten“ Lebenszusammenhang nunmehr eine formalrechtlich zu sanktionierende „Jugendkriminalität“, aus „Scharen“ von (unbotmäßigen und über die Stränge schlagenden) Jugendlichen werden gefährliche, kriminelle „Jugendgangs“, auf die Polizei und Strafjustiz angesetzt werden (vgl. Addams 1909, S. 51–71, 1902, S. 26 ff.). Im Hinblick auf die Kriminalisierungsfolgen, die ein großstädtischer Lebenszusammenhang für Jugendliche nach sich ziehen kann, schreibt Addams (1902, S. 27):

From the very beginning the most enticing and exciting experiences which they have seen have been connected with crime. The policeman embodies all the majesty of successful law and established government (…) The excitement of a chase, the chances of competition, and the love of a fight are all centred in the outward display of crime (…) This very imaginative impulse and attempt to live in a pictured world of their own, which seems the simplest prerogative of childhood, often leads the boys into difficulty.

Angesichts dieser für eine kritische Soziale Arbeit zentralen Weichenstellung, nämlich bei der Analyse und Bewertung spezifischer (Praxis-)Konstellationen die jeweiligen situativen Kontextbedingungen als Grundlage spezifischer Interpretations-, Aushandlungs- und Anwendungsprozesse systematisch in Rechung zu stellen (und nicht von einem abstrakt-universellen Normenkonzept auszugehen, das vorab „objektiv“ festlegt, was „gut“ und „sinnvoll“, was „hilfreich“ und „wünschenswert“ ist) – angesichts dieses im Ansatz gegebenen Moments einer (selbst-)reflexiven Vergegenwärtigung des eigenen historisch-gesellschaftlich bestimmten (normativen) Standorts, definierte die Settlement-Bewegung ihr Verhältnis zu den BewohnerInnen des Quartiers eben nicht als das einer einzelnen (Armen-)Helferin, einer Fürsorgerin oder einer Sozialarbeiterin zu ihren „Klienten“.Footnote 20 Vielmehr sahen sie sich in ihrem Rollenverständnis als „gute Nachbarn“ in einer auf Gleichberechtigung und Reziprozität gegründeten Beziehung,Footnote 21 die die Grundlage für die Leitprinzipien der Teilhabe und aktiven Beteiligung der QuartiersbewohnerInnen darstellten (vgl. Addams 1893b, S. 41). Dieses „Arbeitsbündnis“ wiederum war die Basis für den Anspruch der Settlement-Bewohner, als Sozialreformerinnen und Aktivisteninnen zu gelten, die mit ihrer Kritik an ausbeuterischen (Arbeits-)Verhältnissen (z. B. dem Fabrik- und insbesondere dem Heimarbeitssystem), an infrastrukturellen Versorgungsdefiziten (z. B. der Müllabfuhr, der Kinderbetreuung) und an ethnisch begründeten Diskriminierungen (z. B. an spezifischen Migrantengruppen und Afro-AmerikanerInnen) auf soziale Verhältnis- und nicht individuelle Verhaltensänderungen zielten. Vor dem Hintergrund dieses auf umfassende Partizipation und kollektive Aktivierung der Bewohner gegründeten Selbstverständnisses treten die Differenzen zur von der COS und Mary Richmond präferierten Praxis Sozialer Arbeit umso deutliche hervor, und zwar sowohl im Hinblick auf das zugrunde liegende Handlungsmodell als auch im Hinblick auf die Arbeitsformen bzw. Methoden und Ziele.

Der von Mary Richmond systematisierten Methode der sozialen Einzelfallhilfe liegt – wie wir gesehen haben – ein unverkennbar hierarchisch-paternalistisches Experten-Modell als Basis der Handlungsorientierung in der Sozialen Arbeit zugrunde. Das im Kontext der Ausbildung vermittelte „professionelle“ Wissen bildete zusammen mit dem in der Praxis durch „friendly visiting“ erhobenen, bewerteten und geordneten (Erfahrungs-)Wissen das „objektive“ Fundament für die Expertenschaft der Sozialarbeiterin, auf das sich in der Folge die individualisierten Interventionen (Ratschläge, Unterstützungsleistungen, Verhaltensanweisungen, etc.) in der Einzelfallhilfe gründeten.

Grundsätzlich anders verhielt es sich hier – wenn auch oft mehr dem Anspruch als der Wirklichkeit nach, wie immer wieder betont werden muss – mit dem partizipativen Kooperations-Modell von Hull-House.Footnote 22 Die „Nachbarn“ des Settlements waren nicht wie die „Klienten“ der COS lediglich passive Objekte („Lieferanten“) eines Wissens, dem erst die professionellen „Experten“ seine eigentliche sachlich angemessene, „objektive“ Bedeutung verleihen konnten. Vielmehr waren die „Nachbarn“ – neben den systematischen Forschungsaktivitäten von Hull-House (siehe unten) – eine eigenständige Quelle eines „gültigen“ Wissens, das in den Handlungsorientierungen des Settlements zum Tragen kommen sollte. D. h., als aktiven Produzenten eines „bedeutsamen“ und praktisch relevanten Wissens oblag es den „Nachbarn“, mit Unterstützung der Settlement-Bewohner, ihre Probleme zu identifizieren, ihre Anliegen zu formulieren und ihre Konflikte zu bearbeiten. „Beziehungsarbeit“ bedeutete auf dieser Grundlage dann: Nicht das Verhältnis zum „Klienten“ professionell so zu gestalten, dass durch ein Maximum an „entzogenem“ Wissen ein Optimum an individueller Veränderungsbereitschaft zu erzeugen war. „Beziehungsarbeit“ hieß hier vielmehr, über den Aufbau „guter“ nachbarschaftlicher Beziehungen die Organisation von kollektiven (Arbeits- und Lebens-)Zusammenhängen zu ermöglichen, um in einer solidarischen Anstrengung gemeinsam für infrastrukturelle Verbesserungen in der Nachbarschaft und im Stadtteil zu streiten. Bei dieser Form einer gemeinwesenorientierten, auf kollektive Organisation gestützten Sozialen Arbeit wurden moralisierende Klassifikationen und „Vereigenschaftungen“ (wie die Separierung in „würdige“ und „unwürdige“, in „ehrliche“ und „unehrliche“ Arme), die für die soziale Einzelfallhilfe von so elementarer Bedeutung waren, nachgerade irrelevant. Wenn das Ziel nicht individuelle Verhaltensänderung, sondern die Herstellung und Verbesserung der sozialen Infrastruktur eines Stadtteils und in einem umfassenderen Sinne soziale Reformen auf lokaler und nationaler Ebene waren, dann stellen soziale – und nicht individuelle – Veränderungen das entscheidende Erfolgskriterium dar. Die Frage, ob die damit verbundenen Verbesserung an Lebensqualität („unverdientermaßen“) auch dem moralisch „unwürdigen“ oder nur dem „würdigen“ Armen zugute kam, stellt(e) sich in der Logik der Gemeinwesenorientierung eines Settlements erst gar nicht (und taucht dementsprechend als Problemkonstellation bei Addams kaum bzw. lediglich in Form einer Abgrenzung auf).Footnote 23

Eine vergleichbare theoretisch wie praktisch relevante Verschiebung lässt sich auch bei dem – in der Sozialen Arbeit mittlerweile zur inhaltsleeren Floskel mutierten – Anspruch verfolgen, „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder (neoliberal-neudeutsch) „aktivierende Hilfe“ leisten zu wollen. Beide Seiten reklamieren diese Zielorientierung für sich, allerdings mit grundverschiedenen Bedeutungen und Handlungsimplikationen. Im Rahmen des paternalistischen Experten-Modells der COS bedeutet „Hilfe zur Selbsthilfe“, einen Prozess einzuleiten, an dessen Ende eine zwar professionell begleitete und unterstützte, letztlich aber individuell zu bewerkstelligende (Selbst-)Veränderung des „Klienten“ mit dem Ziel der Unabhängigkeit („self-reliance and independence“) von (öffentlicher) Unterstützung stehen sollte (vgl. Richmond 1899, S. 5, 78 u. ö.). „Hilfe zur Selbsthilfe“ in dem gemeinwesenorientierten Setting von Hull-House bedeutete demgegenüber die Ermöglichung, Unterstützung und Begleitung der Organisation von Gruppensolidaritäten und Kooperationsverhältnissen, deren Ergebnis – idealerweise – kollektiv herbeigeführte soziale Veränderungen und im Weiteren die selbständige Artikulation und Vertretung der Interessen durch die Betroffenen sein sollte. Bedeutete im einen Fall „Hilfe zur Selbsthilfe“ einen Prozess zu initiieren, der in einem ersten Schritt eine „moralische Differenzierung der Armen“ in „würdige“ und „unwürdige“ und in einem zweiten Schritt eine Beseitigung der Armut durch „moralische Besserung“ des Armen beinhaltete (vgl. Richmond 1899, S. 6, 28), ging es im anderen Fall um einen gemeinschaftlichen Prozess zuerst der „Sichtbarmachung von Armut“ und Ausbeutung (vgl. Trattner 1999, S. 177) und anschließend um eine Veränderung der inkriminierten Armuts- und Ausbeutungsverhältnisse. Exemplarisch hierfür steht dabei das Selbstverständnis, mit dem Hull-House bei der kollektiven Organisation von Interessen als Versammlungs-, Unterstützungs- und nicht zuletzt auch als Forschungszentrum für unterschiedliche Gruppen fungierte. Hull-House bzw. ihre Bewohner stellten nicht nur – passiv – die Infrastruktur (Räumlichkeiten, etc.) für die Organisation kollektiver Interessensvertretung zur Verfügung. Die Bewohnerinnen betrieben und unterstützten auch aktiv die gewerkschaftliche Organisation, insbesondere der am meisten ausgebeuteten Arbeiterinnen der Chicagoer Textilbranche: „The residents came to the district with the general belief that organization for working-people was a necessity. They would doubtless have said that the discovery of the power to combine was the distinguishing discovery of our time (…).” (Addams 1895, S. 138 f.) Mehrere Gewerkschaftsgründungen, regelmäßige Gewerkschaftstreffen und die gelegentliche Koordination von Streikaktivitäten waren Ausdruck einer Haltung, die „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht so sehr als einen individuellen und bestenfalls familiären, sondern als einen kollektiven Prozess verstand.Footnote 24

Beide Perspektiven beinhalteten auch weitreichende methodische Implikationen. Die Settlement-Bewegung wollte entsprechend ihrem Selbstverständnis nicht noch eine weitere „mildtätige“ Organisation zum althergebrachten System der privaten und öffentlichen Armenhilfe hinzufügen. Vielmehr wollte sie in bewusster Abgrenzung zu etablierten Formen der Hilfe „neues Terrain“ betreten. Dazu gehörte auch, dass die Arbeitsprinzipien und Vorgehensweisen relativ unbestimmt gehalten wurden. D. h. es gab keine ausgewiesenen bzw. privilegierten Methoden. Diese sollten vielmehr das Ergebnis eines – grundsätzlich offenen – Erfahrungsprozesses sein. Die unmittelbar am Individuum orientierte Arbeit nahm im Settlement ohnehin nie einen besonderen Stellenwert ein (es gab Einzelfallhilfe in Hull-House, aber in einer relativ unsystematischen und spontanen Weise und ohne moralische Qualifikationen der Hilfeempfänger – also genau das, was zu überwinden Mary Richmond mit ihrem Konzept der sozialen Einzelfallhilfe bestrebt war). Die vom Settlement bevorzugt eingesetzten „Methoden“, die später als „Gemeinwesenarbeit“ und „Gruppenarbeit“ zu genuinen Methoden der Sozialen Arbeit stilisiert wurden, waren – im Vergleich zu Mary Richmonds Einzelfallhilfe – nie Gegenstand einer besonderen, wissenschaftlich ambitionierten Systematisierungsanstrengung (schon gar nicht zum Zweck einer Rationalisierung und Effektivierung eines wie immer verstandenen „Hilfeprozesses“). Man verstand sich im Settlement primär als kreativ „Lernende“, genauer als lernende Generalisten mit keiner klar definierten und systematisierten Arbeitsform oder „Methode“. Vielmehr beharrte Addams auf einer Grundhaltung, wonach die Settlement-Bewohner „must be content to live quietly side by side with their neighbors until they grow into a sense of relationship and mutual interests (…) Many residents must always come in the attitude of students (…) regarding the Settlement as a classroom“ (1893a, S. 26). D. h. die Methodenorientierung (und der damit verbundene Professionalisierungsanspruch), die in der Folgezeit in einem regelrechten Methodenfetischismus in der Sozialen Arbeit kulminierte, wurde mit einer gewissen Skepsis gesehen und nahm im Selbstverständnis von Addams und der Settlement-Bewegung insgesamt einen untergeordneten Stellenwert ein. Dieser relative Vorbehalt gegenüber einer Methodisierung dürfte seine Grundlage u. a. im Selbstverständnis des Settlements als eines offenen Experimentierfeldes und Provisoriums gehabt haben. Das Settlement, so Addams (1893a, S. 26 f.) „must be hospitable and ready for experiment (…) The Settlement movement is from its nature a provisional one.“Footnote 25

Ganz im Gegensatz zur von Mary Richmond repräsentierten Tradition Sozialer Arbeit. Hier wurde die wissenschaftlich begründete, systematisierte und schematisierte Methode der Einzelfallhilfe zum – im Zeitalter „exakter“ Wissenschaften unabdingbaren – Ausweis eines spezifischen Expertenwissens und der Professionalität Sozialer Arbeit, mit der sich u. a. im Statuswettbewerb mit anderen etablierten und aufstrebenden Professionen (der Medizin, der Jurisprudenz, der Psychiatrie, etc.) legitime Ansprüche auf eine eigenständige „Problembearbeitungskompetenz“ geltend machen und durchsetzen ließen (vgl. Richmond 1917, S. 36).

Diese grundlegende Differenz zwischen einer individualisierenden und einer tendenziell kollektiv ausgerichteten Orientierung setzt sich über den konzeptionellen Zuschnitt des Settlement-Projektes hinaus in den spezifischen Anbindungen an soziale Bewegungen fort. Hull-House war nicht nur von Anfang an als das kollektive Unternehmen einer „alternativen“ Lebensform konzipiert, das systematisch auf die Herstellung von kooperativen Lebensverhältnissen und Arbeitszusammenhängen ausgerichtet war. Darüber hinaus kam das kollektive (und im weitesten Sinne politische) Moment von Hull-House und der Settlement-Bewegung durch eine mehr oder weniger ausgeprägte und bewusst gesuchte „Einbettung“ in diverse nationale wie internationale soziale Bewegungen zum Ausdruck.

An erster Stelle ist hier der Zusammenhang mit der Frauenbewegung zu nennen. Mit der Verbindung zur Frauenbewegung wird die Frage der Etablierung einer modernen, verberuflichten Sozialen Arbeit untrennbar mit der Frage der Emanzipation (bürgerlicher) Frauen verknüpft. Die Lebenslage und das Lebensgefühl junger gebildeter bürgerlicher Frauen stellten sich im späten 19. Jahrhundert in den Worten von Jane Addams als Momente einer (von ihr selbst so erlebten) Tragödie und Gefühlen sozialer Nutzlosigkeit dar (vgl. Addams 1893a, S. 21). Im Rahmen der weiblichen Erziehung im gehobenen (Bildungs-)Bürgertum wurden auf der einen Seite systematisch (Handlungs-)Motive genährt und ausgebildet, die auf die Aneignung und Auseinandersetzung mit einer außerhäuslichen Wirklichkeit gerichtet waren, die sich als eine von Armut, Hunger, Elend, Unglauben, Krankheit, etc. geprägte Welt darstellte. Auf der anderen Seite wurden aber die ausgebildeten (Handlungs-) Impulse in dem Augenblick wieder auf die private Sphäre von Famile, Haushalt und Geselligkeit zu begrenzen versucht, da sie auf ihre Aktualisierung, sprich den Anspruch auf Teilhabe und aktive (Mit-)Gestaltung in den öffentlichen Angelegenheiten des „Gemeinwohls“ drängten.

(…) from babyhood the altruistic tendencies of these daughters are persistently cultivated. They are taught to be self-forgetting, to consider the good of the Whole before the good of the Ego. But when all this information and culture show results, when the daughter comes back from college and begins to recognize her social claim to the ‚submerged tenth’, and to evince a disposition to fulfill it, the family claim is strenuously asserted; she is told that she is unjustified, ill-advised in her efforts. (Addams 1893a, S. 21)

Vor diesem Hintergrund stellte für einen Teil der akademisch gebildeten, jungen und meist unverheirateten bürgerlichen Frauen die besondere Form der Soziale Arbeit in den Settlements (mit ihren dauerhaften Wohn-, Lern- und Arbeitsmöglichkeiten) eine „ehrbare“ Alternative dar, um die mit den traditionellen frauenspezifischen Rollenzuschreibungen verbundene Beschränkung ihres Aktionsradius auf den privaten Bereich der Familie und Häuslichkeit zu durchbrechen und um eine öffentliche, dem „Gemeinwohl“ verpflichtete Rolle zu erweitern oder gar lebenslang zu ersetzen. Dieser Zusammenhang machte in den Augen von Addams die von ihr offen so benannte (und nicht über „entlehnte Motive“ – z. B. eine den „Armen“ zugeschriebene „Hilflosigkeit“ – verdeckt legitimierte) „subjektive Notwendigkeit des Settlements“ aus (vgl. Addams 1893a). Insofern kommt es sicher nicht von ungefähr, dass sich die erste Generation der Settlement-Bewohnerinnen zum größten Teil aus der ersten Generation der College-Absolventinnen rekrutierte (vgl. Davis 2000, S. 3). Derartige explizit frauenemanzipatorische Ambitionen lagen demgegenüber Mary Richmond argumentativ ziemlich fern, wiewohl sie sie realiter sehr wohl gelebt hat.Footnote 26

Gleichwohl, das von Addams öffentlich artikulierte „Frauenbild“, die damit verbundenen emanzipatorischen Ambitionen und vor allem die Praktiken einer Lebensform (wie die von Hull-House) stellen sich als ein inhaltlicher Zusammenhang dar, der widersprüchlicher und uneindeutiger nicht sein könnte. Zum einen hielt Addams – ohne jeden Anflug einer Problematisierung – an der überlieferten, in der „Natur“ von „Mann“ und „Frau“ begründeten Dichotomisierung der Geschlechter fest. In gelegentlich quasi-religiösen Überhöhungen der Rolle der Frau (vgl. Addams 1895, S. 48) bediente sich Addams des ganzen Arsenals der seinerzeit geläufigen geschlechtsspezifischen Merkmalszuschreibungen. Der spezifisch weibliche Bewusstseins- und Gefühlszustand war demnach von Eigenschaften geprägt wie: Fürsorglichkeit, Versorgungs-, Schutz- und Pflegebereitschaft, Intuition, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft für den Nächsten, Disposition zu Kompromiss und Ausgleich, größere Friedfertigkeit und geringere Aggressionsneigung (was Frauen zu alledem noch die Funktion einer friedensfördernden Zivilisierung von Männern aufbürdete), etc. Kurzum, Addams stellt die zentralen gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsinstitutionen der Familie, der Ehe und Heirat und die damit verbundenen frauenspezifischen Rollenerwartungen (Ehefrau, Mutter) – aus Überzeugung, nicht aus strategischem Kalkül – zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage. Mit dieser (mit dem Zeitgeist und Mary Richmond) konformen, konservativen Konzepualisierung der Rolle der Frau verkörperte Addams keine Herausforderung, geschweige denn eine Gefahr für die Grundkoordinaten der gesellschaftlichen Geschlechterordnung um 1900 (vgl. Davis 2000, S. 207 f.). Im Gegenteil, mit ihren essenzialisierenden Rollen-Zuschreibungen (die Frauen als nährende Versorgerin, als selbstlose Helferin, etc. beschreibt) „bediente“ Addams ein tief eingewurzeltes kulturelles Muster entsagungsvoller, wohltätiger weiblicher Opferbereitschaft, das – mit Blick auf die Aktivitäten rund um Hull-House – auch die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person für lange Zeit zu bestimmen (und gleichzeitig die Wahrnehmung ihrer subversiveren Momente ganz offensichtlich zu neutralisieren) vermochte.

Zum anderen – und mit diesem Argumentationsschritt setzt allerdings schon die Erosion der festgeschriebenen Grenzziehungen in der Geschlechterordnung ein – postuliert Addams auf der Grundlage ebenjener hegemonialen geschlechterspezifischen Merkmalszuschreibungen einen umfassenden Anspruch von Frauen auf gesellschaftliche (politische, kulturelle und ökonomische) Teilhabe und Gestaltung des Sozialen. Addams begründet diesen Anspruch mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen durch Industrialisierung und Urbanisierung, die eine Erweiterung von ehemals auf den „privaten“ Bereich von Familie und Haushalt beschränkten Funktionen auf den öffentlich-politischen Bereich des (städtischen) „Haushalts“ und Gemeinwesens notwendig machten. Die industrialisierte Großstadt stellt nach Addams einen „erweiterten Haushalt“ dar, bei dessen „Führung“ und Verwaltung nunmehr die bisher auf den Familienhaushalt begrenzten „natürlichen“ weiblichen Fähigkeiten (Kindererziehung, Ernährung, Pflege, Hygiene, Schutz, etc.) mit sozial erweitertem Aktionsradius zum Tragen kommen müssen – nicht zuletzt, weil die männlichen Funktionsträger durch ihr (dem Muster privatwirtschaftlicher Unternehmensführung folgenden) Konkurrenzverhalten an der Herstellung einer sozialen Verfassung des städtischen Gemeinwesens gescheitert sind (vgl. Addams 1907, S. 101). Zur Begründung rekurriert Addams dabei auf frühgeschichtlich-stammesgesellschaftliche Konstellationen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die unter den veränderten Bedingungen der Industrialisierung ihre funktionales Äquivalent in öffentlich-kollektiv organisierten Sicherungs- und Fürsorgeleistungen findet (und unter aktiver politischer Beteiligung von Frauen in Zukunft in noch sehr viel größerem Maße finden muss):

From the beginning of tribal life women have been held responsible for the health of the community, a function which is now represented by the health department; from the days of the cave dwellers, so far as the home was clean and wholesome, it was due to their efforts, which are now represented by the bureau of tenement-house inspection; from the period of the primitive village, the only public sweeping performed was what they undertook in their own dooryards, that which is now represented by the bureau of street cleaning. Most of the departments in a modern city can be traced to women’s traditional activity, but in spite of this, so soon as these old affairs were turned over to the care of the city, they slipped from woman’s hands (…). (Addams 1907, S. 102 f.)

Dieser Prozess einer Transformation ehemals „weiblicher Aufgaben“ in die institutionalisierten (und in der Folge männlich dominierten) Strukturen staatlich-kommunaler Regulierungs- und Versorgungsinstanzen – ein Prozess, den Addams als eine (Herrschafts-)Geschichte „erfolgreicher“ Enteignung und Ausschließung von Frauen beschreibt (vgl. Addams 1907, S. 103) – bedarf nunmehr unter den Vorzeichen eines entwickelten Industriekapitalismus einer nachhaltigen Umkehrung, und zwar auf der Grundlage einer umfassenden Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse, zumal – wie Addams süffisant bemerkt – „these activities which women have always had, are not at present being carried on very well by the men in most of the great American cities (…).“ (1907, S. 103) Insofern stellt die von Addams evolutionsgeschichtlich begründete Emanzipation von Frauen lediglich die Restituierung ihrer „angestammten“ gesellschaftlichen Funktionen im Kontext großstädtischer Lebens- und Arbeitszusammenhänge dar (Addams 1907, S. 103).

Und dennoch: Addams’ bisweilen unbestimmtes Oszillieren zwischen einer konservativen – und deshalb auch „gesellschaftsfähigen“ – und einer progressiven, d. h. geschlechterspezifische Grenzziehungen und Hierarchien unterminierenden Konzeptualisierung von „Weiblichkeit“, zwischen einer Essentialisierung der „weiblichen Natur“ und einem bedingungslosen gesellschaftlichen Teilhabeanspruch, löst sich am Ende im Sinne einer „eindeutigeren“ (wenn auch subtilen) Subversion der etablierten sozialen Ordnung in der spezifischen Lebensform von Hull-House und den damit verbundenen Praktiken der Lebensführung auf. Im Kontext einer – sichtbar durch bürgerlich-weibliche Respektabilität (Wohltätigkeit, Selbstlosigkeit, etc.) gerahmten – Praxis der Lebensführung (unverheiratet, autonom, kinderlos, öffentlich, unabhängig) setzten sich die Frauen von Hull-House in ein neues, „emanzipiertes“ Verhältnis zu Gesellschaft und Politik, dem allerdings mit Bedacht jede Anwandlung einer demonstrativen Inszenierung als Gegenentwurf zur etablierten (Geschlechter-, Generationen- und Klassen-)Ordnung abging. Die mehr praktizierte als diskursiv artikulierte Lebensform von Hull-House war mit ein Grund dafür, dass Addams und ihre Mitstreiterinnen zwar ein neues weibliches Rollen-Modell verkörperten, an dem sich viele junge Frauen aus bürgerlichen Lebenszusammenhängen seinerzeit orientierten, dieses aber in der öffentlichen Wahrnehmung kaum als eine grundsätzliche Bedrohung für die „gültige“ (Geschlechter-)Ordnung betrachtet wurde (vgl. Davis 2000, S. 207 ff.). Diese nach außen relativ unscheinbare nicht-diskursive „Praxis der Lebensführung“ in Hull-House dürfte mit verantwortlich dafür sein, dass ihr subversives Potenzial bis in die jüngste Vergangenheit hinein nicht gesehen bzw. unterschätzt wurde.Footnote 27

Den zweiten bedeutenden – wenngleich nicht weniger ambivalenten – Anknüpfungspunkt kollektiver Einbettung stellte die Arbeiterbewegung dar. Wie wir gesehen haben, umfasste die Agenda von Hull-House eine Vielzahl von Fragen und Problemen, die sich mit denen der Arbeiterbewegung unmittelbar berührten (Arbeitsschutz, Arbeitszeiten, Kinderarbeit, Mindestlöhne, etc.). Dabei stellte Hull-House nicht nur die Infrastruktur für die Organisation von Gewerkschaften zur Verfügung, sondern initiierte und unterstützte derartige Bemühungen kollektiver Interessensvertretung mit einer bemerkenswerten, auch Widerständen und Kritik standhaltenden Energie. Einer der Gründe hierfür dürfte in Jane Addams’ Konzept einer „sozialen Demokratie“ begründet liegen, mit dem sie eine grundlegende gesellschaftspolitische Forderung verband: Über den begrenzten Bereich des Politischen hinaus sind alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens – die Familien-, Geschlechter- und Erziehungsverhältnisse, die Soziale Arbeit, die kulturellen Institutionen, etc. – zum Gegenstand eines umfassenden Demokratisierungsprozesses zu machen, mit dem sich Möglichkeiten einer aktiven Gestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen durch die unmittelbar Betroffenen eröffnen (vgl. Pinhard 2009, S. 211). So bestimmte Addams (1893a, S. 15) als erste Aufgabe eines Settlements „the desire to make the entire social organism democratic, to extend democracy beyond its political expression.“ Dieser fundamentale Demokratisierungsanspruch schloss explizit den Bereich der Ökonomie mit ein, der – wie die Hull-House-Bewohner in unmittelbarer Anschauung vor Ort schnell zur Kenntnis nehmen mussten – durch eine besonders eklatante Ungleichheit der klassen- (und im Weiteren der geschlechter- und generationen-)spezifischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse gekennzeichnet war.

Allerdings nahm Addams an dieser Stelle eine bezeichnende Einschränkung vor. Solange sich die Herstellung von Verhandlungsmacht durch gewerkschaftliche Organisation in den „friedfertigen“ Formen der solidarischen Interessensvertretung und des gewaltfreien Kampfes für soziale Veränderungen und Demokratisierung vollzog, konnten die Anliegen der Arbeiter der Unterstützung durch Hull-House gewiss sein. Jedoch wurde insbesondere von Addams der militant ausgetragene Konflikt ebenso abgelehnt wie die Vorstellung, dass die Gesellschaftsordnung der USA auf strukturellen Widersprüchen und Konfliktverhältnissen basierte. Eine explizite Konfliktorientierung, die auf die Überwindung der strukturellen (Klassen-)Widersprüche und damit auf eine grundlegende Transformation der gesellschaftlichen Ordnung zielte, war für Addams vielmehr Ausdruck einer grundsätzlichen „Unreife“, eines unterentwickelten moralischen Bewusstseins der Arbeiterklasse.

As the tendency to warfare shows the primitive state of the labor movement, so also this division on class lines reveals its present underdeveloped condition. The organization of society into huge battalions with syndicates and corporations on the side of capital, and trades-unions and federations on the side of labor, is to divide the world into two hostile camps, and to return us back into class warfare and class limitations (…) It may be that as the labor movement grows older and riper, it will cease to divide all men so sharply into capitalist and proletarians, into exploiter and exploited. (Addams 1895, S. 146)

Die amerikanische Gesellschaft stellte für Jane Addams dementsprechend keine Klassengesellschaft dar, der Klassenkampf ebenso wie alle Varianten militanter Aktionen repräsentierte eine abzulehnende, weil vorzivilisatorische Form der Konfliktaustragung. Nicht revolutionärer Umsturz, sondern evolutionärer Wandel in dem Rahmen, den die demokratische Verfassung und die ökonomischen und politisch-rechtlichen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft bereit stellten, mussten das Ziel sein. Dabei wurde dem Settlement auf der Grundlage einer quasi natürlichen Verpflichtung auf ein – die Partikularinteressen der Konfliktparteien übersteigendes – „Gemeinwohl“ eine Vermittlerfunktion zugeschrieben, die es in dieser Funktion letztlich zu einem expliziten gesellschaftlichen Ordnungs- und Stabilisierungsfaktor machte: „Hence the duty of the settlement in keeping the movement from becoming in any sense a class warfare is clear. (…) If to insist upon the universality of the best is the function of the settlement, nowhere is its influence more needed than in the labor movement, where there is constant temptation towards a class warfare.“ (Addams 1895, S. 148 f.)

An dieser Stelle wird nicht nur ein deutliches Defizit in der gesellschaftstheoretischen Grundlegung von Jane Addams’ Konzeptualisierung der us-amerikanischen Gesellschaft sichtbar, insofern sie mit ihrer „voluntaristischen“ Moralisierung von gesellschaftlichen Konfliktverhältnissen, d. h. den wiederholten und eindringlichen Appellen an den Altruismus resp. den Konsenswillen der beteiligten Parteien, analytisch nicht nur die strukturellen Bedingungen der gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte (des organisierten Kapitalismus) verfehlt. Darüber hinaus wird daran auch eine Befangenheit in einem letztlich harmonistischen Gesellschaftsbild deutlich, das Klassen- und Geschlechterkonflikte, ökonomische Widersprüche und politische Interessensgegensätze lediglich als – bei beiderseitig gutem Willen – überbrückbare Differenzen wahrnimmt. Hier ist Jane Addams und mit ihr die Settlement-Bewegung – von wenigen Ausnahmen wie Florence Kelley abgesehenFootnote 28 – nie über den aufgeklärt-idealistisch-humanistisch-(bildungs-)bürgerlichen Anspruch einer „Zivilisierung“ und „Pazifizierung“ aller beteiligten Konfliktparteien hinaus gekommen. Es sollte späteren Entwicklungen einer kritischen Sozialen Arbeit vorbehalten bleiben, dieses offensichtliche gesellschaftstheoretische Defizit zu thematisieren und zu bearbeiten.

Die Abgrenzung von jeder Form der Militanz in der Austragung von Konflikten erklärt schließlich auch die besondere Affinität der Settlement-Bewegung zur (internationalen) Friedensbewegung, die vor allem während des Ersten Weltkriegs bedeutsam wurde, und als deren streitbare, in ihrem Pazifismus unbeirrbare und unermüdliche Repräsentantin Jane Addams schließlich auch international bekannt wurde. Für Addams stellte die „Einbettung“ der Settlement-Bewegung in die unterschiedlichen sozialen Bewegungen nicht nur eine mehr oder weniger zufällige Koinzidenz oder gar eine lediglich in ihrer Person begründete Eigentümlichkeit dar, sondern bildete einen konstitutiven Bestandteil ihres Verständnisses von Sozialreform und Sozialer Arbeit. Dieser Zusammenhang kommt, wenn auch vielleicht nicht mit der gleichen Evidenz wie bei der Frauen- und Arbeiterbewegung, auch im Hinblick auf die Friedensbewegung zum Tragen. Der „militärische Konzeption von Gesellschaft“, die nach Addams (1907, S. 102) die die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten bis in die Gegenwart hinein antreibt, bestimmt – verklausuliert und vermittelt – auch die zivilen (städtischen) Formen des sozialen Verkehrs mit seinen häufig gewaltförmigen Spielarten der Konfliktbearbeitung. Der Modus der (städtisch-industriellen) Vergesellschaftung ist nach Addams immer noch ein letztlich militärischer, der sich bevorzugt auf die Mittel der „Strafe“ und des „Zwangs“ – den Überbleibseln eines militärischen Kodex’ – stützt, um das Gemeinwesen sozial zu integrieren (vgl. Addams 1907, S. 21 f.).

Mit dieser Einsicht gelangt Addams in Ansätzen zu einer bemerkenswerten Form der Herrschafts- und Institutionenkritik. Das Versagen der maßgeblichen Instanzen staatlicher Regulierung angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen (Industrialisierung, Urbanisierung, Migration) und der angesichts dessen bevorzugt praktizierten Rückgriffe auf Maßnahmen der Repression stehen für sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit Relikten einer militärischen Verfassung der Gesellschaft, die eine umfassende soziale Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse blockiert (vgl. Addams 1907). Der staatliche Zwangs- und Repressionsapparat (z. B. in Gestalt der Polizei) repräsentiert so für Addams „the most vigorous survival of militarism to be found in American cities“ (Addams 1907, S. 33). Er stellt damit ein den staatlichen Institutionen eingeschriebenes Hemmnis für die Entwicklung einer „friedvollen“ und verständigungsorientierten zivilen Gesellschaft dar.

Die destruktiven Auswirkungen von Kriegen bzw. des „Geistes des Militarismus“ auf das zivile Leben machte Addams u. a. an Beobachtungen im sozialen Beziehungsgefüge des nachbarschaftlichen Umfelds von Hull-House fest. So schlug sich der Spanisch-Amerikanische Krieg (1898) ihrer Wahrnehmung nach nicht nur in einer neuen Vorliebe der Kinder für Kriegsspiele nieder. Die individuellen Anreiz- und Nachahmungseffekte, die vom „verrohende Vorbildcharakter“ staatlich legitimierter Gewaltanwendung im Krieg ausgehen, trugen ihrer Einschätzung nach auch zu einem Anstieg von Tötungsdelikten in der Nachbarschaft bei (vgl. Davis 2000, S. 145).Footnote 29 Und schließlich erschwerten – vor allem mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges – die Spannungen, die innerhalb des Migrantenmilieus angesichts der Verwicklungen unterschiedlicher Nationen in Kriegsgeschehnisse auftraten, ein friedliches und kooperatives Zusammenleben innerhalb des „multinationalen“ Wohnquartiers rund um Hull-House.

Den (gesellschaftspolitischen) Ausweg, den Addams angesichts dieser zivilen Fortschritt obstruierenden Konstellation anbot, bestand in der immer wieder vorgebrachten, mehr appellativen als analytisch begründeten Forderung einer grundlegenden Substituierung der destruktiven Formen des Militarismus und der kriegerischen Konfliktbearbeitung durch die produktiven, Werte schaffenden Formen von Arbeit in Verbindung mit einer kollektive Anstrengung zur Bearbeitung und „Lösung“ der „sozialen Frage“. Die anstehende Revision eines militaristischen Denkens meinte Addams an Entwicklungen, die sie im Vorfeld des Ersten Weltkriegs (!) erkennen zu können glaubte, ablesen zu können:

(…) we care less each day for heroism connected with warfare and destruction and constantly admire more that which pertains to labor and the nourishing of human life. The new heroism manifests itself at the present moment in a universal determination to abolish poverty and disease, a manifestation so widespread that it may justly be called international. (Addams 1907, S. 16; Hervorh. R.A.)

Vor diesem Hintergrund führt nun Addams die Friedensbewegung mit der Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung (die alle drei bis zum Ersten Weltkrieg durch ihren Internationalismus geprägt waren) in einer aufschlussreichen Weise zusammen. Die Aufwertung und allgemeine Anerkennung der produktiven Leistungen der ArbeiterInnen stellte für Addams ebenso einen Beitrag zu Pazifizierung sowohl der zwischenstaatlichen wie der zwischenmenschlichen Beziehungen dar wie die von ihr immer wieder konstatierte (und gewiss auch romantisierte) Solidarität und Hilfsbereitschaft im Arbeiter- und Armenmilieu ein „gelebtes Friedensideal“ darstellte, das darüber hinaus noch durch die Tatsache aufgewertet wurde, als die Last und das Leiden des Militarismus über Generationen hinweg zum größten Teil von ArbeiterInnen getragen werden musste (vgl. Addams 1907, S. 63). Demgegenüber kommen Frauen im Zuge der historisch notwendig gewordenen Erweiterung ihrer „natürlichen“ Rolle von der Familie auf das Gemeinwesen ihrer (u. a. durch die Forderung des allgemeinen Frauenwahlrechts begründeten) „neuen“ politischen und sozialen Verantwortung für ein pazifiziertes, d. h. ein nährendes, fürsorgliches und solidarisches Gemeinwesen nach, „because the definition of the loyal citizen as one who is ready to shed his blood for his country, has become inadequate and obsolete.“ (Addams 1907) Gleichwohl, bei allen Zusammenhängen, die Addams zwischen den auf den ersten Blick disparaten sozialen Bewegungen herzustellen vermochte, für den grundlegenden Zusammenhang zwischen (organisiertem) Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus fehlten ihr auch hier die notwendigen gesellschaftstheoretischen (Analyse-)Instrumente (was die Vorwürfe des „Idealismus“, der „ideologischen Befangenheiten und Begrenztheiten“, der „romantisierenden Verklärung“, etc. leicht, aber auch ziemlich „billig“ macht).Footnote 30

Bei Mary Richmond und der COS lässt sich von all dem – der oben beschriebenen kollektiven Orientierung und der Anbindung an soziale Bewegungen – wenig bis nichts erkennen. Mary Richmond formulierte nicht nur keinen auf Emanzipation gerichteten frauenspezifischen oder grundsätzlichen sozialreformerischen Anspruch, wie er mit Addams Konzept einer „sozialen Demokratie“ notwendig verbunden war. Selbst das Projekt einer Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit tritt bei ihr eher als ein individuelles, persönliches, solitäres, denn als ein gemeinschaftliches (Gruppen-)Unternehmen wie bei Hull-House in Erscheinung.

Diese grundsätzliche Differenz zwischen einer tendenziell individualistischen und einer gesellschaftlichen Orientierung setzt sich auch auf der Ebene der Ursachenerklärungen fort. Die COS und Mary Richmond gingen in ihrem Erklärungsmodell davon aus, dass 1. die Ursachen für Armut primär in individuellen (moralischen bzw. psychosozialen) Defiziten zu suchen seien und 2. die Beseitigung der Armut deshalb in erster Linie eine Frage des „Studiums“ der individuellen Verhältnisse und der Persönlichkeit des Armen und der daraus abgeleiteten pädagogisch-psychologischen“ Interventionen sei. Demgegenüber wurde die Praxis der Sozialen Arbeit von Jane Addams und Hull-House von der entgegengesetzten Grundannahme getragen, nämlich dass die Ursachen für individuelle Hilfsbedürftigkeit, für Mangel, für Unterversorgung, etc. gesellschaftlicher Natur waren, d. h. auf die sozialen Bedingungen, die industriekapitalistische Entwicklung und Urbanisierung erzeugten, zurückzuführen waren (vgl. z. B. Addams 1899, S. 63, 1902, S. 11f). Wenn gesellschaftliche, und hier vor allem ökonomische Ursachen für die Entstehung von Armut verantwortlich gemacht wurden, dann waren folgerichtig nicht die „Abhängigkeiten von Hilfe“ das zentrale Problem (wie bei COS/Richmond), sondern die sozialen Ungleichheitsverhältnisse, die Armut erzeugten. Und dann waren Versuche der Einflussnahme nicht auf das Individuum, sondern auf soziale Sachverhalte und Zusammenhänge (Arbeits-, Wohnungs-, Bildungsbedingungen, etc.) die „Methode der Wahl“.

Da eine strukturelle, auf soziale Veränderungen ausgerichtete Soziale Arbeit im Selbstverständnis der Settlement-Bewegung auch eines „objektiven“, auf wissenschaftlichem Wissen basierenden Fundaments bedurfte, nahm Sozialforschung schon früh in Hull-House einen prominenten Stellenwert ein (vgl. Davis 1994, S. 66). Begünstigt und angetrieben wurde die sozialwissenschaftliche Forschungsorientierung von Hull-House durch eine einzigartige – historisch alles andere als zufällig zu nennende – Konstellation: Die Entwicklungsgeschichte von Hull-House (gegründet 1889) und der Universität Chicago (gegründet 1892) verlief nicht nur zeitlich parallel, sondern war vor allem in den Gründerjahren durch eine Vielzahl von persönlichen und fachlichen Verbindungen eng (jedoch nie konflikt- und spannungsfrei) miteinander verwoben. Die z. T. freundschaftlichen Beziehungen, die Jane Addams mit einer Reihe von Philosophen und Sozial- und Geisteswissenschaftlern wie William James (1842–1910), John Dewey (1859–1952) und George H. Mead (1863–1931), mit William I. Thomas (1863–1947) und Albion W. Small (1854–1926) über die Jahre pflegte, lesen sich nicht nur wie ein Who’s Who einer der wichtigsten Phasen der amerikanischen Geistesgeschichte, als mit der Begründung des Pragmatismus und der Chicago School of Sociology philosophische und sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte entwickelt wurden, die noch bis in unsere Gegenwart hinein nachwirken.Footnote 31 Organisatorische Einbindungen (Dewey war Mitglied des ersten Kuratoriums von Hull-House, vgl. Pinhard 2009, S. 179), die von Universitätsvertretern regelmäßig in Hull-House gehaltenen Vorträge, ihre Diskussionsbeteiligungen, etc. machten Hull-House nicht nur zum seinerzeit mutmaßlich anregendsten Ort intellektueller Auseinandersetzungen in Chicago, sondern schufen auch Kooperationsbeziehungen mit der Universität, die Hull-House zeitweilig wie eine universitäre Außenstelle der Erwachsenenbildung für ArbeiterInnen erscheinen ließ (vgl. Addams 1893b, S. 37; Davis 1994, S. 40 f.).

Dass Hull-House schließlich als „soziologisches Laboratorium“ (Davis 1994, S. 30) und „sozialwissenschaftliches Forschungszentrum“ wahrgenommen wurde, das einer Generation junger HochschulabsolventInnen die einmalige Gelegenheit bot, die Praxis von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik mit Forschung zu verbinden, hatte allerdings nicht nur mit den fachlichen und persönlichen Vernetzungen mit der Soziologischen Fakultät der Universität zu tun. Der für Hull-House und Addams konstitutive Konnex von Wissenschaft/Forschung und Politik/Sozialreform lenkte in Verbindung mit einem sozioökonomischen Ursachenverständnis von Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, etc. den Fokus zwangsläufig auf die „Beforschung“ von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das früheste und wohl auch bekannteste Beispiel hierfür sind die unter dem Titel „Hull-House Maps and Papers“ 1895 vorgelegten Untersuchungsergebnisse eines Gemeinschaftswerkes, das sich u. a. detailliert mit den Arbeitsbedingungen in den Fabriken, den Löhnen, den Wohn- und Mietverhältnissen, der Bildungs- und Gesundheitssituation, der Herkunft der BewohnerInnen im Wohnquartier, etc. auseinander setzte. Den „Hull-House Maps and Papers“ kommt dabei unter dreierlei Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung in der Entwicklung der amerikanischen Sozialwissenschaften und hier insbesondere der „Chicago School of Sociology“ zu. Zum einen wurde mit den „Maps“ ein entscheidender Schritt zur Begründung der (empirischen) Stadtforschung getan, die in den folgenden Jahren gewissermaßen zum Markenzeichen der „Chicago School“ werden sollte. Zum anderen richteten die „Maps“ mit ihrem Forschungsanspruch die Aufmerksamkeit auf soziale Sachverhalte (wie Migration, Arbeits-und Wohnbedingungen), die im Diskussionskontext der 1890er Jahre – wenn überhaupt – nur am Rande zum Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen wurden (bzw. wie bei der „Stadtforschung“ bis zu diesem Zeitpunkt in Gestalt impressionistisch-pittoresker Sozialreportagen eher eine Domäne von engagierten Journalisten waren). Und schließlich etablierten die „Maps“ im Anschluss an die groß angelegten Untersuchungen von Charles Booth (1840–1916) zu „Life and Labour of the People in London (1889 ff.) die „Mapping“ genannte Methode der empirischen Sozialforschung, die mit der Visualisierung der räumlichen Verteilungsstruktur von sozialen Tatbeständen (wie z. B. der Lohn- und Nationalitätenverteilung) eine Art Sozialkartographie in die amerikanische Sozialforschung einführten, die in der Folgezeit ebenso wie die Stadtforschung „stilbildend“ für die Chicago School werden sollte.Footnote 32

Die im Zusammenhang der Forschungsarbeiten erhobenen Daten und gewonnenen Erkenntnisse stellten wiederum die Basis und den „Motor“ dar, um die BewohnerInnen in ihrem Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine infrastrukturell ausgerichtete Arbeit am Sozialen (der sich die Hull-House-Forscherinnen und -aktivistinnen in ihrem Selbstverständnis durchweg verpflichtet fühlten) zu mobilisieren und zu unterstützen. Sowohl für Addams wie ihre Hull-House-Mitstreiterinnen war die Rolle der Forscherin und Wissenschaftlerin nicht von der der Aktivistin, der Sozialreformerin und Praktikerin der Sozialen Arbeit zu trennen. In den Anfängen sowohl der Settlement-Bewegung wie der sich institutionalisierenden Soziologie fühlten sich beide – die universitäre Soziologie wie die Soziale Arbeit in Gestalt von Hull-House – einem explizit sozialreformerischen Anspruch verpflichtet und durch entsprechende Kooperationen und gemeinsame Projekte eng miteinander verbunden. Für Addams stellte (reformorientierte) Soziale Arbeit lediglich so etwas wie nutzbar gemachte, „angewandte Soziologie“ dar, oder umgekehrt: Die Relevanz einer forschungs- und theoriegeleiteten Soziologie erschloss sich ihr in erster Linie darüber, als sie sich als eine Wissenschaft darbot, deren „Ergebnisse“ sich in praktisches, und das heisst vor allem sozialreformerisches Handeln übersetzen ließ. „Solange die soziologische Wissenschaft sich als Teil der Reformbewegung verstand, war Addams Soziologin; als Sozialarbeiterin verstand sie sich, solange die Sozialarbeiter sich ebenfalls mir sozialen Reformen befassten.“ (Eberhart 2009, S. 139) In dem Moment allerdings, da im Zuge einer arbeitsteiligen Ausdifferenzierung das für Addams konstitutive Bindeglied der „Sozialreform“ zwischen Soziologie und Sozialer Arbeit verloren ging, mochte sich Addams weder als Soziologin noch als Sozialarbeiterin verstehen. Mit der Abspaltung einer fortschreitend akademisierten, der Gewinnung eines „objektiven“ und politisch (wert-)neutralen wissenschaftlichen Wissens verpflichteten Soziologie von einer sich zusehends professionalisierenden Sozialen Arbeit, die sich gezielt auf die „Verarbeitung“ entlehnten und vorrangig auf die „Bearbeitung“ von Einzelfällen ausgerichteten, anwendungs- und handlungsorientierten Wissens kaprizierte – mit dieser („männliche“) wissenschaftliche Theorie und („weibliche“) soziale Praxis in klassischer, geschlechtsrollenkonformer Weise trennenden Entwicklung verschoben sich für Addams die Koordinaten ihrer disziplinären und professionellen „Verortung“ grundlegend. Vor diesem Hintergrund müssen sowohl ihre zweimalige Ablehnung eines Rufs an die Soziologische Fakultät der Universität Chicago als auch ihre wohl überlegte Distanzierung von der (Selbst-)Etikettierung als Sozialarbeiterin als „logische“ Konsequenz und Ausdruck ihres Theorie und Praxis (im Modus der Sozialreform) integrierenden Selbstverständnisses verstanden werden (vgl. Soydan 1999, S. 121 ff.).Footnote 33

Auch hier – im Kontext von Forschung und Wissenschaft – werden noch einmal die grundlegenden Differenzen beider Ausrichtungen Sozialer Arbeit deutlich. Sowohl Richmond als auch Addams schrieben einer auf wissenschaftlicher Grundlage betriebenen Forschung eine bedeutende Rolle in der Entwicklung Sozialer Arbeit zu. Richmond betrieb auf der Basis eines naturwissenschaftlich-medizinischen Modells Forschung zum Zwecke der Gewinnung eines primär technischen und im weitesten Sinne „therapeutisch“ nutzbaren Wissens, um mit dem Einsatz dieses Wissens eine Optimierung des individualisierten Hilfeprozesses zu erreichen. Demgegenüber war es Anliegen von Hull-House, durch Forschung auf einer sozialwissenschaftlich-soziologischen Grundlage ein Wissen zu erzeugen, das als Orientierung und Legitimationsgrundlage in den politischen Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Veränderungs- und Reformprozesse nutzbar war.

Auf der elementarsten Ebene lässt sich die Differenz der Perspektiven schließlich am den jeweiligen Ansätzen zugrunde liegenden Menschen- bzw. Gesellschaftsbild festmachen. Die von der COS und Mary Richmond repräsentierte Tradition Sozialer Arbeit geht im Anschluss an die klassische liberale politische Theorie – implizit – von der Vorstellung eines Individuums aus, das in einem ursprünglichen Sinne als „unabhängige“, „isolierte“, aus sozialen Bezügen „losgelöste“, „autonome“ und „absolute“ Einheit gedacht wird. Ein solchermaßen konzipiertes Individuum ist dann „Träger“ und „Eigentümer“ spezifischer a-historischer und a-gesellschaftlicher, d. h. zu allen Zeiten und unter allen gesellschaftlichen Bedingungen gültiger menschlicher „Eigenschaften“: also von Rechten und Pflichten, von Trieben und Bedürfnissen, von Ansprüchen und Interessenskalkülen, etc. Mit einem so vorgestellten, „von Natur aus“ a-gesellschaftlichen Individuum ist wiederum eine spezifische Weise des Denkens über Gesellschaft verbunden. „Individuum“ und „Gesellschaft“ werden nicht nur in einen fundamentalen, weil unauflösbaren Gegensatz gebracht; das entscheidende Problem bei diesem Denkmodell besteht darüber hinaus in der Frage, wie sich unter diesen Bedingungen Gesellschaft überhaupt herstellen lässt, wie sich die isolierten und auseinander strebenden egoistischen Bedürfnisse, Motive, Kalküle und Antriebe der Individuen zur stabilen Ordnung einer Gesellschaft fügen lassen. Die sozial isoliert gedachten Individuen werden „gesellschaftsfähig“ gemacht, so die Antwort, indem sie sich 1. aufgrund eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls „freiwillig“ unter ein Zwangsverhältnis begeben (durch einen Gesellschaftsvertrag, der dem Staat im Austausch gegen Schutz und Sicherheit Mittel legitimer Gewaltanwendung und Einschränkung individueller Rechte zuerkennt) und 2. indem die Bürger mittels „moralischer Lektionen“ und sozialisatorisch-erzieherischer Maßnahmen zur Selbstdisziplin und „Selbsthilfe“ als „autonome“ Individuen angehalten werden. In der Reproduktion dieser klassisch liberalen Ideologie eines autonomen Individuums fand und findet die traditionelle Soziale Arbeit in Gestalt der COS und der sozialen Einzelfallhilfe Mary Richmonds ihre historisch stetig erweiterte Aufgabe und – unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen – ihren „unkündbaren“, professionellen Auftrag.

Im Unterschied zum individualistischen Verständnis von COS/Richmond gingen Addams/Hull-House in ihrem Gesellschaftsverständnis von der Vorstellung einer grundsätzlichen Interdependenz aus, bei der das Individuum als „relational“, d. h. immer im Verhältnis zu und Zusammenhang mit anderen Individuen und Gruppen konzeptualisiert wird. Wechselseitige Abhängigkeiten sind in diesem Verständnis elementarer Bestandteil des Vergesellschaftungsprozesses und konstitutive Bedingung für die Entwicklung und Entfaltung von Individuen und Individualität. Gesellschaft konstituiert sich deshalb nicht über die mit staatlichen Zwangsmitteln bewerkstelligte Zähmung und Zivilisierung der (von Natur aus „egoistischen“) Individuen, wie der falsche Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft suggeriert, sondern über die Interdependenzen, die Abhängigkeits-, Kooperations- und Konfliktverhältnisse, in denen Individuen sozial situiert sind.Footnote 34 Interdependenz als Voraussetzung des Sozialen beinhaltet deshalb für Addams und die Settlement-Bewegung und ihre spezifische Form der „Arbeit am Sozialen“, diese Zusammenhänge herzustellen (wenn sie verloren gegangen sind), zu stärken (wenn sie durch gesellschaftliche Entwicklungen geschwächt wurden) und zu unterstützen (wenn es an Durchsetzungsfähigkeit mangelt).

Abschließend noch ein Wort zu verschiedentlichen Versuchen, zwischen COS/Richmond und Settlement/Addams ein breites Spektrum an Gemeinsamkeiten herauszustellen (vgl. Carson 1990, S. 65 ff.) bzw. die grundlegenden Differenzen so weit einzuebnen, dass am Ende die zwar „versöhnliche“ und gefällige, letztlich aber beliebige und „verharmlosende“ Perspektive eines wechselseitigen Ergänzungs- und Korrekturverhältnisses der theoretischen und praktischen „Defizite“ und „Vereinseitigungen“ der einen durch die jeweils andere Seite steht (vgl. Agnew 2004, S. 84 ff., insbesondere, S. 87). Solche Integrationsversuche können vordergründig durchaus eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen. Nach einer Phase akzentuierter Differenzen und begründeter Abgrenzungen, vor allem während der frühen 1890er Jahre, lassen sich in der Folgezeit fraglos wechselseitige Annäherungen und intensivierte Kooperationsbeziehungen zwischen COS und Settlement-Bewegung feststellen: 1905 wird aus der New Yorker COS-Zeitschrift Charities Review und der Zeitschrift des Chicagoer Universitäts-Settlements The Commons die gemeinsame Zeitschrift Charities and the Commons; 1909 wird mit Jane Addams zum ersten Mal eine Settlementvertreterin zur Präsidentin der COS-dominierten National Conference of Charities and Correction gewählt; die COS und Richmond zeigen sich angesichts der Folgen der 1893 einsetzenden Wirtschaftskrise zunehmend aufgeschlossener gegenüber sozialreformerischen Initiativen auf staatlicher Ebene, wie sie die Settlement-Bewegung von Anfang an propagierte (vgl. Agnew 2004, S. 88, 108); und schließlich führte die bereits angesprochene zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der Settlement-Bewegung zu einer sukzessiven Anpassung an ein hegemoniales Verständnis Sozialer Arbeit, die durch die innenpolitischen Folgen des Ersten Weltkriegs und einen in seinem Gefolge verstärkt aufkommenden konservativen Zeitgeist noch weiter beschleunigt wurde. In diesem Prozess gesellschaftlicher Anpassung gingen zweifellos auch die „radikaleren“ Impulse und Reforminitiativen in den Settlements verloren, so dass diese z. B. in den in den 1960er Jahren neu aufkommenden großen sozialen Bewegungen (Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, etc.) keine maßgebliche Rolle mehr spielten (vgl. Davis 1994, S. VIII). – Allerdings: Was sich historisch als Prozess einer sukzessiven Annäherung bis hin zur Integration beider Ansätze darstellen mag, stellt unter theoretisch-systematischen Gesichtspunkten eine ungerechtfertigte Entdifferenzierung divergierender Perspektiven dar, mit der mehr verdeckt als sichtbar gemacht wird. Auf die Rekonstruktion der paradigmatischen Orientierungen innerhalb der Sozialen Arbeit ist aber der hier versuchte Vergleich zwischen den von Mary Richmond und Jane Addams repräsentierten Perspektiven vorrangig gerichtet.

4 Fazit

Gegenseitige Hilfe, persönliche Zuwendung, materielle Unterstützung, Begleitung, Betreuung und Beratung waren seit jeher in allen Gesellschaften und allen Kulturkreisen ein fester Bestandteil in der Gestaltung sozialer Beziehungen und der Herstellung und Aufrechterhaltung einer spezifischen gesellschaftlichen Ordnung. Insofern scheint es naheliegend, Soziale Arbeit – und hier insbesondere Soziale Arbeit in Gestalt ihres direkten, individuellen Bezugs zum „Klienten“ – als ein universelles Phänomen der Menschheitsgeschichte zu betrachten, bei der es Soziale Arbeit die längste Zeit zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach in Inhalt („Hilfe“) und Form („persönliche Beziehung“) immer schon gegeben hat. Diese Vorstellung wird in der christlich-abendländischen Tradition vor allem durch die biblische Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“ genährt, die historisch gewiss zur wirkmächtigsten, prototypischen kulturellen Repräsentation eines personalen Hilfehandelns geworden ist. Im Zuge tiefgreifender gesellschaftlicher Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesse hat sich zwar die religiöse Symbolik „barmherziger freier Liebestätigkeit“ zusehends in eine Rhetorik professionalisierter „personenbezogener sozialer Dienstleistungen“ transformiert. Gleichwohl schöpfen auch unter säkularisierten Bedingungen nicht nur religiös motivierte Wohlfahrtsunternehmen, sondern auch profitorientierte Konzerne, Prominente und die politische Klasse zu Marketing-, Image- oder Legitimationszwecken – bewusst oder unbewusst – den kulturellen Fundus einer „Bilderwelt“ aus, deren Symbolik sich im Bedeutungshorizont von persönlicher Hinwendung und Fürsorge, von Opfer und Altruismus, von Selbstlosigkeit und Mitleiden bewegt (vgl. Wagner 2000, S. 11). Mit diesem durch religiöse Traditionen symbolisch hochgradig aufgeladenen Bild „persönlicher Begegnung“ ist allerdings nicht nur die Gefahr verbunden, dass „Hilfe“ im Rahmen eines paternalistischen Beziehungsgefüges in den Statuspositionen des „Gebenden“ und des „Nehmenden“ hierarchisch festgeschrieben und ein „moralisches Skript“ entworfen wird, das „Hilfe“ letztlich zu einer Sache der individuellen Verantwortung macht – die Geschichte der Sozialen Arbeit liefert reichlich Belege für eine derartige Interpretation. Darüber hinaus wird mit der Abspaltung eines Wirkungsbereichs der „Selbstlosigkeit“ eine gesellschaftliche Sphäre geschaffen, die – vermeintlich – von Markt und Politik losgelöst ist und von den zentralen Fragen nach Macht und Herrschaft, nach der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten ablenkt (vgl. Wagner 2000, S. 76 f.).Footnote 35

Gleichwohl stellt ein derartiges (Selbst-)Verständnis Sozialer Arbeit – wie die obigen Ausführungen gezeigt haben dürften – eine unzulässige, weil a-historische und a-gesellschaftliche Verallgemeinerung dar. Warum diese personale Beziehungsfigur, diese individualisierende, das Moment der persönlichen Beziehung betonende Bearbeitung von sozialen Konflikt- und Mängellagen, wie wir sie am Beispiel der COS und Mary Richmonds exemplarisch kennengelernt haben, bis auf den heutigen Tag so sehr das Feld der Sozialen Arbeit dominiert, ist eine Frage, mit der wir uns abschließend noch kurz auseinander setzen müssen.

Zum einen dürfte die Transformation einer Problematisierung von „Gesellschaft“, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, von gesellschaftlichen Diskursen, Strukturen und Praktiken (wie sie eine kritische Soziale Arbeit einfordert) in eine Problematisierung von individuellem Verhalten, von Einstellungsmerkmalen und Persönlichkeitsstrukturen u. a. darin begründet sein, dass der Sozialen Arbeit der Zugriff auf Strukturen, auf gesellschaftliche Bedingungen, etc. – vordergründig – nicht in der gleichen Weise unmittelbar gegeben ist, wie der Zugriff auf die kleinräumigen Lebensbedingungen und den sozialen Nahraum, auf den „Körper“ und die „Seele“ der KlientenInnen.Footnote 36 Zum anderen dürfte die besondere Affinität zu „persönlichen Beziehungen“ und „Vertrauensverhältnissen“ als Handlungsgrundlage Sozialer Arbeit mit der fortgeschrittenen Therapeutisierung sozialer Verhältnisse in unserer Gesellschaft zu tun haben. Auf der Klaviatur persönlicher Befindlichkeiten, emotionaler Zustände, psychischer Probleme zu spielen, dürfte in einem therapeutisierten (und dadurch entpolitisierten) gesellschaftlichen Klima die näher liegende und „befriedigendere“ Option sein im Vergleich zum Versuch, die sozialen Verhältnisse und Strukturen „zum Tanzen“ zu bringen.

Und schließlich gibt es noch einen spezifischen macht- und herrschaftspolitischen Hintergrund für die besondere Anziehungskraft, die von der persönlichen Beziehung als Basis der Sozialen Arbeit ausgeht. Je näher die Erklärungs- und Interventionsmuster an die Ebene individueller Ursachen und Risikofaktoren (biologische Dispositionen, Persönlichkeitsmerkmale, individuelles Verhalten, Einstellungen, etc.) heranrücken, desto besser ist es um die gesellschaftliche und politische Akzeptanz der Sozialen Arbeit bestellt. Das gilt auch für Erklärungs- und Interventionsformen, die den unmittelbaren sozialen Kontext mit einbeziehen, d. h. die statt der Problematisierung von individuellem Verhalten, von Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen nunmehr die Familie mit ihren Beziehungsdynamiken, die Nachbarschaft mit ihrem mangelnden Kontrollverständnis, die Peer-Gruppe mit ihren zweifelhaften Einflüssen zum bevorzugten Gegenstand der Analyse und der sozialpädagogischen/sozialarbeiterischen Eingriffe machen. Mit dieser Verlagerung vom Individuum zur Familie und zum unmittelbaren sozialen Kontext, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Sozialen Arbeit als besonderer (sozialökologisch bzw. systemisch ausgewiesener) Fortschritt dargestellt wurdeFootnote 37 – mit dieser Verschiebung vom Individuum zum sozialen Nahfeld ist allerdings keine substanziell veränderte Positionierung der Sozialen Arbeit verbunden. Statt einer beziehungsbasierten Individualisierung wird nunmehr eine beziehungsbasierte Familialisierung vollzogen, statt einer individualisierten Defizitzuschreibung und der Moralisierung eines Einzelnen kommt es nunmehr zu einer umfassenderen Defizitzuschreibung und Moralisierung des (Familien-, Nachbarschafts-, Peergruppen-)Systems als problematisierter, nunmehr „ganzheitlich“ gesehener sozialer Einheit.

Je näher demgegenüber Erklärungs- und Interventionsmuster in der Sozialen Arbeit auf eine Ebene rücken, die bevorzugt strukturelle Bedingungen zum Gegenstand haben, die den gesellschaftlichen Status Quo und damit die etablierten politischen und ökonomischen Interessen herausfordern, die die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die eingewurzelten Ungleichheits- und Ausschlussbedingungen, die hegemonialen Diskurse, die vorgegebenen institutionellen Strukturen des Hilfesystems, etc. in Frage stellen, desto geringer ist die gesellschaftliche Akzeptanz einer solchermaßen verstandenen Sozialen Arbeit. Und umso wahrscheinlicher werden auch bisweilen herablassende, bisweilen diskreditierende und feindselige Abwehrreaktionen.

Die besondere Suggestivkraft, die von Beginn an für die Soziale Arbeit von einer individuumszentrierten und personenbezogenen Beziehungsarbeit ausging, hat in Verbindung mit den angesprochenen Macht-und Herrschaftsaspekten auch mit einem nahe liegenden und dennoch gravierenden „Denkfehler“ zu tun. In einer gängigen, in der Tradition der klassisch liberalen politischen Theorie stehenden Lesart (siehe oben) stellt sich das Individuum als das „verkörpert“ Dinglich-Greifbare, als das Konkrete dar, während Gesellschaft (bzw. gesellschaftliche Zusammenhänge) lediglich als das gedanklich hergestellte Abstrakte (bisweilen gar als das Nichtexistente) vorgestellt wird. Damit werden aber die „realen“ Verhältnisse von „konkret“ und „abstrakt“ auf den Kopf gestellt (vgl. hierzu und zum Folgenden Marquard 2000). Nehmen wir das Beispiel eines hilfebedürftigen Menschen, genauer eines Wohnungslosen, der seit Jahren auf der Straße lebt. Typische individualisierende Erklärungsmuster und (Defizit-)Zuschreibungen bei der Frage nach den Ursachen der Wohnungslosigkeit lauten dabei: Der betroffene Wohnungslose stammt aus „zerrütteten Familienverhältnissen“, er legt ein „evasives“ (problemausweichendes) Verhalten an den Tag, er leidet unter mangelnder Frustrationstoleranz und Selbstkontrolle, er ist „wohnunfähig“ und „unstet“, etc. Wie verhält es sich aber, wenn man sich bezogen auf die konkrete Lebenssituation des Wohnungslosen z. B. die Frage stellte: Was trägt das Hilfesystem für Wohnungslose mit ihren Regelungen, Hilfe nur auf eine bestimmte Zahl von Tagen zu begrenzen, zur Herstellung ebenjener problematisierten „Unstetigkeit“ bei, indem sie den „konkreten“ Wohnungslosen nötigt, zur Sicherung des Lebensunterhalts von Ort zu Ort zu ziehen. Oder: Was tragen die „abstrakten“ sozialen Selektionsmechanismen eines primär privat organisierten und auf Profitmaximierung ausgerichteten Wohnungsmarktes dazu bei, über die individuellen ökonomischen und sozialen Interessenskalküle der Vermieter solchen „konkreten“ Menschen den Zugang zu Wohnraum zu verschließen, die sich durch spezifische soziale Merkmale und biographische Hintergründe (sozial unangepasstes Verhalten, diskontinuierliche Erwerbsarbeit, etc.) auszeichnen. Oder: Was trägt ein nach „abstrakten“ Marktprinzipien funktionierender Wohnungsmarkt dazu bei, dass „konkreter“ bezahlbarer Wohnraum für „konkrete“ unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht.

Diese vermeintlich abstrakten gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die das Individuum, hier der Wohnungslose, eingebunden ist, und die „nicht unmittelbar als Ergebnisse der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen erkennbar sind“ (Kosik 1970, S. 9), sind das eigentlich Konkrete, und umgekehrt, das Individuum als das vermeintlich konkrete, der einzelne Wohnungslose, bei dem von diesen gesellschaftlichen Zusammenhängen abgesehen, sprich „abstrahiert“ wird, ist das eigentlich Abstrakte, oder in der treffenden Formulierung von Karel Kosik, das „Pseudokonkrete“. An dieser grundlegenden Differenz macht sich letztlich auch die grundlegende Differenz zwischen einer traditionellen und einer kritischen Sozialen Arbeit fest. Sie ist vom Grundmuster her – wie oben gezeigt werden sollte – bereits bei den Entwürfen zur Sozialen Arbeit von Mary E. Richmond auf der einen und Jane Addams auf der anderen Seite angelegt, wenn auch noch nicht voll entfaltet, wie die weiteren Entwicklungen der Sozialen Arbeit noch zeigen sollten.