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Pop Tödliches Comeback

Marvin Gaye war Gottes Werk und Vaters Opfer

Am 1. April 1984 wurde der König des Soul von seinem eigenen Vater erschossen. Marvin Senior war ein christlich eifernder Säufer und sein Sohn das Opfer im klassischsten aller Konflikte.

Kein Comeback war so tödlich wie das von Marvin Gaye mit „Sexual Healing“. Denn Comeback hieß in seinem Fall tatsächlich: Rückkehr, Tod und Ende. Rückkehr nach Amerika, aus dem er drei Jahre zuvor geflohen war – vor seinen kaputten Ehen, den Steuerschulden und den Unterhaltszahlungen, denen er nicht nachkam, weil er sein Geld zum Großteil für Kokain ausgab.

Rückkehr in ein Land, wo ihn der Erfolg, die eigene Geldgier und die seiner Promoter wieder monatelang auf die Bühnen spülen würde – obwohl er es hasste, aufzutreten, weil ihn auf der Bühne all seine Komplexe einholten. Die Angst eines introvertierten Studiokünstlers, der sich für einen miesen Tänzer hielt, vor dem Tanzenmüssen (und der davon fantasierte, nur noch auf einer Couch liegend aufzutreten).

Die Angst eines Mannes, der zugleich verklemmt und sexsüchtig war, der Rolle des schwarzen „Lover Man“, des Sexsymbols gerecht werden zu müssen. Die Angst eines Mannes, der ein E an einen Familiennamen Gay ranhängte – aus Furcht davor, für schwul oder – wie der Vater – für sexuell seltsam veranlagt gehalten zu werden.

Zwei Schüsse zum 45. Geburtstag

Vor allem aber: Rückkehr zu einem Vater, der ihn und seine Geschwister als Kind über Jahre verprügelt und psychisch gequält hatte. Den er hasste und dessen Liebe er doch ein Leben lang vergeblich herbeigesehnt hatte. Der nie für den Familienunterhalt gesorgt hatte, sich gern in Frauenkleider hüllte, seine Frau betrog und am Ende eine Flasche Wodka pro Tag trank, all dies mit der Selbstgewissheit des gescheiterten Predigers einer fundamentalistischen Sekte, die Pfingstkirchentum mit Elementen des orthodoxen Judentums mixte.

Der seinem Sohn auf den Weg zu einem der größten Sänger des Soul und zum Erfinder des R&B nur Steine in den Weg legte, sich vom sündigen Popstarsohn aber gern aushalten ließ. Und diesen am Ende eines jahrzehntelangen, unendlich verkorksten Vater-Sohn-Konflikts mit zwei Schüssen am 1. April 1984 töten würde, am Vorabend des 45. Geburtstags.

Von seinem blutigen Ende konnte Marvin Gaye natürlich nichts wissen, als er im November 1982 zusammen mit seinem Bruder aus seinem belgischen Exil in Ostende, wo er sein Leben und seine Karriere einigermaßen in den Griff bekommen hatte, nach Hause zurückkehrte. Seine belgischen Freunde und sein Anwalt rieten ihm davon ab, weil sie fürchteten, dass der psychisch fragile Sänger durch eine zu lange Tour mit zu vielen Drogen wieder in eine Spirale der Selbstzerstörung gezogen würde.

Im Weinberg der Paranoia

Aber der große Erfolg des Albums „Midnight Love“, der Plattenvertrag mit einem neuen Label und wohl auch der Wunsch es allen – von seinem alten Paten Berry Gordy bei Motown bis hin zum neuen Konkurrenten Michael Jackson – noch einmal zeigen zu wollen, diktierten seine Rückkehr nach Los Angeles. Und noch stärker wogen private Gründe: Seine Mutter musste sich einer Nieren-Operation unterziehen. Der Vater wiederum war nicht greifbar, weil er monatelang in Washington abhing, um das alte, einst von Marvin Gaye bezahlte Familiendomizil zu verkaufen – und das Geld für sich allein zu behalten.

Alles war also angerichtet für eine weitere Eskalationsstufe im Konflikt zwischen Marvin Senior und Marvin Junior. Fehlte nur noch eine Waffe. Für die sorgte zuverlässig Marvin Gayes kokaingenährte Paranoia.

Mit Paranoia hatte sich Marvin Gaye schon bestens ausgekannt, bevor er seine ausgewachsene Abhängigkeit von Kokain entwickelte. „I Heard It Through The Grapevine“ von 1967/68 – der größte Hit, den er und Motown je einfahren sollten – ist nichts anderes als zu großartigem Soul verwandelte, künstlerisch kontrollierte Paranoia. Ein Song, der am Rande des Wahnsinns um Eifersucht, betrogene Liebe und Verlustangst kreist.

Nicht jeder Vater ist seines Sohnes Hüter

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Völlig außer Kontrolle gerät Marvin Gayes Paranoia und sein zunehmend apokalyptisches Selbst- und Weltbild, als er sich auf seiner monatelangen „Sexual Healing“-Tour mit immer größeren Kokainmengen am Laufen hielt.

Der Mann, der wie kein anderer singen konnte, fängt an, Stimmen zu hören. Er nimmt die Gespräche mit seinen Leibwächtern auf, damit er sich erinnern und überprüfen kann, was er und sie gesagt haben. Er fühlt sich von Attentätern und Giftmördern so bedroht, dass er schusssichere Westen trägt und sich von schwerbewaffneten Bodyguards wie ein Präsident bewachen lässt. Ein Leibwächter besorgt ihm zuletzt auch jene Pistole, die er seinem Vater Ende 1983 übergibt – damit dieser ihn und sich eines Tages beschützen könne.

Schon bald nach dem Ende der Tour rettet sich Marvin Gaye, ausgezehrt und völlig am Ende, zur Mutter. Damit aber auch zum Vater, mit dem er seit 1957, als er vor ihm zuerst zum Militär und dann in die Musik geflüchtet war, nicht mehr unter einem Dach gewohnt hat. Und der mehrfach ankündigt, dass er den Sohn töten werde, sollte der eines Tages die Hand gegen ihn erheben.

War es Selbst-Totschlag?

In der Mitte das Schlafzimmer der Mutter, in dem sie mit dem Sohn in der Bibel liest, damit der – zunehmend gewalttätig, auch gegenüber Frauen – wieder auf den rechten Weg kommt. Daneben die Schlafzimmer von Marvin Gaye und seines Vaters. Eine Kokain- und Pornohöhle das eine, ein Wodkaloch das andere.

Der tödliche Streit zwischen Vater und Sohn beginnt als Streit mit und um die Mutter. Gay Senior brüllt sie an, als er irgendwelche Steuerunterlagen nicht finden kann. Der Sohn brüllt zurück, um die Mutter zu verteidigen. Der Vater brüllt zurück. Der Sohn wirft ihn aus dem Zimmer und prügelt auf ihn ein. Der Vater geht in sein Zimmer und kehrt mit der Pistole zurück, die er vier Monate zuvor vom Sohn bekommen hat. Er schießt zweimal auf Marvin Gaye, bereits der erste Schuss trifft das Herz.

War es Mord, was die Aussagen der Mutter nahelegen? Oder Totschlag, wie das Gericht letztlich befand? Oder der Selbstmord eines lebensmüde gewordenen Superstars, der den Vater zum Mord provoziert? Bis heute ist die Familie darüber zerrissen: Die Geschwister von Marvin Gaye neigen zur Mord-als-Selbstmord-These. Vielleicht, weil sein Tod dadurch weniger sinnlos und die Schuld des Vaters weniger groß erscheint.

Nur die Liebe quält

Was bleibt, ist Marvin Gayes großartige Musik, die von all seinen Konflikten und seiner Zerrissenheit profitierte: Was sein Leben zunehmend tragisch, qualvoll und letztlich kaputt machte, verleiht seiner Musik die Dringlichkeit ungelöster Konflikte, bei denen wie auf „What‘s Going On“ das Persönliche politisch und das Politische religiös wird.

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Hört man sich vor dem Hintergrund seines Todes nochmal „What’s Going On“ an, weiß man am Ende gar nicht mehr, wer da mit Father angesprochen wird – Gottvater oder Marvin Gayes leiblicher Vater. Oder beide? Man lernt allerdings, dass am Ende immer nur eines zählt: Die Liebe.

“Father, father/We don't need to escalate/You see, war is not the answer/For only love can conquer hate/You know we've got to find a way/To bring some lovin’ here today.”

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