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"Ich fühle mich mitschuldig"

Margret Nissen ist die Tochter von Albert Speer. Ein Gespräch über die Kindheit auf dem Obersalzberg, die Fragen, die sie ihrem Vater nie gestellt hat - und sein Lächeln

Albert Speer. Es gibt so viele Albert Speers. Es gibt den Speer aus dem "Untergang", den schneidigen, der Hitler widerspricht. Es gibt den Speer aus der berühmten Biographie von Gitta Sereny, den klugen, nicht faßbaren, mit dem die Autorin zu Abend ißt. Es gibt den Architekten und Rüstungsminister und Kriegsverbrecher aus den Geschichtsbüchern. Es gibt den Albert Speer aus den Tagebüchern von Spandau, und jetzt wird es den Speer des Breloer-Films geben, der am Montag startet.

Margret Nissen hat ihren eigenen. Es ist ihr Vater.

Margret Nissen war Kind auf dem Obersalzberg und sieben Jahre alt, als ihr Vater verurteilt wurde. Sie war 28, als er freikam und 43, als er starb. Jetzt ist sie 66 und hat ein Buch über Ihren Vater geschrieben. Wenn sie über ihn redet, hört man ihr manchmal an, daß es noch gar nicht so lange her ist, daß sie gelernt hat, über ihn zu sprechen. Dann testet sie die richtigen Worte an, bricht ab, versucht es an einer anderen Stelle noch mal: Sie steht vor einem Haus mit zu vielen gut beleuchteten, sorgfältig beschilderten Eingängen - keinen davon hat sie je betreten, jahrzehntelang hat es genügt zu wissen, daß sie vorhanden sind. Und es waren so viele, daß sich Margret Nissen stets einreden konnte, es brauchte nicht noch einen. Ihren eigenen.

DIE WELT: Schauen Sie sich im Fernsehen Dokumentationen über das Dritte Reich an?

Margret Nissen: Nein. Da leide ich doch nur.

DIE WELT: Was passiert dann?

Nissen: Mir wird heiß, richtig heiß. Immer noch. Dasselbe, wenn jemand in meiner Gegenwart über Nationalsozialismus redet. Erst kürzlich waren wir zum Abendessen eingeladen, da kam das Thema auf. Ich werde dann sehr einsilbig und warte nur darauf, daß es herauskommt: Wann wissen die Leute, daß ich die Tochter Speer bin?

DIE WELT: Wann kommt es heraus - das ist die Frage, die sich sonst nur Verbrecher stellen.

Nissen: Ja, das stimmt. Ich fühle mich mitschuldig, das trage ich immer mit mir herum. Ich bin Teil dieser Familie, Teil dieses Vaters. Obwohl ich längst nicht mehr Speer heiße. Und ja, ich war froh, als ich meinen Mädchennamen los war.

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DIE WELT: In dem Film "Speer und Er" sprechen Ihre Schwester Hilde Schramm und Ihr Bruder Albert, der Architekt, über Ihren Vater. Warum wollten Sie nicht?

Nissen: Ich war noch nicht so weit damals. Und außerdem: Ein Film über unsere Familie? Wir sind schließlich nicht die Familie Mann. Aber diese Interviews mit meinen Geschwistern werde ich mir wahrscheinlich ansehen. Wir haben auch untereinander nie über die Rolle meines Vaters im Dritten Reich gesprochen. Jetzt interessiert es mich zu sehen, was sie denken. Und zwischen den Interviews werde ich wohl rausgehen.

DIE WELT: Haben Sie Ihren Vater je verleugnet?

Nissen: Ich wußte nie, was ich sagen soll, wenn jemand gefragt hat, ob ich seine Tochter bin. Dann hab' ich gestottert, aber ich konnte ja auch nicht sagen, daß ich es nicht bin. Aber in Heidelberg, wo wir nach dem Krieg gewohnt haben, da hat mein Vater keinen schlechten Namen gehabt. Die Speers, das war vor allem eine alteingesessene Familie. Und dann waren das die fünfziger Jahre, da hat sowieso niemand über die Nazizeit gesprochen. Für mich war das natürlich ideal. Das bedeutete: Ich mußte mich auch nicht damit beschäftigen.

DIE WELT: Wann hatten Sie zum ersten Mal Schuldgefühle wegen Ihres Vaters?

Nissen: Ich glaube, als ich aufs Gymnasium kam. Und von da an blieben sie dann auch. Ich erinnere mich noch dunkel, wie ich der Klasse vorgestellt wurde: "Das ist Margret Speer, die Tochter von Albert Speer. Das ist der, der im Gefängnis sitzt. Aber seid nett zu ihr." Damals hatte meine Mutter große Probleme gehabt, uns in den Schulen unterzubringen. Die Kinder von Albert Speer, die wollte ja niemand. Und eines Tages kam Adda von Haeften in meine Klasse. Das war die Tochter eines Widerstandskämpfers des 20. Juli. Er wurde hingerichtet.

DIE WELT: Wie sind Sie mit ihr umgegangen?

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Nissen: Sie war ein sehr nettes Mädchen. Aber ich habe immer versucht, mich von ihr fernzuhalten. Ich bin ohnehin ein scheuer Mensch und Adda gegenüber... Nein, ich habe mich geschämt.

DIE WELT: An was erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Kindheit auf dem Obersalzberg denken?

Nissen: Es war paradiesisch. Das muß man so sagen, obwohl ich weiß, daß es furchtbar klingt, weil drumherum die Welt kaputtgegangen ist. Wir waren sechs Kinder und wuchsen ganz frei auf

DIE WELT: Erinnern Sie sich an Hitler?

Nissen: Nein. Ich weiß noch dunkel, daß wir an seinen Geburtstagen immer auf den Berghof mußten und fotografiert wurden. Dafür mußten wir ewig stillstehen, und das mochte ich gar nicht. Aber später, im Krieg, hatte Hitler auch andere Sorgen, als Kaffee zu trinken. Mich hat das nie interessiert, ich wollte nur spielen. Ich weiß noch, daß mein Vater irgendwann gar nicht mehr nach Hause gekommen ist. Auch an Weihnachten nicht. Aber davor, wenn er heimkam, war es toll. Manchmal haben wir Ausflüge mit seinem Auto gemacht, das Verdeck offen. Schön.

Dann denkt sie eine Weile nach. "Wissen Sie, er w a  r ja lieb", sagt sie. "Ich m o c h t e ihn ja auch." Sie weiß nicht genau, wie sie die Sätze betonen soll, damit die Journalistin versteht, was gemeint ist. Und vielleicht auch, damit sie es selbst versteht. Versteht, wie man den eigenen Vater betonen muß, damit ein Bild entsteht, das zählt. Nur, daß es für Margret Nissen dieses eine Bild nie geben wird. Leben mit diesem Vater kann sie nur, indem sie es spaltet: ein Vater, ein Kriegsverbrecher. Als sie im vergangenen Jahr auf den Obersalzberg zurückkehrte, zu dem Haus ihrer Kindheit ging, in dem heute eine Familie aus Südafrika wohnt, da hat sie auch eine Dokumentation über das Dritte Reich angeschaut. Das Foto ihres Vaters hing neben denen der anderen Kriegsverbrecher. Es war das erste Mal, daß sie ihn so gesehen hat. Geschockt sei sie gewesen, sagt Margret Nissen. Sie hätte, sagt sie und weiß wie seltsam das klingen muß, ihn da nicht hingetan.

DIE WELT: Als Ihr Vater im Gefängnis saß, haben Sie ihm einmal einen Brief geschrieben, in dem stand: "Für mich bist du immer der ideale Vater gewesen."

Nissen: Das ist natürlich Pubertäts-Romantik, aber das habe ich damals so geglaubt. Es war auch nicht so schwer, er hat ja nie versucht, uns vom Gefängnis aus unter Druck zu setzen. Er hat versucht, uns lustige Briefe zu schreiben. Von eingeschlafenen Wärtern und Blumen, die er heimlich gesät hat. Er wollte lustig sein, um das alles nicht zu schlimm zu machen.

DIE WELT: Wie hat Ihr Vater Sie gesehen, wissen Sie das?

Nissen: Ich hatte für ihn die Rolle der Patenten. Manchmal hat mich das geärgert, aber es stimmte ja auch. Ich bin nicht intellektuell, ich grüble nicht. Ich nehme die Dinge, wie sie kommen. Später war ich auch dafür zuständig, daß mein Vater jede Woche zwei Fotos geschickt bekam. Ich war die Fotografin der Familie.

Fotografin ist Margret Nissen von Beruf. In ihrem Buch ist, fast am Ende, eine ihrer Fotoserien abgedruckt - Gipsabgüsse in den Kellern des Pergamonmuseums und Kohlehalden. Wer durch ihre Berliner Wohnung geht, eine große gemütliche Altbauwohnung mit Teppichen, die sie aus dem Nahen Osten mitgebracht hat, der sieht die Fotos an der Wand. Von den vier Kindern, den Enkelkindern. Nur neue Fotos, keine alten. Sie lebe nicht in der Vergangenheit, sagt sie.

DIE WELT: Wie war das, als Ihr Vater starb?

Nissen: Es nahm uns schon etwas weg. Aber es war auch - ich weiß nicht. Eine Art von Erleichterung. Er konnte nicht mehr erscheinen. Nachdem er aus dem Gefängnis kam, war er zu viel in der Öffentlichkeit. Ich fand das immer despektierlich. Er hat zu viele Interviews gegeben und doch immer dasselbe gesagt. Sein Tod, das klingt so hart, aber ich finde - das war ganz gut so. Es war ja auch ein schöner Tod, es ging ganz schnell.

Jahrelang hat Margret Nissen die Bücher ihres Vaters mit dem Rücken zur Wand gestellt, damit niemand Fragen stellen konnte. Seit sie ihr eigenes Buch geschrieben hat, zusammen mit zwei Journalistinnen, ist das anders. Die Bücher des Vaters stehen jetzt richtig herum im Regal.

DIE WELT: 1968 lehnten sich die Kinder gegen ihre Väter auf. Sie waren damals 30 Jahre alt...

Nissen: ... aber ich bin kein rebellischer Typ. Und damals hatte ich schon in Bagdad gelebt, mit meinem Mann, der Archäologe ist. Da sieht man Europa ganz anders. Und 1968 zogen wir in die USA, da war es auch anders. Außerdem: An meinem Vater gab es auch nicht viel zu erforschen, das wurde ja alles schon aufgeschrieben. Als er noch lebte, bin ich nie auf die Idee gekommen, ihm zu sagen: "Das ist furchtbar, was du getan hast." Man hat damals einfach nicht mit den Eltern über ihre Lebensprobleme gesprochen, das kam mir natürlich zu Gute. Heute ist das, Gott sei Dank, anders.

DIE WELT: Haben Sie mit Ihren eigenen Kindern je über Ihren Vater gesprochen?

Nissen: Ja. Aber nicht über seine Rolle im Dritten Reich. Deshalb hab ich auch das Buch geschrieben, meine Kinder haben das sehr unterstützt. Sie haben gesagt, das würde mir gut tun. Und das stimmt ja auch. Obwohl ich mich schon manchmal gefragt habe, was ich da eigentlich getan habe.

DIE WELT: Was würden Sie Ihre Eltern heute fragen?

Nissen: Ich würde gern wissen, wie sich meine Mutter gefühlt hat. In all den Jahren. Sie hat meinen Vater nie verherrlicht und über die 20er Jahre hat sie oft gesprochen, aber nicht mehr über das, was danach kam. Sie war eine distanzierte Frau, aber ihr haben wir zu verdanken, daß wir nicht vollkommen verkorkst sind.

DIE WELT: Und was würden Sie Ihren Vater fragen?

Nissen: Ich glaube, ich würde - also wahrscheinlich würde ich ihn immer noch nicht danach fragen. Er hat schon so viel gesagt. Ich weiß nicht. Heute würde ich ihn - schwierig. Ich denke, heute würde ich ihn eher beschimpfen und ihn fragen, ob er weiß, was er mir angetan hat. So vielleicht.

DIE WELT: Wenn die Eltern gestorben sind, werfen sich die Kinder oft vor, etwas versäumt zu haben. Wie ist das bei Ihnen?

Nissen: Ich hätte meine Mutter gern beschützt, damals, als mein Vater eine Freundin hatte. Sie hat es gewußt, alle haben es gewußt. Und ich hab' nichts gesagt. Wieder nicht. Aber irgendwie, da war er dann doch so eine starke Persönlichkeit - ich weiß nicht. Das war der Bruch mit meinem Vater, das habe ich ihm nicht verziehen.

Dann ist das Gespräch fast zu Ende, eine Frage fehlt noch. Eine schwierige, deshalb stellt man sie zum Schluß, im Flur.

DIE WELT: Was glauben Sie, haben Sie von Ihrem Vater geerbt?

Margret Nissen wird nicht böse, sie denkt nach, ehrlich, ihr fällt nicht wirklich etwas ein. Sie bringt die Gäste zur Tür. Und dann, kurz bevor sie die Tür schließt, sagt sie:

Nissen: Ich hoffe, ich habe sein Lächeln geerbt.

Das Gespräch führte Catrin Barnsteiner


"Sind Sie die Tochter Speer?" von Margret Nissen, Margit Knapp, Sabine Seifert. (DVA, 19.90 Euro)

"Speer und Er": 9., 11. und 12. Mai (20.15 Uhr, ARD)

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